Die Kolumne von Juliane Ritter | Die kollektive Erschöpfung

Porträt von Juliane Ritter
Mit Juliane Ritter (Name geändert)

Guten Tag,

ich bin müde. Müde, weil es immer mehr zunimmt. Die Ohnmacht, die sich in jedem meiner Dienste breitmacht. Die Tage, an denen ich begrüßt werde mit dem Satz: „Gott sei Dank bist du endlich hier, es ist schon wieder zum Heulen.“ Die Tage, an denen ich mich fünfteilen müsste und Pausen oder der pünktliche Feierabend schon bei Ankunft abhake. Es gibt andere Tage, da ist es nicht so sehr am Arbeitsaufwand spürbar. Aber in der Luft schwingt sie immer mit: die kollektive Erschöpfung.

Immer wieder geraten meine Kolleg:innen und ich aneinander, Ärzte und Pflegende haben Auseinandersetzungen, die ungewohnt emotional verlaufen. Unsere privaten Netzwerke laufen heiß mit den Anfragen, ob wir einspringen könnten, die Gedanken drehen sich immer häufiger um die Arbeit. Wir alle spüren, wie der Druck zunimmt – wenn er überhaupt noch größer werden kann.

Immer wieder stecken meine Kolleg:innen und ich in der Zwickmühle. Immer wieder gehe ich nach Hause und hinterlasse meinem Folgedienst ein Chaos. Dann ist die Frage: Bleibe ich doch noch, bis es sich beruhigt hat? Aber wie lange wird das dauern? Wenn wir länger bleiben, kommen wir immer häufiger an die Grenzen des Erlaubten. So hat ein Kollege zuletzt wieder einmal eine Doppelschicht von über 14 Stunden einlegen müssen. Es kommt immer häufiger vor.

Fehlt nach dem Spätdienst der Nachtdienst, muss jemand den Nachtdienst dranhängen. Dann sind es zusammen über 17 Stunden. Das Arbeitsschutzgesetz sieht eine maximale Dienstzeit von 10 Stunden vor. Im absoluten Notfall darf die Zeit überschritten werden, aber dieser Notfall ist rechtlich ungenau definiert. Und ein Notfall kann sich nicht regelmäßig wiederholen, denn dann ist es kein Notfall mehr, sondern Alltag.

Wir stehen auf dünnem Eis

Wie viele Überstunden und welche Personaluntergrenzen in Altenheimen und Krankenhäusern toleriert werden, das geht oft über die Grenze des Legalen. Und das ist mein Risiko. Wenn ich nach 12 Stunden im Dienst einen Fehler mache, muss ich dafür geradestehen.

Wenn ich meine Patient:innen jedoch unbetreut zurücklasse, weil kein Personal da ist, kommt garantiert jemand zu Schaden. Wofür entscheiden wir uns? Den Weg zu wählen über Beschwerden, Streit mit Vorgesetzten und angefressenen Kolleg:innen, wäre rechtlich sicherer, ist aber anstrengend.

Vor einigen Jahren wurden zwei Altenpflegerinnnen angeklagt, nachdem sie einen Fehler gemacht hatten. Anklage, Verteidigung und auch der Richter gestanden ein, dass die beiden maximaler Überforderung ausgesetzt waren, auf die sie keinen Einfluss hatten. Sie haben allerdings weitergearbeitet, ohne ihre Vorgesetzten über den Zustand zu informieren und sie offiziell vor einer drohenden Gefährdung zu warnen. Beide wurden verurteilt. So etwas kann Gefängnisstrafen und den Verlust des Staatsexamens nach sich ziehen.

Viele von uns bewegen sich dennoch aufs dünne Eis und hoffen, dass alles gut geht. Ob es Unwissenheit oder Gewohnheit ist, weil selbst Vorgesetzte so etwas vorleben und gutheißen, weiß ich nicht. Es ist jedoch kein Ende in Sicht: Jede Woche erreichen unser Team neue Krankmeldungen oder Kündigungen. Wir sind müde.

Notstand wuchs, niemand griff ein

Der Personalmangel, von dem immer alle sprechen, ist keine neue Entwicklung. Es gibt ihn schon seit vielen Jahrzehnten. In Deutschland betreut eine Pflegekraft mit 13 Patient:innen im europäischen Vergleich weit überdurchschnittlich viele Menschen. In den Niederlanden sind es 6,9 Patient:innen pro Pflegekraft, in der Schweiz 7,9.

Anfang der 1990er-Jahre überlegte man, wie sich diese Entwicklung stoppen lassen könnte. Man erfand ein Instrument für die stationäre Akutversorgung, das so genannte PPR – Pflegepersonal-Bemessungsinstrument.

Mit Hilfe des PPR konnte man errechnen, wie hoch der wirkliche Bedarf an Pflegepersonal war – im Verhältnis zum Minutenaufwand für eine:n Patient:in in den jeweiligen Bereichen. Bald war es eingeführt. Man baute fast 26.000 Stellen auf. Nach drei Jahren fiel auf, dass all diese zusätzlichen Stellen sehr teuer waren. Das Instrument verschwand wieder, ersatzlos. Die Folge war ein radikaler Stellenabbau über mehrere Jahre. Jetzt gab es noch weniger Stellen als 13 Jahre zuvor, als man das Instrument einführte, um die Situation zu verbessern.

