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Die Kolumne von Anna Stern | Von Nüssen und Visionen
Guten Tag,
ich bin groß geworden mit Kinderliteratur, die mein Verständnis von Kunst, Gesellschaft und Selbst bis heute geprägt hat. Da war unter anderem das Kinderbuch ‚Frederick‘, erstmals erschienen 1967, gezeichnet und geschrieben von Leo Lionni, einem US-amerikanischen Maler, Grafiker und Schriftsteller.
Held der Geschichte ist Frederick, eine Feldmaus, die nicht wie die anderen Mäuse handfeste Vorräte für den Winter sammelt, Nüsse, Körner, Stroh. Frederick sammelt stattdessen Immaterielles: Sonnenstrahlen, Wörter und Farben.
Übersetzt könnte man auch sagen: Ideen, Visionen, Träume. Das finden die anderen Mäuse eher seltsam. Denn das kann ja wohl keine ernst zu nehmende Arbeit sein, oder?
Doch in den langen Winternächten, während die Vorräte langsam ausgehen, ist es Frederick, der die Mäuse mit seinen Erzählungen am Leben hält. Er zaubert den Frühling in ihre Köpfe und Wärme in ihre Herzen.
Ich wollte eigentlich immer so sein wie Frederick, den die anderen Mäuse einen „Dichter” nennen. Eine Person, die die Welt durch und mit Kunst zu einem besseren Ort für viele macht. Dieses Ideal habe ich immer noch – und fühle mich meist viel zu weit davon entfernt.
Ein Musikevent auf der Promenade
Heute möchte ich Ihnen von Thomas Nufer erzählen, einem Münsteraner Künstler, der für mich ein Frederick ist. Und von einem seiner Projekte, der ‚Grünflächenunterhaltung’. Dazu lade ich Sie zuerst einmal ein, mit mir in Gedanken auf der Promenade entlangzuwandern, eine der beliebtesten Sehenswürdigkeiten Münsters, erbaut auf dem abgetragenen ehemaligen Befestigungsring der Stadt.
Die vielen Bäume, die sie säumen, sind zwar gerade blätterlos und trist, aber spätestens Ende April werden sie langsam wieder zu den grünen schattenspendenden Riesen, unter deren schützendem Dach sich täglich tausende Menschen zu Fuß und auf dem Rad bewegen.
Vielleicht erinnern Sie sich noch daran, wie der Orkan Kyrill im Januar 2007 in Münster wütete. Allein an der Promenade wurden 350 Linden entwurzelt, annähernd 2.000 Bäume stürzten im Stadtgebiet um. Viele Bürger:innen spendeten, um Neupflanzungen auch größerer Bäume zu finanzieren.
Auch Thomas Nufer war betroffen vom Anblick entwurzelter Promenadenbäume vor dem Schloss. Er hatte schon einige Jahre lang versucht, das Grünflächenamt in Münster dazu zu bewegen, die Promenade für ein Musikevent der anderen Art freizugeben, die „Grünflächenunterhaltung“.
Seine Vision war es, sich mit den Bäumen über ein Medium zu unterhalten, das sie wahrnehmen können und das sie besser wachsen lässt: über Musik. (*)
Musiker:innen, die unplugged, also ohne Verstärkung, für die Pflanzen der Promenade spielen. Über eine Strecke von viereinhalb Kilometern. Ohne Gage, aber auch ohne Bratwürste, Bierstände, Werbebanner. Und deshalb auch ohne Konsum und Müll.
Doch vor Kyrill war das Grünflächenamt nicht dazu zu bewegen. Die Promenade galt als unantastbar für kulturelle Veranstaltungen. Nufer blieb hartnäckig, und mit und nach dem Sturm schien auf Verwaltungsseite ein Verständnis und eine Sensibilität für seine Idee zu entstehen.
Ein touristischer Magnet
Im Jahr 2007 spielten 30 Musiker:innen, inzwischen sind es 150 Bands, Solist:innen, Chöre und Gruppen in zwei Tagen. Sie kommen aus Münster, aber auch aus anderen Städten in Deutschland und anderen Ländern wie der Ukraine, Afghanistan, Frankreich und Finnland.
„Eigentlich müsste ich die Menge der Gruppen schon fast reduzieren, aber dann mache ich Leute unglücklich“, so beschreibt Thomas Nufer sein Dilemma. Die Veranstaltung sei schon jetzt sehr groß, ablaufen könne er das alles gar nicht mehr.
In diesem Jahr wird es die 16. Ausgabe der Grünflächenunterhaltung geben, die inzwischen selbst ein touristischer Magnet geworden ist und von Münster Marketing ausgiebig beworben wird.
