Die Kolumne von Kolja Steinrötter | Was übrig bleibt

Porträt von Kolja Steinrötter
Mit Kolja Steinrötter

Guten Tag,

womöglich würden die meisten Menschen auf die Frage, was der Sinn des Lebens sei, „42“ antworten. Anders als über einen gesunden Sinn für Humor, mag man sich dieser Frage im Alltag kaum stellen.

Ich glaube, es wäre sinnvoll, das häufiger zu tun. Wofür leben wir? Welchen Wert hat mein Wirken auf meine Mitmenschen, auf die Gesellschaft, auf die Zukunft? Auf was für ein Leben möchte ich zurückblicken, wenn es dem Ende zugeht?

Mein Vater Claus ist seit dem 9. April, seinem 81. Geburtstag, in Krankenhäusern, Rehakliniken und Pflegeeinrichtungen unterwegs. Einen Tag vorher hat er noch in seiner Galerie gesessen.

Vor weit über 50 Jahren hat er in der Bergstraße seine erste Ausstellung eröffnet, um die Arbeiten des jungen Wolfgang Troschke zu zeigen. Die Begeisterung für das Schaffen eines Künstlers, einer Künstlerin und der brennende Wunsch, diese Begeisterung zu teilen, scheint mir ein triftiger Grund, Galerist zu werden. Bei mir selbst war es Anke Feuchtenberger, deren Arbeiten mich dazu gebracht haben, meine Galerie zu eröffnen.

Diese Liebe zu Künstler:innen und zur Kunst kann einen Menschen durch sein gesamtes Leben tragen. Rückblickend ist die Arbeit meines Vaters – die Ausstellungen, die vielen Bücher und Kataloge, tausende Gespräche und auch die Verkäufe an private und öffentliche Hände – eine Geschichte der gesellschaftlichen Entwicklung.

Und in all diesen verschiedenen Zeiten hat mein Vater, mit seinem Tun, hat die Galerie Spuren hinterlassen. Mal größere, mal kleinere, bei einzelnen Menschen und größeren Gruppen.

Nicht „speziell”, sondern Kunst

Viele Menschen haben, gerade in den Achtzigern und Neunzigern, eine Menge Geld verdient. Ich bin mir sicher, mein Vater hätte das auch gern getan – aber nie so gern, dass es eine Priorität geworden wäre. Alle Kraft, alles verdiente Geld, floss meist direkt wieder in die Kunst, zu Künstler:innen, in neue Projekte, neue Ideen.

Ich höre von Besuchern oft, die Kunst in meiner Galerie sei „speziell“. Das ist eine Art Missverständnis, denn was ich in meiner Galerie ausstelle, ist nicht „speziell“, sondern Kunst. Was es nicht ist? Dekoration oder Kunsthandwerk.

Mein Vater hat im Laufe seines Lebens durchaus öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen gemacht, deren Fokus nicht auf dem künstlerischen Wert lag. Er hat Peter Ustinov ausgestellt und die erste Ausstellung von Udo Lindenberg gezeigt. Er hat außerdem ein Pressebüro betrieben, Filme gedreht und immer wieder Kolumnen oder Artikel für kleine oder große Zeitungen geschrieben.

Aber die Kunst war und ist immer da, genau wie die grundsätzliche Liebe zu Besonderem, zu Verrücktem. Dass es am Ende immer die Nachfrage ist, die den materiellen Wert eines Objekts bestimmt, wird einem nicht nur in der Kunst irgendwann unerträglich.

Galerist zu sein bedeutet für meinen Vater, die Welt zu verändern. Mit einem Bild, einem Objekt nach dem anderen. Wobei wir wieder zum Sinn des Lebens zurückkehren. Nichts ist so weit voneinander entfernt wie die Kunst vom Geld. Die eine bringt mich in der Auseinandersetzung mit ihr dem Leben näher, das andere verschleiert uns mehr und mehr den Blick.

Eines bringt Menschen zusammen, das andere spaltet, bis zur existentiellen Krise der gesamten Gesellschaft. Weil Gutes, dem Zusammenleben Zuträgliches, dem Reichtum nicht inhärent ist.

