Carla Reemtsmas Kolumne | Die Zukunft des Lokaljournalismus

Porträt von Carla Reemtsma
Mit Carla Reemtsma

Liebe Leser:innen,

seit fast vier Jahren lebe ich nun in Münster. Vorlesungen, Klimastreiks, der Sportverein, in dem ich Kindern Geräteturnen beibringe, meine Freund:innen, Lieblingscafés: Den größten Teil meines Alltags erlebe und verbringe ich – so wie Sie vermutlich auch – in der Stadt. In dieser Woche ist mir jedoch aufgefallen, dass ich in diesen knapp vier Jahren genau eine einzige Ausgabe der Westfälischen Nachrichten gekauft habe. Das war am Samstag nach dem ersten großen Klimastreik im Januar 2019 Münster, als sich noch niemand von uns zu erträumen wagte, dass wir nur kurze Zeit später nicht nur im Lokalteil von Lokalzeitungen, sondern auch auf den Titelseiten deutscher Leitmedien Platz finden würden. An diesem Tag kaufte ich meine erste und einzige WN, um den Beweis für die Relevanz unseres Protestes auch in Papierform in den Händen halten zu können. Leider habe ich mit dieser einen Ausgabe der WN aber vermutlich bereits häufiger eine Lokalzeitung aus unserer Studienstadt gelesen, als die meisten meiner Kommiliton:innen im Laufe ihres gesamten Studiums.

Auch bei anderen Medienformaten mit lokalem Schwerpunkt, vornehmlich dem Radio, ist das Bild dasselbe: Wer, wie die meisten meiner Freund:innen und ich, kein Auto besitzt, lässt sich nicht einmal aus dem Hintergrund mit ein paar Neuigkeiten und Klatsch aus Münster berieseln. Nachdem das Küchenradio schon vor Jahren durch die schier unendlichen Möglichkeiten der Musikstreamingdienste und Podcasts verdrängt wurde, bleibt also kaum noch eine Gelegenheit, das lokales Radio einfach nebenbei zuhören.

Für jede Nische gibt es einen Blog

All diese Tendenzen verstärken eine Entwicklung, die sich schon seit der Jahrtausendwende vollzieht: Mit dem Aufkommen des Internets fiel nicht nur den großen Medienhäusern, sondern auch den lokalen Zeitungen ein Großteil der Anzeigen weg. Die Finanzkrise 2008/09 verstärkte diesen Trend . Doch neben den Finanzierungsproblemen, vor denen inzwischen fast alle Blätter stehen, wirkt sich längst auch die Polarisierung und die allgemeine Vertrauenskrise in Institutionen auf unsere Medien aus. Der Journalismus kann sich den fundamentalen Veränderungen, die durch die Globalisierung und Digitalisierung vorangetrieben werden, nicht entziehen.

Diese Entwicklungen sind aber alles andere als neu. Wir leben längst in einer Zeit, in der es für jede Nische mindestens einen Podcast und einen Blog gibt. Eine Zeit, in der tiefgreifende Berichte nicht nur zur Bundesliga oder zum politischen Berlin, sondern auch zu Skandalen im US-amerikanischen Turnen und den neuesten Management-Strategien mit wenigen Klicks abrufbar sind. Eine Informationsflut, dank der wir in Echtzeit die verheerenden Explosionen in Beirut über unsere Twitter-App verfolgen und im nächsten Moment mit wenigen Klicks spenden können. Wieso, könnte man sich als Lokalmedium nun fragen, sollten sich Menschen eigentlich noch ausgiebig für Ereignisse wie Gemeindesitzungen und Straßenausbaupläne interessieren, wenn so viele Informationen aus aller Welt direkt an ihrem Finger kleben?