Das alles ist mit einem immensen Arbeitsaufwand für viele Beteiligte und vor allem für Nufer selbst verknüpft. Er braucht zwar heute nicht mehr nach Bands und Musiker:innen recherchieren, denn die melden sich inzwischen von selbst bei ihm.
Die Grünflächenunterhaltung ist wie eine riesige Bühne und Castingshow. Einige Gruppen sind erst dadurch richtig bekannt geworden, zum Beispiel die Blosewinds. „Die Grünflächenunterhaltung hat für uns eine sehr große Bedeutung, sind wir doch 2010 das erste Mal dort offiziell öffentlich aufgetreten“, sagt Detlef Sult, damit spricht er auch für die anderen beiden Bandmitglieder.
Viele Musiker:innen wurden und werden durch ihren Auftritt hier erst bekannt und bekommen neue Angebote für Auftritte.
Doch als nach vier Jahren die Bewerbungen sprunghaft anstiegen, gab es erste Konflikte, eine klare Dramaturgie musste her: festgelegte Abstände zwischen den einzelnen grünen Bühnen und Bands, räumlich und zeitlich, 30 Minuten spielen, danach 30 Minuten Pause, damit die Gruppe daneben ungestört spielen kann.
Nicht zehn Chöre hintereinander und die Blasinstrumente und Gitarren so arrangieren, dass keine Kakophonie entsteht (das finden Pflanzen übrigens auch nicht angenehm). Die lauten Bands an die Kreuzungen positionieren, da die leisen dort nicht mehr gehört werden.
„Das muss alles total austariert werden, wer wann wo spielt“, sagt Nufer. Und nicht nur die Musiker:innen untereinander können sich in die Haare kriegen, zum Beispiel weil eine Gruppe ihre 30 Minuten gnadenlos überzieht.
Auch die Anwohner:innen machen schon mal Ärger: „Müssen die Bläser jetzt den ganzen Tag hier Lärm machen, können Sie die nicht woanders hinstellen?“
Solche Beschwerden sind nicht selten. Vor zwei Jahren wurde schließlich aus Sicherheitsgründen entschieden, die Promenade an den zwei Tagen für Radfahrer:innen zu sperren. Auch das erzeugte bei einigen wieder Unmut und Unverständnis.
Inzwischen gibt es Terrorschutz, an jedem Promenadenübergang stehen Fahrzeuge vom Grünflächenamt, damit niemand mit dem Auto in die Menschen rasen kann. Ein beträchtlicher Kostenfaktor.
Wenn dann nach Bewerbungs- und Sichtungsphase die Dramaturgie steht, meist erst 14 Tage vor dem ersten Termin, muss die gefundene Ordnung auf einem Plan grafisch umgesetzt werden. Auch das macht Nufer selbst, ebenso wie die Entwürfe für die Schilder der Acts, mit Namen der Gruppen und Uhrzeiten.
Dann zieht er zwei Tage lang mit Mitarbeiter:innen vom Grünflächenamt um die Promenade und pflanzt die Schilder ein. Und schließlich rast er während der Grünflächenunterhaltung auf der Promenade hin und her, um entstehende Probleme zu lösen.
Für mich als Teil des Publikums sind diese Aspekte hinter den Kulissen bisher unsichtbar gewesen. Die Grünflächenunterhaltung habe ich neben ihren vielen musikalischen Highlights immer wieder als ein sehr berührendes Ereignis erlebt.
Es geht darum, sich zuzuhören
Da machen ganz normale Menschen Musik, der Kirchenchor, die Schüler:innenband, ein Rentner mit Gitarre, und ganz normale Menschen hören zu. Auf Augenhöhe. Alles in einer sehr entspannten, wohlwollenden, friedlichen Atmosphäre. Niemand muss Eintritt bezahlen oder etwas kaufen.
Konsumieren kann man hier nur über die Ohren. Man schlendert die Promenade entlang, bleibt stehen, wo es einem musikalisch gefällt. Auch wenn das Gespielte nicht immer perfekt ist. Darum geht es auch gar nicht. Die Musik für die Bäume der Promenade ist auch Musik für die Menschen dieser Stadt. Es geht darum, sich zuzuhören. Sich am Klang, an einander, an den Bäumen, dem Sommertag zu freuen.
So könnte Frieden aussehen. Nufer geht für mich damit sogar einen Schritt weiter als Frederick. Er stellt sich nicht selbst auf die Bühne, er schafft Raum für ein kulturelles, botanisches, soziales und lokales Experiment. Und alle Akteur:innen, die an diesem Experiment beteiligt sind, verwandeln die Promenade für zwei Tage in eine real existierende Utopie.
Die Grünflächenunterhaltung existiert dennoch nur, weil Nufer nicht locker gelassen hat. Wie wird einer ein Frederick?
