Die Kolumne von Anna Stern | Ein Abschied und ein Ausblick

Porträt von Anna Stern
Mit Anna Stern

Guten Tag,

eine Kolumne ist eine journalistische Form der Meinungsäußerung, in der die Schreibenden ungeniert ‚Ich‘ sagen können. Aus dieser persönlichen Perspektive heraus beleuchten Kolumnist:innen komplexe Themen und tragen im besten Fall zu einer guten Streitkultur bei. Zum komplexen Thema Kultur in Münster und über Münster hinaus gibt es viele unterschiedliche Perspektiven. Meine ist nur eine davon. Um auch andere hörbar und lesbar zu machen, möchte ich mich heute mit dieser Kolumne von Ihnen verabschieden. Und das mit einem Blick zurück und nach vorn.

In den letzten zwei Jahren habe ich versucht, zum einen übergreifende Themen und Fragen im kulturellen Feld auszumachen, die auch in Münster diskutiert werden.

Stichwort Raum. Das war das Thema meiner ersten Kolumne im Juni 2022, und es ist ein Dauerbrenner, wie ich aus allen aktuellen Gesprächen mit Kulturschaffenden höre. Es gibt weiterhin zu wenig bezahlbare Proberäume und Orte für Aufführungen, Konzerte, Ausstellungen. Aber wie an bezahlbare Räume kommen bei einem Leerstand von nur 0,2 Prozent? Im Vergleich mit Kommunen im Ruhrgebiet wie zum Beispiel Gelsenkirchen mit einem Leerstand von 6,5 Prozent im Jahr 2021 steht in Münster fast nichts leer (0,2 Prozent bei Wohnungen, 2,1 Prozent bei Büroräumen). Entsprechend hart umkämpft und teuer ist der Raum, den es gibt. Schlechte Karten vor allem für die freie Szene, die wenig Kapital zu bieten hat. 

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Stichwort Partizipation. Im Internet, auf Plattformen wie Youtube, Tiktok und Co. sind Menschen längst zu Prosumenten geworden: Sie konsumieren nicht nur Inhalte, sondern produzieren sie auch selbst. Auf welche Weise können sich Menschen in Münster stärker an der Entwicklung von Inhalten und Themen im kulturellen Feld beteiligen? Und ist eine solche Beteiligung ernsthaft gewollt?

Stichwort Diversität und Inklusion. Wie divers ist das kulturelle Programm der Stadt, spricht es möglichst unterschiedliche Menschen an? Finden Junge und Alte, Menschen unterschiedlicher Herkunft, Menschen mit Behinderung, Menschen aus dem LGBTQ+-Spektrum Veranstaltungen, die sie interessieren und die für sie zugänglich sind? Findet sich diese Diversität auch in den kulturellen Initiativen, Institutionen und Ausschüssen wieder, die über Inhalte und Budgets bestimmen?

Stichwort Blase. Wen sprechen wir Künstler:innen überhaupt an? Drehen wir uns zu sehr um uns selbst? Wie können wir aus unseren Nischen ausbrechen und neue Begegnungsräume schaffen? 

Wie steht es um die Initiativen?

Außerdem schlägt mein Herz für die freie Kulturszene der Stadt. Ja, zugegebenermaßen sicher auch, weil ich ein winziger Teil davon bin. Ihren Umgang mit den oben genannten Fragestellungen, aber auch ihre Vielfalt und ihre besonderen Herausforderungen wollte ich sichtbar machen.

Das reichhaltige Programm an Konzerten, Ausstellungen, Theaterstücken, Performances wäre ohne die freie Szene sehr überschaubar, um es vorsichtig zu formulieren. Gleichzeitig treffen steigende Energiepreise und Mieten, Publikumsschwund und Budgetstagnation die freie Szene härter als ihre angestellten Kolleg*innen in Institutionen.

