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Die Kolumne von Kolja Steinrötter | Von Kunst und Empathie

Guten Tag,
Guillermo Vargas, ein Künstler aus Costa Rica, hat 2007 in der Galerie Códice in Managua, Nicaragua, eine Arbeit mit dem Titel „Exposición No.1“ ausgestellt. Dieses Kunstwerk hat Millionen Menschen auf der Welt bewegt – so sehr, dass eine Petition im Internet gestartet wurde, um den Künstler nicht nur zu boykottieren, sondern strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen.
Vargas hatte einen Straßenhund eingefangen und ihn in der Galerie angeleint. Mit Hundefutter schrieb der Künstler an die gegenüberliegende Wand: „Eres lo que lees“ – „You are what you read“. Das Futter erreichen konnte der arme Hund nicht. Die Besucher konnten dem Tier also durch das Fenster dabei zusehen, wie es langsam verhungerte.
Galerist und Künstler bekamen Morddrohungen. Sehr viele Menschen empörten sich und einige starteten besagte Petition, die am Ende vier Millionen Menschen unterzeichneten. Ich könnte mir vorstellen, dass auch die Leser:innen dieser Kolumne diese Petition unterzeichnen würden.
In Filmen können hunderte Menschen ermordet werden, aber der Hund muss überleben. Die Filme der „John Wick“-Reihe rechtfertigen all die Brutalität des Protagonisten alleine dadurch, dass zu Beginn der Hund stirbt. Wer Hunde mag, weiß: Hunde dürfen nicht sterben.
Der Künstler Vargas hat sich also nicht ohne Grund eine besondere Form der menschlichen Empathie für sein Werk zu Nutze gemacht. Die Reaktion auf diese Arbeit zeigt, wie steuerbar unsere Zuneigung und unser Mitgefühl ist. Der hungernde Straßenhund in der Galerie bekommt unsere Liebe und Zuneigung. Und was ist mit den Obdachlosen, die einen Hauseingang weiter verhungern oder erfrieren?

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Das Elend unter Armut, Hunger und Krieg leidender Menschen mag nicht im Schaufenster ausgestellt sein. Aber insgeheim wissen wir, dass es da ist.
Es betrifft uns nur vielleicht noch nicht. Andererseits, oft genug steht es vielleicht doch im Schaufenster – aber wer gewichtet dieses Leid, und wie? Wenn die Nachrichten melden, dass 230.000 Menschen bei einem Tsunami in Südostasien umgekommen sind, wissen wir, was der Hinweis suggeriert, unter den Opfern seien auch Deutsche.
Dass wir mehr Mitgefühl haben, wenn Menschen uns nah sind, ist verständlich und, wie ich finde, auch vollkommen in Ordnung. Man kann nicht das ganze Leid der Welt an sich heranlassen, man muss Mauern errichten, um zu überleben.
Aber man sollte stets wissen, dass es rational keine Unterschiede gibt, dass jedes Leid zählt, dass jedes Lebewesen Empathie verdient. Das Kunstwerk von Guillermo Vargas hält uns den Spiegel vor und erinnert uns daran, nicht wegzusehen. Nicht nur Empathie zu empfinden, wenn wir quasi dazu gezwungen werden, sondern immer, zumindest rational.
Der Hund in der Galerie indes wurde nachts stets heimlich vom Galeristen gefüttert und am Ende der Ausstellung durch die Hintertür entlassen. „Exposición No.1“ war eine schmerzhafte Performance und ein gutes Beispiel dafür, wie Kunst eine gesellschaftliche Aufgabe erfüllen kann.
Kunst muss nichts, aber sie kann etwas verändern. Sie kann sich ins Gefällige zurückziehen, aber sie kann auch einen neuen Blick auf die Welt schaffen. Die Museen und Kunstvereine der Stadt – alles, was öffentlich gefördert wird – bekommen genau aus diesem Grund Unterstützung: um Kunst zu vermitteln und näherzubringen.
