Die Kolumne von Anna Stern | Die Zukunft des Stadtensembles

Porträt von Anna Stern
Mit Anna Stern

Guten Tag,

kennen Sie das Stadtensemble? Seit 2018 vernetzen sich in dieser Organisation Kulturschaffende aus Münster. Die Gründerinnen Carola von Seckendorff und Cornelia Kupferschmid gingen für den Namen von der französischen Wortbedeutung aus, ‚ensemble‘, also ‚zusammen‘. Sie bringen zwei lokale Gruppen zusammen, die sonst oft nebeneinander agieren, getrennt durch unterschiedliche Arbeitsformen, aber auch durch Konkurrenzdenken und Animositäten: die festangestellten Künstler:innen am Stadttheater und die Künstler:innen der freien Kulturszene.

Die einen genießen den Luxus eines sicheren Gehalts, können sich aber nicht aussuchen, in welchem Stück sie welche Rolle übernehmen, und sie sind Teil einer festen Hierarchie. Die anderen müssen einen Großteil ihrer Zeit darauf verwenden, Fördertöpfe oder andere Geldquellen für ihre Arbeit zu finden. Dafür haben sie aber den Luxus, im Falle einer Förderung ihre eigenen künstlerischen Projekte realisieren zu können. Die Idee für das Stadtensemble war und ist, über diese Gräben und auch über die Grenzen der verschiedenen Kunstsparten und Labels innerhalb der freien Szene hinweg das Gemeinsame zu suchen, sich kennenzulernen, weniger im Reden als im künstlerischen Tun. Denn zusammen bilden beide Gruppen eine ungeheure kreative Ressource in der Stadt. Ich bin eines der inzwischen 150 Mitglieder.

Bald wird sich das Stadtensemble verändern müssen. Um zu verstehen, warum, werfen wir erst einmal einen Blick zurück.

Aufsuchende Theaterarbeit, analoge Begegnungen

Alles begann 2018 mit dem ambitionierten Projekt 24 Stunden Münster, das von Seckendorff und Kupferschmid organisierten. Hier entstand ein Format, das später für viele Folgeprojekte übernommen wurde: eine lockere inhaltliche Klammer, die einen großen Spielraum für die Interpretationen unterschiedlichster Künstler:innen lässt. In diesem Fall war das die Vorgabe, für eine bestimmte Tages- oder Nachtzeit einen passenden Ort, Menschen oder ein Thema zu suchen und darüber eine Geschichte zu erzählen. Alle Beteiligten erhielten die gleiche Gage, die Collage wurde auf allen Bühnen Münsters gespielt. Für die beteiligten Künstler:innen war das eine neue Begegnung, die vielen noch sehr positiv in Erinnerung ist. Doch das Projekt war schwer zu vermitteln, es brauchte eine Weile, um die Zuschauer:innen zu erreichen. Immerhin die letzte Vorstellung im Pumpenhaus war dann ausverkauft.

Während der Arbeit an dieser Collage schärfte sich ein Anliegen, das 2019 zum ersten Mal umgesetzt wurde: Runter von der Bühne, rein in die Stadt, aufsuchende Theaterarbeit sozusagen. Für das Projekt Ich hörte sagen – ein poetischer Antiterroranschlag, das Teil des Rahmenprogramms des internationalen Lyrikertreffens war, schwärmten Mitglieder des Stadtensembles aus, in Cafés, Kaufhäuser, Busse und Fußgängerzonen. Dort rezitierten sie als scheinbar ganz normale Passant:innen plötzlich Gedichtzeilen und verwandelten die alltägliche Situation auf irritierende Weise. Die Zitate stammten unter anderem aus den Werken der Dichter:innen, die am Lyrikertreffen teilnahmen.

Seitdem hat es zahlreiche Projekte ähnlicher Art gegeben, auch und gerade in der Coronazeit, in der das Stadtensemble eben nicht aufs Digitale auswich. Stattdessen bot es konsequent analoge Begegnungen an, manche davon als Eins-zu-eins-Format. Beim Systemrelevanziergang etwa wurde über die Relevanz von Kunst und Kultur in Coronazeiten und überhaupt diskutiert. Und beim Anschlussformat Walk’n Act wurde nicht mehr nur geredet, sondern auch gesungen, getanzt, performt – eine Interpretation der Sozialen Plastik zum 100. Geburtstag von Joseph Beuys. Diese Formate sind für die Mitglieder des Stadtensembles eine willkommene und geradezu existenzielle Gelegenheit, ganz direkt Menschen zu begegnen, die nicht in ein Theater oder Konzert gehen. Rein in die Stadt heißt im besten Falle auch raus aus der eigenen Blase.