Diese letzte Kolumne möchte ich nutzen, um anzuknüpfen an das, was ich zu drei spartenübergreifenden kulturellen Initiativen der freien Szene in Münster in 2022 und 2023 geschrieben habe: Wie steht es zur Zeit um diese Initiativen, was hat sich inzwischen zum Positiven oder Negativen entwickelt? Wie sehen sie in die Zukunft?

Da wäre „moNOkultur“, die Interessenvertretung der freien Kulturszene – die noch keinen neuen Namen hat. Aber seit Anfang 2022 eine durch das Kulturamt finanzierte halbe Geschäftsführungsstelle, besetzt mit Soetkin Stiegemeier-Oehlen. Und diese Verstetigung, ja Institutionalisierung trägt inzwischen Früchte. „moNOkultur“ konnte seitdem die Mitgliederzahl verdoppeln und das Social Media Netzwerk stark ausbauen. 

Besonders freut Stiegemeier-Oehlen, dass viele neue, oft junge Künstler:innen aus verschiedenen Sparten zu den Plena kommen: „moNOkultur verjüngt sich!“ Auf dem großen Plenum im Sommer 2023 wurden brennende Themen abgestimmt, zu denen sich Arbeitsgruppen gegründet haben. Die stehen kontinuierlicher und intensiver als bisher im Austausch mit Verwaltung und Politik. 

Mehr Mitsprache, mehr Sichtbarkeit

Mit Kulturdezernentin Cornelia Wilkens und Kulturamtsleiterin Frauke Schnell gibt es alle sechs Wochen Treffen zu langfristigen Zielen unter der Überschrift „Kulturplan/Kulturvision für Münster“. Die Arbeitsgemeinschaft „Räume (erhalten, erweitern, fördern)“ arbeitet eng mit Stadtteilkulturmanagerin Heike Schwalm zusammen, um Belange der freien Szene in Stadtteilentwicklungspläne einzubringen. Die Arbeitsgemeinschaft „Nachhaltigkeit“ bezieht nun auch eine Vertreterin der Grünen mit ein und steht im regelmäßigen Austausch. 

Der Verein „moNOkultur“ kooperiert außerdem mit Simone Schiffer, der vom LWL im Bereich Kulturförderung eingesetzten neuen Referentin für die Freie Szene – ich würde glatt behaupten, auch diese neue Stelle ist als Erfolg der Initiative zu verbuchen – und nimmt nun an Treffen zur Vorbereitung der jährlich vom LWL ausgerichteten Westfälischen Kulturkonferenz teil.

Und das sind nur einige der positiven Entwicklungen, die „moNOkultur“ in den letzten zwei Jahren verzeichnen kann, und die zu mehr Mitsprache und Sichtbarkeit der freien Szene führen. Was die Zukunft der Initiative anbelangt, ist Stiegemeier-Oehlen deshalb durchaus optimistisch.

Da wäre der Verein Kinder-Jugend-Kulturhaus, der noch immer kein Haus hat. „Räume…“, sagt Cornelia Kupferschmid vom Ensemble „Fetter Fisch“, Mitinitiatorin des Vereins, „das ist unfassbar schwierig in Münster!“ Nach zwei sehr erfolgreichen Pop-Up-Versionen, also kurzfristigen Veranstaltungen, im Jahr 2022 in zum damaligen Zeitpunkt leerstehenden Räumen in der Innenstadt wurde eine dritte Version vom Kulturausschuss nicht bewilligt. 

Mit dem Geld eines privaten Sponsors, vermittelt und unterstützt durch die Stiftung Bürger für Münster, setzt der Verein diesen Herbst dennoch eine kleinere Version um. „Pop-Up 3” findet in den Herbstferien im Begegnungszentrum Meerwiese in Coerde statt. 

Diesmal mit einer Erweiterung des Ansatzes: Bisher haben professionelle Künstler:innen ihre Proben und künstlerischen Recherchen geöffnet, neue Dialogformate mit jungen Menschen ausprobiert oder künstlerische Angebote für sie gestrickt. Jetzt können Kinder und Jugendliche zwischen 9 und 14 Jahren außerdem in Tandems mit Profis lernen, wie sie das anderen zeigen und beibringen, was sie selbst gut können. 