Die gute Nachricht: Sie tun es auf wundersame Weise immer noch. Die schlechte: Lokale Medien nutzen das fast nicht mehr aus. Seit Jahren ertönt das Klagelied sinkender Auflagezahlen, die zu Kürzungen in den Redaktionen führen, durch die Inhalte verkümmern und die Anzeigenkund:innen erst recht weg bleiben. Und seit Jahren tun die meisten viel zu wenig, diesen Abwärtstrend zu stoppen. Wer Pressemitteilungen der Stadt und Polizeimeldungen unverändert abdruckt und den überregionalen Teil wie alle anderen Lokalausgaben aus dem großen Verlagshaus kopiert, muss sich nicht fragen, warum es nicht mehr gut läuft. Mit der Übernahme der Münsterschen Zeitung durch die Aschendorff-Verlagsgruppe und dem damit verbundenen Abbau der Lokalredaktion hat auch Münster schon seinen ganz eigenen Vorgeschmack auf diese Zukunft bekommen. Beide Zeitungen erscheinen zwar nun mit eigenem Titel, aber mehr oder weniger wortgleich.

Ohne kritische Medien, keine kritische Öffentlichkeit

Wohin das führen kann, demonstriert das Beispiel T-Online gerade sehr anschaulich: Ströer, das Unternehmen hinter dem Online-Portal, plant in diesen Monaten eine deutschlandweite Offensive zur Neuerfindung des Lokaljournalismus, schreibt Meedia. Ziel ist es dabei, diejenigen Leser:innen abzugreifen, die sich nicht mehr für ein Abonnement der Lokalzeitung begeistern können, auf gelegentliche Nachrichten aus der Heimat aber nicht verzichten wollen.

Dass das nicht die alleinige Zukunft lokaler Berichterstattung sein darf, sollte uns allen klar sein. Die Folgen wären dramatisch: Ohne kritische Medien vor Ort gibt es keine kritische Öffentlichkeit und ohne sie keine demokratische Politik. Dabei könnte es sowohl Aufgabe als auch Alleinstellungsmerkmal lokaler Medien sein, genau zu den Themen vor Ort einordnend, nachfragend und kritisch zu berichten, die keinen Platz in der überregionalen Berichterstattung finden. Auch wenn es paradox erscheinen mag: In einer globalisierten Welt sind es oft die Dinge direkt vor unserer Haustür, die sowohl unseren Alltag als auch unser Engagement und politische Entscheidungen beeinflussen. Selbst bei weltumspannenden Ereignissen wie der Corona-Pandemie ist es nicht zuletzt die Einordnung der lokalen Politik, die die Bildung einer fundierten politischen Meinung erlaubt.

Dies sind keine philosophischen Gedankenspielchen: Ralf Heimann hat in seinem Brief vom 10. Juli berichtet, dass es wissenschaftliche Belege dafür gibt, dass sich das Ausbleiben lokalen Journalismus’ negativ auf die demokratische Partizipation auswirkt. Enthüllt niemand mehr etwa die Skandale ortsansässiger Unternehmen, politisches Missmanagement oder zeigt erfolgreiche lokale Projekte auf, sinkt die Beteiligung der Bürger:innen am demokratischen Prozess schlagartig. Schon Ein-Zeitungs-Kreise sind hierfür nicht förderlich – Kein-Zeitungs-Kreise erst recht nicht.

Doch auch im Sinne der Pressefreiheit ist diese Entwicklung relevant: Während diese nicht nur in autoritären Staaten immer wieder bedroht ist, lebt sie auch bei uns nicht allein von der Festschreibung im Grundgesetz. Erst durch die kritische und aktive Wahrnehmung ihrer Freiheit können Journalist:innen zu einer demokratischen und emanzipatorischen Gesellschaft beitragen.

Neue lokale Formate statt ein Weiter-So

Dass es auch anders geht, zeigen neuartige Formate wie etwa die Lokalredaktion des Recherchekollektivs Correctiv, die meist Themen von nationaler Bedeutung wie Mobilität oder Wohnmarktverhältnisse aufgreift und lokal recherchiert. Damit verbinden sie die großen Entwicklungen dieser Welt mit dem Wunsch der Leser:innen, die Auswirkungen dieser Ereignisse und Trends vor Ort zu begreifen. Auch Merkurist, bei dem Leser:innen selbst Themen vorschlagen können, die dann bei ausreichendem online-bekundeten Interesse von den Journalist:innen recherchiert werden, ist ein Beispiel für einen neuen lokalen Ansatz. Und eben auch RUMS.