Doch wie in der Politik gelingt es nicht immer, die Menschen zu erreichen. Im Weg stehen zum Beispiel die Mechanismen des Kunstbetriebs. Mäzenen und Kolleg:innen zelebrieren auf für Laien unzugänglichen Vernissagen den Champagner.
Dass der Kunstbetrieb fahrlässig so viele Menschen verloren hat, ist ein größeres Problem, als es scheint. Wir sind, was wir lesen. Wenn wir uns mit Kunst auseinandersetzen – mit sperriger, nichtkommerzieller Gegenwartskunst, aber auch mit den alten Meistern (oder besser: den wenigen Meisterinnen, die das patriarchale Kunstsystem zugelassen hat) – schärfen wir unseren Blick und lernen, immer freier zu lesen.
Wenn Kunst Räume öffnet, um andere Perspektiven kennenzulernen, was bedeutet es dann, wenn diese Räume immer weniger Menschen erreichen? Könnte die zunehmende Empathielosigkeit in der Gesellschaft auch mit einem Kunstbetrieb zu tun haben, der viele ausschließt?
Manchmal gelingt es Kunst, viele Menschen zu erreichen und vielleicht auch zu begeistern. Ein Beispiel dafür ist die Himmelsleiter der Wienerin Billi Thanner.
Eine gelb leuchtende LED-Leiter, installiert auf dem Turm der Lambertikirche. Das warme Leuchten scheint etwas wie Hoffnung zu vermitteln, unabhängig vom ästhetischen Aspekt dieser Arbeit.
Die Himmelsleiter ist einfach schön – aber hat sie auch einen künstlerischen Wert? Nun, auch der Rest von Billi Thanners Werk ist hübsch und bunt und leuchtet. Ein Werk, das bei Laien große Begeisterung auslöst, kommerzielle Kunsthändler frohlocken lässt und weder Wut noch Irritation hervorruft. Oft ist so etwas verdächtig.
Bei Billi Thanner befinden wir uns allerdings in einer Zwischenwelt. Angst, dass ihr Werk eine Revolution auslösen könnte, braucht niemand zu haben. Aber auch diese Art von Kunst kann ein Einstieg sein, eine Tür öffnen.
Die Begeisterung für ein visuell ansprechendes Werk kann Menschen dazu motivieren, sich tiefer mit der dahinterliegenden Symbolik auseinanderzusetzen. Das kann ein Weg sein, sich auch mit komplexeren, vielleicht weniger zugänglichen Kunstformen zu beschäftigen – und damit auch existenzielleren Fragen und Antworten.
Den Raum zwischen Werken wie der Himmelsleiter und einer ungleich bedeutenderen Arbeit, dem von Münsters High Society etwas merkwürdig selektiv geförderten Brunnen mit dem Titel „Sketch for a Fountain“ von Nicole Eisenmann, muss man füllen.
Wer in Münster Kunst fördert, seien es Institutionen oder Mäzene, sollte sich darüber im Klaren sein, dass ohne den nachhaltigen Versuch, deren Bedeutung im Einzelnen und Großen und Ganzen immer auch zu vermitteln, alle Förderung gesellschaftlich keinen großen Wert hat.
Wer sich mit Kunst beschäftigt, wer Kunst liebt, hat immer, ob bewusst oder nicht, einen mindestens selbst auferlegten Auftrag, deren Sinn einer breiten Masse verständlich zu machen, möchte immer wieder versuchen, Zugänge zu schaffen. Und zwar für alle. Wer weiß, vielleicht sind wir dann doch noch zu retten.
Herzliche Grüße
Ihr Kolja Steinrötter
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Kolja Steinrötter
Kolja Steinrötter, geboren 1974 in Münster, ist unter Künstler:innen und Kunst aufgewachsen, studierte Soziologe und Politikwissenschaft an der hiesigen Universität, trainiert die Fußballfrauen des SV Blau-Weiß Aasee und betreibt seit 2008 eine Programmgalerie am Germania Campus.
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