„Ich habe als Kind gemerkt, dass ich nicht mit der Welt einverstanden bin, habe gespürt, dass ich die Welt spielerisch verändern kann. Dabei bin ich geblieben. Ich will keine Kunst um der Kunst willen machen, ich will Bewusstsein herstellen“, sagt Nufer dazu.
Er war schon früh Theaterfan, schlich sich in den Pausen ins Staatstheater in Stuttgart, weil er die teuren Eintritte nicht zahlen konnte. Eigentlich wollte er Schauspieler werden, fiel aber bei der Aufnahmeprüfung an der Staatlichen Schauspielschule Stuttgart in der dritten Runde durch.
„Mich spontan auf schauspielerische Weise dafür zu rechtfertigen, dass ich nachts nackt auf einem Pferd in einer Einbahnstraße unterwegs gewesen sein soll, das ist mir nicht gelungen“, erzählt er lachend. In Stuttgart studierte er dann stattdessen Design. Ins Theater wollte er später immer noch, so sehr, dass er sich eine Woche lang jeden Tag vor das Büro des Intendanten vom Münsteraner Borchert-Theater setzte, um einen Job als Requisiteur zu bekommen.
Am Borchert-Theater hat er dann tatsächlich gearbeitet, als Bühnenbildner und Requisiteur, aber auch als Regieassistent und Dramaturg, schließlich sogar als Intendant in einem Dreierteam.
Nach diesem Ausflug an ein festes Theater arbeitete er viele Jahre als Grafiker und Designer und inszenierte parallel Stücke an Freilichttheatern. Damit machte er sich schließlich selbständig und hatte 1998 den ersten großen Erfolg mit dem von ihm getexteten Musical „Sarajevo Love“, für das Steffi Stephan die Musik schrieb und das auch in Sarajevo aufgeführt wurde.
Ein dramatischer Hilferuf
Seitdem verwirklicht Nufer immer neue Ideen, mal sind es theatrale Inszenierungen, mal soziokulturelle Projekte wie der West-Östliche Diwan auf dem Domplatz oder eben die Grünflächenunterhaltung.
Anfang Februar haben freiberufliche Künstler:innen in Nordrhein-Westfalen einen offenen Brief an den Ministerpräsidenten Hendrik Wüst und die Ministerien für Wirtschaft, Kultur und Finanzen verschickt. Auch viele Kulturschaffende aus Münster haben unterzeichnet.
Es ist ein dramatischer Hilferuf. Die wirtschaftliche Krisensituation bedroht ihre Existenz: Menschen sparen zuerst an Ausgaben für Kultur, wenn sie wenig Geld haben. Die gestiegenen Energiepreise machen es bald unmöglich, ein Atelier oder einen Probenraum zu mieten.
Viele Gastronomiebetriebe, die auch kleine Bühnen für Musiker:innen betrieben haben, sind pleite. Und die Entwicklungen in Digitalisierung und KI bedrohten perspektivisch ganze Kultur-Berufszweige, so die Unterzeichnenden. Doch gerade in Zeiten, in denen eine Krise die nächste jagt, brauchen wir Räume der Kunst, die uns kritisch spiegeln, aber uns auch Kraft und Hoffnung geben.
Ich wünsche mir eine Politik und eine Gesellschaft, die den Mut, die Kreativität, die Ausdauer und die Arbeit von Künstler:innen stärker wertschätzt und anerkennt, auch finanziell. Oder, um im Bild von Frederick zu bleiben: Ohne Nüsse keine Visionen! Aber ohne Visionen eben auch keine Nüsse!
Herzliche Grüße
Ihre Anna Stern
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PS
Als Zeichen gegen den Ukraine-Krieg spielten alle Beteiligten der Grünflächenunterhaltung 2022 übrigens zur gleichen Zeit „Imagine“ von John Lennon. Da hätte Frederick mitgesungen, aus vollem Herzen.
(*) Der italienische Biologe Stefano Mancuso, der an der Universität Florenz lehrt, zeigte im Film „Die geheime Welt der Pflanzen“ aus dem Jahr 2020, dass Weinpflanzen unter Beschallung mit klassischer Musik besser wachsen. Mancuso erforscht pflanzliche Intelligenz und Kommunikationsfähigkeit und fordert Rechte für Pflanzen ein.
Anna Stern
… ist unter anderem Performance-Künstlerin. Sie lebt und arbeitet seit 30 Jahren in Münster. Sie studierte an der Kunstakademie Münster, später an der Berliner Universität der Künste, wo sie aktuell Vertretungsprofessorin am Institut für Ästhetische Bildung und Kunstdidaktik ist.
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