Es ist nach langen Jahren also Zeit, jetzt auf die Entwicklungen im Pressebereich zu reagieren. Dabei gibt es, wie so oft, kein Geheimrezept. Fest steht aber, dass ein Weiter-So den Lokaljournalismus ruinieren würde. Zwischen Finanzierungsschwierigkeiten, digitalen Alternativen und großen Konkurrent:innen, die sich häufig gar nicht mehr primär durch Journalismus, sondern etwa durch Verlagsangebote, Reisen und Weinsortimente finanzieren, droht der Lokalteil nun endgültig zu verschwinden. Dabei sind die Erkenntnisse der letzten Jahre vielfältig: Die Menschen möchten noch immer wissen, was bei ihnen vor Ort passiert. Spannender scheint es aber dann zu werden, wenn große Fragen lokal herunter gebrochen werden und dadurch greifbar gemacht werden. Auch mit partizipativen Möglichkeiten für Bürger:innen, sich an der Themenfindung oder dem Rechercheprozess zu beteiligen, können lokale Angebote sich wieder von ihren großen Konkurrent:innen abheben.

Wie auch immer die Zukunft des Lokaljournalismus aussieht – mit dem Weiter-So aus Agenturmeldungen, Polizeiberichten und Hasenzüchtervereinsgeschichten wird es nicht klappen. Wir wissen nun, wie wichtig lokale Berichterstattung für die Demokratie ist. Dass das hochaktuell, journalistisch ansprechend und relevant sein kann, haben ganz unterschiedliche lokale Formate und Neugründungen bereits vorgemacht. Wir können gespannt bleiben.

Ich wünsche Ihnen einen schönen Sonntag.

Ihre Carla Reemtsma

Porträt von Carla Reemtsma

Carla Reemtsma

Im Januar 2019 hat Carla Reemtsma den ersten Klimastreik in Münster organisiert. Es war eine kleine Kundgebung im Nieselregeln vor dem historischen Rathaus am Prinzipalmarkt. Wenige Wochen später sprach das ganze Land über die Klima-Proteste der „Fridays For Future“-Bewegung. Der Rat der Stadt Münster beschloss das Ziel Klimaneutralität 2030. Inzwischen ist Carla Reemtsma eine der bekanntesten deutschen Klimaaktivistinnen. Geboren wurde sie in Berlin.

Die Kolumne

Immer sonntags schicken wir Ihnen eine Kolumne. Das sind Texte, in denen unsere acht Kolumnistinnen und Kolumnisten Themen analysieren, bewerten und kommentieren. Die Texte geben ihre eigene Meinung wieder, nicht die der Redaktion. Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Organisationen machen wir transparent. Wenn Sie zu den Themen der Kolumnen andere Meinungen haben, schreiben Sie uns gern. Wenn Sie möchten, veröffentlichen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir ebenfalls im RUMS-Brief.

Ihnen gefällt dieser Beitrag?

Wir haben Ihnen diesen Artikel kostenlos freigeschaltet. Doch das ist nur eine Ausnahme. Denn RUMS ist normalerweise kostenpflichtig (warum, lesen Sie hier).

Mit einem Abo bekommen Sie:

  • 2x pro Woche unsere Briefe per E-Mail, dazu sonntags eine Kolumne von wechselnden Autor:innen
  • vollen Zugriff auf alle Beiträge, Reportagen und Briefe auf der Website
  • Zeit, sich alles in Ruhe anzuschauen: Die ersten 6 Monate zahlen Sie nur einen Euro.

Wir freuen uns sehr, wenn wir Sie ab heute in der RUMS-Community begrüßen dürfen!

Bitte melden Sie sich an, um zu kommentieren.
Anmelden oder registrieren