Der Notstand wuchs in den vergangenen 20 Jahren, doch niemand griff ein. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) machte es sich mit seinem Amtsantritt zur Aufgabe, eine Verbesserung einzuführen. Er beauftragte Krankenkassen und die Krankenhausgesellschaft, Personalgrenzen zu definieren. Doch die wurden sich nicht einig. So erließ das Ministerium im Jahr 2018 die Pflegepersonal-Untergrenzenverordnung, kurz „PpUGV“.

Hier wird es interessant: Statt sich an den Empfehlungen führender Fachleute zu orientieren, schaute man sich die Krankenhäuser an, die personell am schlechtesten ausgestattet waren. Sie machte man zum Vorbild. Frei nach dem Motto: Wenn es dort funktioniert, reicht uns das. Eingeführt hat man die Personaluntergrenzen dann nur für zehn „pflegesensitive“ Bereiche – was auch immer das bedeuten mag. Die Auswahl scheint teilweise willkürlich.

Was war die Konsequenz? Ganz richtig – Krankenhäuser, die verpflichtet sind, wirtschaftlich zu arbeiten, reduzierten ihre Pflegestellen teilweise auf das neue niedrige Minimum. Manche verstanden die Untergrenzen als Ziel, nicht als das absolute Minimum, als das sie gedacht waren. Teilweise werden die Bereiche, in denen es die Verordnung gibt, aufgefüllt mit dem nötigen Personal, das aus Bereichen ohne Personaluntergrenzen abgezogen wird. Dort kann es ja nicht zu Sanktionen kommen. Sanktionen, wohlgemerkt, die nicht den leidtragenden Patient:innen oder Beschäftigten zugutekommen. Das Geld geht an die Krankenkassen.

Taten zählen, nicht Worte

Zuletzt hatte Jens Spahn führende Pflegevertreter:innen beauftragt, ein Instrument zu erarbeiten und vorzustellen – man legte ihm das Pflegepersonal-Bemessungsinstrument in der Version 2.0 vor. Er lehnte ab und vertröstete die Pflegenden auf 2025. Bis dahin wolle man sich Gedanken machen.

Sie verstehen also meine Müdigkeit?

Wenn unser Einsatz und unsere Erschöpfung wenigstens an anderer Stelle gesehen würden. Aber auch in der Tarifrunde der Länder hat man uns enttäuscht. In meiner letzten Kolumne habe ich von den Streiks im November berichtet. Das Ergebnis der Tarifverhandlungen hat uns extrem frustriert. In der kommenden Woche wird der neue Vertrag unterzeichnet.

Die Politiker haben monatelang erklärt, wie sehr sie unsere Arbeit schätzen und dass sie höhere Löhne etablieren möchten. Sie hatten die Chance dazu, denn sie selbst sind die Arbeitgebervertreter:innen der Länder. Doch wieder einmal haben sie gezeigt, dass Taten zählen, nicht Worte.

Beschäftigte im Gesundheitswesen des ganzen Landes haben gestreikt. Sie werden sich nun dennoch mit Lohnsteigerungen unterhalb der Steigerung des allgemeinen Preisniveaus zufriedengeben müssen. Auch anderweitig kam man uns nicht entgegen. Reduzierte Arbeitszeiten oder ähnlich entlastende Maßnahmen waren nicht mal ein Thema.

Das Gehalt ist für mich und andere Pflegekräfte nicht das, was uns motiviert. Wir sehen die Konsequenzen, die es für die Patient:innen hat, wenn wir fehlen.

Schmerzen, Mangelernährung, Druckgeschwüre, Infektionen, Tod durch Krankenhauskeime, Verwirrungszustände, steigende Sterbewahrscheinlichkeiten und der Verlust der menschlichen Würde – das sind nur einige der täglichen Folgen für Menschen, für die wir nicht so gut sorgen können, wie wir sollten.

Doch so entmutigt ich oft bin, der Kampf ist noch nicht vorbei. Das gibt mir Kraft und schenkt mir Hoffnung für eine Zukunft in meinem eigentlich doch so schönen Beruf.

Im kommenden Frühjahr werden Pflegende und Kolleg:innen des Gesundheitswesens in Nordrhein-Westfalen wieder für bessere Arbeitsbedingungen aufstehen, nicht nur für uns, sondern auch für unsere Patient:innen. Wir benötigen die Unterstützung der Gesellschaft, denn jede und jeder von uns wird früher oder später betroffen sein und medizinische Versorgung benötigen.

Herzliche Grüße,

Ihre

Juliane Ritter

Porträt von Juliane Ritter

Juliane Ritter (Name geändert)

… arbeitet als Pflegekraft in einem Krankenhaus in Münster. Sie schreibt in dieser Kolumne darüber, warum sie ihren Beruf liebt. Und darüber, wo es hakt und was in der Pflege besser laufen müsste – grundsätzlich und in Münster. Juliane Ritter ist nicht ihr richtiger Name. Sie schreibt unter einem Pseudonym, damit sie frei über Schwierigkeiten und Missstände erzählen kann.

Die Kolumne

Immer sonntags schicken wir Ihnen eine Kolumne. Das sind Texte, in denen unsere acht Kolumnistinnen und Kolumnisten Themen analysieren, bewerten und kommentieren. Die Texte geben ihre eigene Meinung wieder, nicht die der Redaktion. Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Organisationen machen wir transparent. Wenn Sie zu den Themen der Kolumnen andere Meinungen haben, schreiben Sie uns gern. Wenn Sie möchten, veröffentlichen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir ebenfalls im RUMS-Brief.

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