Die Kolumne von Anna Stern | Das Phänomen der Blase

Porträt von Anna Stern
Mit Anna Stern

Guten Tag,

in meiner ersten Kolumne ging es um zwei existenzielle Bedingungen für Künstler:innen, um überhaupt Kunst schaffen zu können: Raum und Geld. Eine dritte, ebenso existenzielle Bedingung ist: das Publikum. Denn die Kunst wird selten um der Kunst willen gemacht. Sie will zugänglich sein, sie soll Menschen erreichen, berühren. Aber was, wenn die Menschen nicht mehr kommen?

Schon vor Corona haben Theater, Kinos, Museen oder Konzertveranstalter:innen zunehmend härter um Publikum gekämpft. Doch der Lockdown hat eine verheerende Schneise geschlagen. Die lange Zeit, in der Live-Veranstaltungen nicht erlaubt waren, hat Gewohnheiten verändert, anscheinend nachhaltig. Viele gehen zum Beispiel nicht mehr ins Kino, sondern bleiben auf dem Sofa sitzen und schauen zu Hause Serien, deren Charaktere einem nach fünf Staffeln geradezu ans Herz gewachsen sind. Menschen haben sich im inneren Lockdown eingerichtet. Bequemlichkeit plus Netflix ist nur einer von vielen Gründen dafür.

Da ist zum Beispiel die Angst, sich anzustecken. Sie ist nicht unrealistisch bei den steigenden Fallzahlen, denken viele. Aber die Gefahr, sich bei einem Kino- oder Theaterbesuch zu infizieren, ist viel geringer als im Büro, im Zug, in der Schule oder beim Restaurant-Besuch, so zeigt eine Studie der Technischen Universität Berlin aus dem vergangenen Jahr. Doch der Trend, lieber in den eigenen vier Wänden zu bleiben, hält an.

Long Covid der Kultur

Da ist das Bedürfnis, zu wissen, was man geboten bekommt. Können Theater und Musikbühnen Stars und Prominente auffahren, zieht das noch immer Publikum. Die Besucher:innen wollen diejenigen sehen, die sie schon kennen und gehen auf Nummer Sicher. Die lokale oder regionale Szene hat es da entsprechend schwerer, Menschen vom Sofa zu holen.

Und da ist das Geld: In Krisenzeiten, in denen die eigenen Heizkosten explodieren und Butter mal eben fast das Doppelte kostet, sind ein Kinobesuch oder ein Theaterabend für viele ein zu teures Vergnügen geworden.

Alle diese Phänomene führen dazu, dass auch in Münster immer weniger Menschen kulturelle Veranstaltungen besuchen. Das Programmkino Cinema etwa hat deutlich weniger Besucher:innen als vor Corona, ebenso das Theater im Pumpenhaus. Zwar gibt es dort internationale Produktionen, die ausverkauft sind, doch im Schnitt ist das Haus zurzeit oft nur zu 30 Prozent ausgelastet. Auch das Team im Pumpenhaus beobachtet, dass die Menschen an der Kultur sparen.

Gleichzeitig steigen die Kosten, vor allem die Energiekosten für die Betriebe enorm, während Personal fehlt. Der Spiegel spricht schon vom Long Covid der Kultur.

Das klingt alles ziemlich düster und lädt zur Resignation ein. Davon wollte ich mich lösen und trotzdem darüber nachdenken, was für ein Publikum ich mir eigentlich wünsche, wenn ich – was selten genug vorkommt – auf der Bühne stehe.

Die ideale Zuschauerin

Mir fiel dazu Gabriela Exner ein. Sie treffe ich jedes Mal, wenn ich ins Pumpenhaus gehe, egal ob Konzert, Theaterstück oder Tanzaufführung, und das seit vielen Jahren. Gabriela widerlegt alle Hypothesen zum aktuellen Publikumsschwund und ist für mich die personifizierte ideale Zuschauerin, neugierig, beständig, kritisch und zugleich offen. „Ich bin überall in der Stadt als Rezipientin unterwegs. Ich will wissen, was in Münster in Sachen Kunst und Kultur los ist, will das Reale erleben, das Digitale lässt mich eher kalt. Für mich ist das wie Essen und Schlafen. Wenn ich länger nichts sehe, fehlt mir das unheimlich“, sagt sie.