Diese Wahl, entweder zu sagen: „Ich möchte etwas tun, was mir sinnvoll erscheint, etwas, das vielleicht einen Mehrwert für viele hat“, oder „Ich möchte vor allem Geld verdienen, egal, was ich tue“, sollte ein Mensch haben.

Eine schmerzliche Frage: Reicht das Geld?

Allein: Man hat sie nicht, außer man ist reich geboren oder vollkommen schwindelfrei. Auch diese Entwicklung ist an der Geschichte der Galerie meines Vaters nachzuvollziehen.

Klar, in einer Galerie kauft man Kunstwerke, zumindest oberflächlich betrachtet. Denn im Grunde kauft man Geschichten. Man legt sich dort eine sinngebende Erzählung zu, man nähert sich möglicherweise dem Kern der eigenen Existenz.

So besteht das Lebenswerk meines Vaters aus tausenden Gesprächen, aus vielen Begegnungen von Menschen, die sich sonst nie getroffen hätten, dem Zusammenbringen, dem endlosen Ringen um eine bessere, empathiefähigere Gesellschaft. Und gleichzeitig habe ich in den letzten Jahren so viel existentielle Angst gespürt, so viel Schmerz und auch Wut. Darüber, dass es manchmal scheint, als wäre all das sinnlos gewesen – und eben nicht genug, um wenigstens im Alter ohne Sorgen zu leben.

Diese Angst meines Vaters, das eigene Leben nicht mehr finanzieren, die Familie nicht mehr tragen zu können – sie schmerzt. Es tut mir weh, dass es ihm, vielleicht auch im Vergleich mit vielen Wegbegleiter:innen, scheint, als wäre ihm eine Art Unrecht geschehen. Als hätte sich sein selbstauferlegter Auftrag des Idealismus nicht gelohnt.

Ich habe beinahe das gesamte Jahr damit verbracht, das materielle Leben meines Vaters aufzulösen. Meine Mutter lebt nun bei mir, der Bestand aus der Galerie und der gemeinsamen Wohnung wird versteigert, verkauft, verschenkt.

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Neben der verzweifelten Suche nach einer würdigen Bleibe für meinen Vater und dem Ämterdschungel, durch den man sich schlagen muss, wirkt all dies immer wieder wie ein nicht enden wollender Albtraum. Wie ein unwürdiges Ende, eine Aufgabe, der ich nicht gerecht werde, die mich traurig, wütend macht, resignieren lässt.

Und trotzdem – meine Eltern haben ein gutes Leben gehabt, meine Kindheit war toll, denn irgendwie hat mein Vater trotz (oder wegen) allem Idealismus es fertig gebracht, so zu arbeiten, dass es lange an nichts fehlte. Vielleicht ist es das Leben eines Mannes, der das Geld einfach nicht liebte. Das wiederum, bei aller Verzweiflung darüber, dass es keine Vorsorge, keinen Gedanken daran gab, dass das Leben von Tag zu Tag irgendwann nicht mehr möglich sein könnte, ist mir ganz und gar sympathisch.

Wo wir wieder beim Sinn des Lebens sind. Was ist das Leben? Es ist die Art und Weise, wie wir gelebt haben. Es sind die Geschichten, die wir geschrieben haben. Es sind die Menschen, die wir getroffen und geliebt haben. Es sind die Gespräche, die wir geführt haben, es sind die Türen, die wir geöffnet haben, die Saat, die wir gesät haben.

Am Ende, auf dem Sterbebett, freue ich mich sicher nicht über den großen Sack voll Geld, den ich mühsam gefüllt habe. Was bleibt übrig?

Herzliche Grüße

Ihr Kolja Steinrötter

Porträt von Kolja Steinrötter

Kolja Steinrötter

Kolja Steinrötter, geboren 1974 in Münster, ist unter Künstler:innen und Kunst aufgewachsen, studierte Soziologe und Politikwissenschaft an der hiesigen Universität, trainiert die Fußballfrauen des SV Blau-Weiß Aasee und betreibt seit 2008 eine Programmgalerie am Germania Campus.

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