Eine konsequente Weiterentwicklung der Idee, Kunst und Kultur zu demokratisieren und jungen Menschen über die Kunst eine Plattform für ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu schaffen. 

Zeit für eine gemeinsame Vision

Für eine so niedrigschwellige Kulturarbeit sind Kontinuität, persönlicher Kontakt und verlässliche Strukturen der Schlüssel zum Erfolg. Dafür braucht es weiterhin einen konkreten Raum. „Sonst muss man immer wieder von vorne anfangen!“, so Kupferschmid. 

Mit einer digitalen Plattform allein ist es nicht getan. Der neu gegründete Kinder- und Jugendbeirat des Vereins mit 12 jungen Menschen im Alter von 10 bis 14 Jahren weiß ebenso wenig wohin, wie die von den Pop-Ups begeisterten Lehrer:innen und Eltern oder die vielen Ensembles fürs Kinder- und Jugendtheater. 

Letztere sind bereits seit vier Jahren auf der Suche nach mindestens einem verlässlich verfügbaren Proberaum. „Sobald der gefunden ist, könnten hier begleitend zur Probentätigkeit bereits weitere und dann kontinuierliche Schritte der Grundidee des Kinder-Jugend-Kulturhauses gegangen werden“, so Cornelia Kupferschmid. „Kern ist, dass zeitgemäße Kunstproduktion für junge Menschen schon in den Arbeitsphasen den Dialog mit ihrem Publikum sucht.“ 

Einen weiteren Wunsch für die nahe Zukunft formuliert sie so: „Es wäre an der Zeit, eine gemeinsame Vision für eine Kulturarbeit für und mit jungen Menschen gemeinsam mit Kulturschaffenden, Pädagog:innen, jungen Menschen sowie Politik und Verwaltung zu entwickeln.“

Und da wäre das Stadtensemble, das neue Wege geht, nicht nur aufs Land. Zur Erinnerung: Es handelt sich hier um einen Zusammenschluss aus Schauspieler:innen, aber auch Tänzer:innen und Musiker:innen aus Münster, die gemeinsame kulturelle Aktionen entwickeln. Das letzte durch das Programm „Neue Wege” des NRW-Kulturministeriums mitfinanzierte Projekt war die „Reise zum Ende vom Ende der Welt“. 

Diesen wunderbaren Parcours mit zahlreichen Mikrotheaterstücken führten Künstler:innen des Stadtensembles im Sommer 2023 an ganz alltäglichen Orten in Münster auf. Dazu ist übrigens gerade ein Buch erschienen. Pauline von Seckendorff und Ingrid Hagenhenrich (Fotografien) haben eine Dokumentation gestaltet, „für die, die bei dieser ungewöhnlichen Reise dabei waren und für die, die gerne dabei gewesen wären“. Das Buch ist Anfang Mai erschienen. 

Enorme Nachfrage, enormer Diskussionsbedarf

Alle waren sich einig, dass es danach auch ohne die Neue-Wege-Förderung weitergehen soll. Und einige Ideen, die damals gesponnen wurden, sind bereits Wirklichkeit geworden. Mit dem Projekt „Stadt.Land.Bühne“ hat das Stadtensemble ein Netzwerk aus Kulturschaffenden aus Münster und Kommunen im Münsterland initiiert. Die beteiligten Kommunen konnten ihre Favoriten aus einem Pool an Münsteraner Produktionen auswählen. Die unter dem Label des Stadtensembles entstandenen Formate im öffentlichen Raum sind dabei sehr gefragt, wie „(Ge)Dicht an die Nacht“ und „Der Mensch ist eine Insel“. 

Nun werden bis Dezember 10 Projekte gezeigt: In Bocholt, Dülmen, Oelde, Neuenkirchen und den 11 Stadtteilen Münsters, die an den Rändern der Stadt liegen, zwischen Stadt und Land. Dieses Netzwerk macht Produktionen deutlich nachhaltiger und erschließt ein neues Publikum, ein Gewinn für alle Beteiligten. 