Der beste Ort dafür ist für sie das Theater im Pumpenhaus. Sie liebt die Vielfalt des Programms, das Experimentelle, die persönliche Atmosphäre, die Möglichkeit, eine Nähe zu den Spielenden zu haben, wenn sie das möchte. Dennoch sei das Haus immer noch ein Geheimtipp. Trotz Facebook und Instagram, Plakaten und Flyern treffe sie immer wieder dieselben Leute, bleibe eher in einer „Bubble“, einer Blase.

Um aus meiner inneren Blase im Nachdenken über das ideale Publikum herauszukommen, rufe ich Kulturschaffende in und um Münster an mit der Frage: Was für ein Publikum wünscht Ihr Euch?

Die eigene Reichweite

Lisa Tschorn kritisiert eine allgemeine Ignoranz der Kunstszene im Hinblick auf die eigene Reichweite: „Die zeitgenössische Kunst denkt in einer Art Hybris, sie sei universell verständlich und nicht nur die Praxis einer bestimmten Subkultur.“

Lisa hat neben vielem anderen auch Bildende Kunst an der Kunstakademie in Münster studiert, daher kenne ich sie. Sie macht inzwischen gerne Performances, in denen die Zuschauenden zu Kollaborateur:innen werden und „mitspielen“ können. Dahinter stehen eigene Erfahrungen von Selbstwirksamkeit in ehrenamtlichen Engagements und selbstverwalteten Gruppen. Und daraus entstand der Wunsch, es auch anderen Menschen im Rahmen der Kunst zu ermöglichen, sich als Teil des Ganzen zu erleben. Verantwortung zu übernehmen, damit eine Veranstaltung gelingt.

Lisa wünscht sich von Zuschauenden, dass diese sie überraschen, dass etwas passiert, womit sie nicht gerechnet hat. Aber dann doch in einer Art und Weise, die noch in den Rahmen der jeweiligen Performance passt. Sie performt am liebsten vor und mit überschaubarem Publikum in „Klassenstärke“, das nicht völlig unerfahren im Rezipieren von zeitgenössischer Kunst ist. Wie viel Blase ist also nötig, um als Künstlerin verstanden zu werden, um als Zuschauende mitspielen zu können? Und wie wenig ist möglich?

Die beständige Fangemeinde

Auch Nikola Materne kennt das Phänomen der Blase und freut sich, wenn vor der Bühne nicht nur „mittelaltes Bildungsbürgertum“ sitzt, sondern sie „auch mal junge Leute oder Menschen aus anderen Ländern“ entdeckt. Nikola singt Jazz und Bossa Nova in diversen Bands und Formationen und unterrichtet Gesang, auch an der Musikhochschule. „Ich bin Entertainerin“, so beschreibt Nikola ihr Verständnis der eigenen Rolle auf der Bühne, „ich möchte mit Musik unterhalten“.

Ihre Verbindung zum Publikum sei nicht intellektuell, sondern emotional. Sie wünscht sich ein Publikum, das bereit ist, sich beschenken und berühren zu lassen und freut sich, wenn das sichtbar glückt. Sie will ihr Publikum sehen, das könne aber auch zu Fehleinschätzungen führen: „Da sieht einer sehr müde und kritisch aus, und genau der kommt dann später und bedankt sich für das schöne Konzert.“

Das Publikum in Münster würde ja oft zerrissen, erzählt sie, gelte als unterkühlt und schwierig. Sie erlebt das ganz anders, hat eine beständige Fangemeinde, die seit Jahren immer wieder zu den Konzerten kommt: „Das Publikum in Münster kann Liebe geben! Die können einen richtig feiern!“

Die Augen des Publikums

Für Vinicius, Tänzer und Choreograph, ist das Fachpublikum, das schon alles weiß und gesehen hat, die Bubble, aus der er heraus möchte. Er will Menschen ins Tanztheater bringen, die damit bisher keine Erfahrung hatten. Das gelingt ihm auch immer wieder über seine Workshops, in denen er den Tanz „entmystifizieren“ will, ihn öffnen will „für alle Körper, egal ob dick, dünn, groß, klein, mit oder ohne Behinderung“.

