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Carla Reemtsmas Kolumne | Abwarten ist unbequemer
Liebe Leser:innen,
die Bilder, die in diesen Tagen die Titelseiten der Zeitungen und die Nachrichtensendungen bestimmen, sind apokalyptisch. Wohin man schaut – die Welt brennt. Die Wälder Kaliforniens, das Geflüchtetenlager Moria auf Lesbos, der Regenwald im Amazonas. Längst sind es nicht mehr nur die Auslandskorrespondent:innen vor Ort, die diesen Themen ihre Aufmerksamkeit widmen: Bürger:innen diskutieren und protestieren, und auch die Politik scheint plötzlich handeln zu wollen. Von allen Ecken des Erdballs, auf Twitter und im Fernsehen sind Solidaritätsbekundungen zu hören. Man wolle sich des Themas annehmen, Verantwortung übernehmen, Lösungen finden. Der Zeitpunkt scheint zu passen, es wirkt menschlich, pragmatisch – richtige Anpacker:innen eben.
Dabei kommen die Hilfe und die Suche nach Lösungen Jahre oder sogar Jahrzehnte zu spät. Der aktuell wieder überall zu beobachtende Aktionismus als Antwort auf Katastrophen den Namen Politik kaum verdient. Was wir gerade erleben, sind allesamt Katastrophen mit Ansage: Seit Jahrzehnten klären Wissenschaftler:innen über die Ursachen und Folgen der Klimakrise und über mögliche Bekämpfungsmaßnahmen auf. Und nicht nur die Klimakrise kommt mit Ansage. Die Zustände in Moria waren schon vor dem Brand für alle offen sichtbar menschenunwürdig – jetzt sind sie lebensgefährlich.
Betroffene werden zum Spielball
Dieser Reflex, zu warten, bis das Aushalten unmöglich wird, und zu hoffen, dass der Katastrophenfall nicht eintritt, ist so falsch wie gefährlich. Gefährlich ist er – offensichtlich –, weil das Eintreten von vermeidbaren oder zumindest abzumildernden Katastrophen nicht nur in Kauf genommen, sondern einkalkuliert wird.
Die Beweggründe dahinter sind erstmal nebensächlich; das bewusste Riskieren vermeidbarer Katastrophen ist im Grundsatz schon falsch und widerspricht dem Kerngedanken demokratischer Politik. Denn nur selten kommen politische Katastrophen so plötzlich wie die Reaktorkatastrophe in Fukushima. In den meisten Fällen kommen sie schleichend, ihre Folgen treffen einige früher und heftiger als andere. Die Betroffenen werden zum Spielball übergeordneter politischer Interessen.
Die Klimakrise und der Brand in Moria entsprechen – wie viele andere sogenannte „Katastrophen“ – insofern nicht der eigentlichen Vorstellung von Katastrophen als unvorhersehbare Ereignisse, auf die man nur reagieren kann, auf die man sich aber nicht präventiv vorbereiten könnte, um sie zu verhindern. Wenn Politiker:innen allerdings die immer weiter voranschreitenden Krisen so lange aushalten, bis apokalyptische Fotos den Handlungsdruck maximal gesteigert haben, dann festigen sie damit genau diesen Eindruck. Die sich anbahnenden Probleme werden durch die Ignoranz der Mächtigen in den Hintergrund gerückt, bis sie in einem tragischen Katastrophenereignis gipfeln und sich Politiker:innen durch anpackend-beherzt wirkendes Handeln als empathische Macher:innen, die Verantwortung übernehmen, profilieren können.
Die Politik muss mehr als nur reagieren
Die Perfidität dieser Art von Katastrophenpolitik liegt in genau diesem scheinbaren Widerspruch, den wir auch in der Corona-Pandemie erleben konnten: Derjenige, der bis zur Katastrophe abwartet und dann aktionistisch Politik macht, kommt besser weg als derjenige, der früh auf sich abzeichnende Krisen reagiert, Katastrophen abwendet und gestaltende Politik macht.