Kooperation mit dem Stadttheater

Eine besondere Rolle im Ensemble spielt Carola von Seckendorff. Denn sie lebt in beiden Welten: Sie ist langjährige festangestellte Schauspielerin am Stadttheater, realisiert seit vielen Jahren aber auch eigene Projekte als Regisseurin und Schauspielerin. Durch sie als Bindeglied kam es 2020 auch zur offiziellen und geförderten Kooperation des Stadtensembles mit dem Stadttheater unter dem damaligen Intendanten Ulrich Peters und seinem Schauspieldirektor Frank Behnke. Sie hatten das Potenzial einer solchen Kooperation erkannt. Denn die kommunalen Theater, das steht nicht erst seit der Coronapandemie fest, müssen sich weiterentwickeln. Sie leiden unter stetigem Publikumsschwund, und das Publikum, das noch kommt, wird immer älter. Dieses Problem scheint sich auch nicht damit lösen zu lassen, dass mehr oder andere Stücke gespielt werden. Es geht darum, Theater neu zu denken: Nachhaltiger mit Ressourcen umzugehen. Eigene künstlerische Profile zu schärfen. Hierarchien und Produktionsweisen in Frage zu stellen. Zugänge zu erleichtern. Experimentelle Formate zu erproben. Neues Publikum zu gewinnen.

Viele dieser Forderungen gehören seit der Gründung zum Konzept des Stadtensembles, das zu einer wichtigen Größe in Münsters Kulturlandschaft geworden ist. Es bespielt konsequent den öffentlichen Raum, die Angebote sind niederschwellig, der Kontakt zum Publikum direkt, Ideen werden schnell und flexibel umgesetzt, und die künstlerische Bandbreite reicht von der improvisierten Musik über Tanz und Performance bis zur klassischen Rezitation.

Bis Ende 2023 wird die Kooperation noch mit Fördermitteln aus dem Programm Neue Wege des NRW-Kulturministeriums mitfinanziert. Dieses Förderinstrument – landesweit immerhin zehn Millionen Euro pro Jahr – wurde angesichts der Krise kommunaler Spielstätten aufgelegt, um diese dabei zu unterstützen, innovative Perspektiven zu entwickeln. Statt die erfolgreiche Kooperation des Stadttheaters mit dem Stadtensemble zu verstetigen, hat die neue Intendanz in Münster unter Katharina Kost-Tolmein sich nun mit einem neuen Schwerpunkt um die Fördermittel beworben: „Theater Münster alles inklusiv“.

Der Blick nach vorn

Das hat im Stadtensemble für Enttäuschung gesorgt, aber nicht für Resignation: Beim Forum vor zwei Wochen haben die 30 anwesenden Mitglieder den Blick nach vorn gerichtet. Denn so wie bisher kann es nicht weitergehen. Nicht nur, weil die substanzielle Förderung ausläuft. Sondern auch, weil die beiden künstlerischen Leiterinnen ein logistisch so aufwändiges Projekt mit knappen Ressourcen, ohne Büro und parallel zu eigenen Projekten und Verpflichtungen nicht mehr am Laufen halten können.

Dass es unbedingt weitergehen soll, darin waren sich alle Anwesenden einig, die Plädoyers dafür waren sehr persönlich und berührend. Die Mitglieder diskutierten auch schon einige Zukunftsideen und -wünsche: Viele Programme des Stadtensembles wurden nur wenige Male gespielt und könnten mehr Publikum erreichen und begeistern, vor allem auch über Münster hinaus, in der Region. Es soll weiterhin eine künstlerische Leitung geben, die koordiniert und Impulse setzt, die Mitglieder des Ensembles wollen aber auch selbst mehr Verantwortung übernehmen und Ideen entwickeln. Das Prinzip „Raus aus der eigenen Blase“ wollen sie noch radikaler angehen: Zukünftig sollen wechselnd besetzte Kuratorien nicht nur die künstlerische Qualität der eingereichten Projektvorschläge diskutieren, sondern auch die Perspektiven marginalisierter Gruppen berücksichtigen – zum Beispiel von queeren Menschen, People of Color oder Menschen mit Behinderung.

Und das letzte große Projekt in der geförderten Kooperation mit dem Theater Münster, die Reise zum Ende vom Ende der Welt im Sommer 2023, wird ein großer Parcours vieler kurzer Mikrotheaterstücke quer durch die Stadt. Gemeinsam mit Expert:innen des Alltags aus Münster will das Ensemble utopische Welt- und Gesellschaftsentwürfen erforschen, die auf Anfänge statt aufs Ende blicken.

Auf Anfänge statt aufs Ende blicken: Das passt auch auf die Zukunft des Stadtensembles.

Herzliche Grüße
Ihre Anna Stern

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Anna Stern

… ist unter anderem Performance-Künstlerin. Sie lebt und arbeitet seit 30 Jahren in Münster. Sie studierte an der Kunstakademie Münster, später an der Berliner Universität der Künste, wo sie aktuell Vertretungsprofessorin am Institut für Ästhetische Bildung und Kunstdidaktik ist.

Die Kolumne

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