Hier choreographiert er Tanztheater-Stücke gemeinsam mit Teilnehmer:innen, die dann später auf der Bühne stehen. Und sie sind es, die Familie, Verwandte und Freund:innen mitbringen, die nur durch diesen direkten persönlichen Kontakt motiviert sind, sich eine ihnen erst einmal fremde Kunstform anzusehen. Vinicius mag den „frischen“ Blick, erlebt aber auch immer wieder, dass Zuschauer:innen genau wissen wollen, was denn der Choreograph sagen will.

„Ich wünsche mir ein Publikum, das mit eigenen Augen sieht und sich eine ganz persönliche Interpretation zutraut.“ Aber braucht es dafür eben nicht doch schon wieder ein erfahrenes Publikum, das vergleichen kann, das Vorlieben ausgebildet hat, das die besondere Körpersprache des Tanztheaters ‚lesen‘ kann?

Die Ohren des Publikums

Ralf Haarmann ist Komponist und Hörspielmacher, seine Produktionen laufen im WDR und im Deutschlandfunk. Im Studio arbeitet er am liebsten im Team, das dann auch andere Vorschläge einbringen kann. Er hingegen kann so in die Rolle des Publikums schlüpfen und „selbst wieder Zuhörer sein“. Neben der Arbeit im Studio macht er auch zusammen mit einer Sängerin und Performerin atmosphärische improvisierte Live-Musik. „Wir sind ganz weit weg vom Mainstream“, sagt er dazu. Bei diesen Konzerten wünscht er sich ein kleines Publikum, um nachher mit den Zuhörer:innen sprechen zu können.

Publikumsreaktionen auf seine Hörspiele im Radio erhält er selten, manchmal gibt ein Redakteur Einschaltquoten weiter, die liegen dann immerhin zwischen 2.000 und 12.000. Davon können Live-Künstler:innen in Münster nur träumen. Aber Zahlen sind keine Kommentare. „Man sendet ins Universum und das vergeht dann irgendwo“, sagt Ralf lakonisch.

Eine Ausnahme sind da Hörspielfestivals, für ihn eine seltene Gelegenheit, direkt herauszufinden, was jemand von seiner Arbeit hält. Er wünscht sich ein Publikum für seine Hörspiele, „das konzentriert – sagen wir mal – 53 Minuten dasitzt und nichts anderes macht als zuhören“. Ein ziemlich hoher Anspruch, einerseits. Wenn ich andererseits an die Lebenszeit denke, die Menschen mit Serien auf dem Sofa verbringen, scheinen mir 53 Minuten Aufmerksamkeit nicht zu viel verlangt.

Das engagierte Publikum

Emad Garivani ist Multimedia-Künstler und studiert zurzeit Medienwissenschaften in Bochum. Wir haben uns in Münster kennen gelernt und versuchen seitdem, eine gemeinsame künstlerische Arbeit auszuhecken, was bisher daran scheitert, dass Emad – aus dem Iran nach Italien immigriert – nahezu seine ganze Energie in bürokratische Kämpfe um ein deutsches Visum stecken muss.

Heute berichtet er von absurden Videos aus iranischen Universitäten: Die Studierenden streiken und solidarisieren sich mit den Frauen. Viele Professor:innen haben jedoch so viel Angst vor dem System, dass sie trotzdem Vorlesungen abhalten, vor leeren Seminarräumen. Ebenso wenig wie Bildung, sagt Emad, kann Kunst solitär funktionieren. Ohne Dialog läuft nichts.

Emad wünscht sich „ein engagiertes, aktives Publikum, das mich herausfordert“. Ein Publikum, das nur bewundert, hilft nicht, die Kunst weiterzuentwickeln. Und beständig soll es sein, denn nur ein beständiges Publikum kann ein kollektives kulturelles Gedächtnis formen, das wie eine ununterbrochene Kette durch die Geschichte Wissen und Erfahrungen mit Kunst und Kultur weiterträgt. Wird diese Kette zerbrochen, sterben Werke und Stücke.