Die dahinterstehende Frage darüber, wie wir Politik machen wollen, wird manchmal als Entscheidung zwischen „change by design or change by desaster“ bezeichnet. Dabei ist klar: Das sollte eigentlich keine „oder“-Frage, „change by desaster“ sollte keine Option sein. Die Aufgabe von Politik ist mehr als nur akutes Reagieren auf Krisen, sie sollte Gesellschaft gestalten, und das nicht erst, wenn die Zustände untragbar sind. Es ist ja nicht so, dass nur aktionistische Politik gemacht wird. Aber gerade in den großen, viel debattierten Fragen der Klimapolitik und der Migrationspolitik ist ein beträchtlicher Teil der politischen Maßnahmen entweder reaktive Katastrophenpolitik oder zementiert den Status quo fest.
Dabei hat unsere Gesellschaft mehr verdient: eine Politik, die die Umbrüche mit den und für die Menschen gestaltet, „change by design“ eben. Transformative Politik mag vielleicht weniger Beifall und Leitartikel bringen – sie kommt aber ihren demokratischen Aufgaben nach, die Gesellschaft für die Bürger:innen zum Besseren zu gestalten, Freiheiten und Menschenrechte zu schützen und Gefahren und Ungerechtigkeiten anzugehen, anstatt sie abzuwarten.
Politik braucht den Einsatz von Bürger:innen
Das Wissen dazu ist in den allermeisten Fällen da. Gefährliche Kreuzungen sind auch vor schweren Unfällen bekannt, die zerstörerischen Folgen der Klimakrise schon vor massenhaften Naturkatastrophen, die Gefahren der Flucht übers Mittelmeer auch ohne ertrunkene Kinder. Und nicht nur das Wissen ist da, vielfach machen Bürger:innen auch auf die sich anbahnenden Krisen und ihre oft schon weit vor der eigentlichen Katastrophe eintretenden Probleme aufmerksam.
Die Umbrüche und Krisen, die die Megatrends des 21. Jahrhunderts – Globalisierung, Digitalisierung, Individualisierung – mit sich bringen werden, wird auch eine noch so ambitionierte Politik nicht verhindern können. Aber anstatt so lange am bekannten Status quo festzuhalten, bis Handeln alternativlos scheint und die Handelnden als Macher:innen erscheinen lässt, könnte eine Politik, die sich der Probleme frühzeitig annimmt, all diese Veränderungen im Sinne der Menschen gestalten.
Erfahrungsgemäß reicht es dabei nicht, alle paar Jahre sein Kreuz bei einer der Wahlen bei den Kandidat:innen zu setzen, die sich Wandel auf die Fahne oder besser Wahlplakate schreiben. Im Rückblick auf die vergangenen Jahre zeigt sich, dass eine menschenfreundlichere, zukunftsgestaltende Politik den unermüdlichen Einsatz der Bürger:innen braucht. Sei es in der Schüler:innenvertretung, im Radverein oder auf den Straßen – ohne den Druck, ohne das ständige Aufmerksammachen, ist das Ausharren im Status quo für die Entscheidungsträger:innen oftmals zu bequem. Dabei ist klar: Abwarten ist auf Dauer viel unbequemer.
Ich wünsche Ihnen noch eine schöne Woche.
Viele Grüße
Ihre Carla Reemtsma
Carla Reemtsma
Im Januar 2019 hat Carla Reemtsma den ersten Klimastreik in Münster organisiert. Es war eine kleine Kundgebung im Nieselregeln vor dem historischen Rathaus am Prinzipalmarkt. Wenige Wochen später sprach das ganze Land über die Klima-Proteste der „Fridays For Future“-Bewegung. Der Rat der Stadt Münster beschloss das Ziel Klimaneutralität 2030. Inzwischen ist Carla Reemtsma eine der bekanntesten deutschen Klimaaktivistinnen. Geboren wurde sie in Berlin.
Die Kolumne
Immer sonntags schicken wir Ihnen eine Kolumne. Das sind Texte, in denen unsere acht Kolumnistinnen und Kolumnisten Themen analysieren, bewerten und kommentieren. Die Texte geben ihre eigene Meinung wieder, nicht die der Redaktion. Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Organisationen machen wir transparent. Wenn Sie zu den Themen der Kolumnen andere Meinungen haben, schreiben Sie uns gern. Wenn Sie möchten, veröffentlichen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir ebenfalls im RUMS-Brief.
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