Als jemand, der erst als Erwachsener immigriert ist, sei es nicht leicht, erzählt Emad, die unterschiedlichen Codes zu begreifen. „Du musst beide Gesellschaften kennen, beide Sprachen, um eine gemeinsame Sprache zu schaffen. Andererseits habe ich damit die Chance, Objekten und Situationen neue Bedeutungen zu geben.“

Menschen zu erreichen, die nicht dasselbe durchlitten haben, die Diktatur im Iran, die Erfahrung als Flüchtling, sei eine Herausforderung. „Die Kunst kann hier eine Eröffnung sein, ein Vorwort, ein geöffnetes Fenster für ein westliches Publikum, für das der Iran ein fernes Land ist.“

Das Privileg der Auswahl

Liebes Publikum in Münster, vielleicht wird Ihnen beim Lesen klar, dass wir als Kulturschaffende gar nicht so leicht aus unseren jeweiligen Blasen herauskommen.

Begründet in unseren Biografien, in der Kunst, die wir machen, und in unseren Ideen davon, welche Rolle Kunst in der Gesellschaft spielen kann oder soll, sieht unser ideales Publikum jeweils ziemlich anders aus. Zugleich wollen wir von möglichst unterschiedlichen Menschen gesehen und verstanden werden. Irgendwie schwingt da doch ein Wunsch nach der Kunst als universeller, verbindender Sprache mit. Und angesichts der oben skizzierten Phänomene scheinen diese Wünsche aktuell wenig realistisch zu sein.

Doch Sie, liebe Rezipient:innen, können wählen. Sie können sich immer wieder neu entscheiden: Lasse ich mich heute doch mal auf ein künstlerisches Experiment ein und spiele in einer Performance mit? Oder möchte ich gut unterhalten werden und einen musikalisch beglückenden Abend genießen? Will ich mich mit anderen Kulturen, anderen Perspektiven auseinandersetzen, meine Sicht auf die Welt erweitern? Oder mich auf die Körpersprache als eigenes Medium einlassen?

Sie haben das Privileg, aus dem riesigen Angebot zu schöpfen, das Ihnen Künstler:innen aus Münster immer wieder aufs Neue anbieten. Dazu müssen Sie nur eines tun: vom Sofa aufstehen und hingehen. Ja, und auch etwas Geld in die Hand nehmen.

Zum Schluss hat noch einmal meine persönliche ideale Zuschauerin das Wort. Ich frage Gabriela Exner, was sie sich denn als Zuschauerin auf Bühnen in Münster wünscht. Gabriela ist Teil der People-of-Color-Community und stellt fest: „Immer noch dominieren eurozentrische und weiße Geschichten.“ Sie würde deshalb gerne „viel mehr unterschiedliche Realitäten sehen, Menschen aller Klassen und Herkünfte, eine bunte, aber authentische Welt“.

Die wünsche ich uns allen, und nicht nur auf der Bühne.
Ihre Anna Stern

Porträt von Anna Stern

Anna Stern

… ist unter anderem Performance-Künstlerin. Sie lebt und arbeitet seit 30 Jahren in Münster. Sie studierte an der Kunstakademie Münster, später an der Berliner Universität der Künste, wo sie aktuell Vertretungsprofessorin am Institut für Ästhetische Bildung und Kunstdidaktik ist.

Die Kolumne

Immer sonntags schicken wir Ihnen eine Kolumne. Das sind Texte, in denen unsere acht Kolumnistinnen und Kolumnisten Themen analysieren, bewerten und kommentieren. Die Texte geben ihre eigene Meinung wieder, nicht die der Redaktion. Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Organisationen machen wir transparent. Wenn Sie zu den Themen der Kolumnen andere Meinungen haben, schreiben Sie uns gern. Wenn Sie möchten, veröffentlichen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir ebenfalls im RUMS-Brief.

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