„Es geht aber nicht nur ums Abspielen“, betont Carola von Seckendorff, die immer noch gemeinsam mit Cornelia Kupferschmid das Stadtensemble koordiniert, „alle Beteiligten sollen auswerten, wie es gelaufen ist und mitdenken, wie es weitergehen könnte, um auch neue Formate für die Kommunen zu entwickeln.“ Die Website ist übrigens in Einfacher Sprache gehalten, um möglichst vielen Menschen einen digitalen Zugang zum Programm zu ermöglichen.

Auch auf anderen Ebenen ist das Stadtensemble in die Breite gegangen. Die szenische Lesung „Geheimplan gegen Deutschland“ aus dem vom Recherche-Kollektiv Correctiv bereitgestellten Material, bekannt geworden durch das Berliner Ensemble, hat das Stadtensemble in Windeseile mithilfe zahlreicher Mitglieder von Februar bis April ganze 13 Mal an unterschiedlichsten Orten zur Aufführung gebracht. 

Auch das Kammertheater Der Kleine Bühnenboden” inszenierte die Lesung und tourte unter anderem nach Hamm, Dortmund, Saerbeck, Dorsten, Gescher, Warendorf und Borken. Die Nachfrage war enorm, der Diskussionsbedarf auch. 

Aber bei den Beteiligten entstand auch der Eindruck: „Wir sind alle in der gleichen Kuschelblase“, so Carola von Seckendorff. Es gebe eine große Hilflosigkeit, Unsicherheit und Angst, über Themen wie Rassismus und Diskriminierung offen zu sprechen, andere Meinungen auszuhalten. „Und vor allem auch uns selbst als Teil des Problems zu sehen. Wir sehen das Problem hauptsächlich in den anderen und tragen somit zur Polarisierung bei.“

Zuschauende werden zu Handelnden

Diese Erfahrungen mit der Correctiv-Lesung münden nun in das neueste Projekt „Paroli! Forum-Theater“. Es ist inspiriert von Augusto Boal, einem brasilianischen Regisseur und Theatertheoretiker. Boal hat in den 1970er-Jahren Methoden für ein „Theater der Unterdrückten“ entwickelt, die er nach seiner Flucht vor der Militärdiktatur mit nach Europa brachte. Kurz zusammengefasst, soll das Theater der Unterdrückten über theatrale Mittel Zuschauende zu Handelnden machen und ermächtigen, konkrete gesellschaftliche Probleme sichtbar zu machen und Lösungen zu finden. 

Eine dieser Methoden ist das Forumtheater. Es wird übrigens schon lange unter anderem in der Pädagogik, der Sozialen Arbeit und der politischen Bildung eingesetzt. Interessanterweise hat Boal sich angeblich kritisch und skeptisch zum Einsatz der Methoden des Theaters der Unterdrückten in Deutschland ausgesprochen. 

Um „Paroli!“ als Schauspieler:innen gut begleiten zu können, bilden sich alle daran Beteiligten speziell fort, darunter auch Ensemble-Mitglieder, die als Schwarz gelesene Menschen, trans* Menschen und Menschen mit migrantischem Hintergrund persönliche Erfahrungen mit Diskriminierung haben. Ziel ist, mit „Paroli!“ im nächsten Jahr auch in Schulen zu gehen.

Der Blick auf diese drei Initiativen, in denen insgesamt mehrere hundert Mitglieder der freien Szene aktiv sind, macht deutlich, wie dynamisch, lebendig und in ständiger Entwicklung begriffen diese Szene ist. Wie dicht dran am gesellschaftspolitischen Geschehen und wie engagiert für eine Kultur für alle. Ich freue mich sehr darauf, dass ich nach dem Ende meines Vertrages an der Universität der Künste in Berlin ab Anfang Oktober wieder in Münster sein werde, um in der freien Szene als Künstlerin mitmischen zu können. 

Herzlich
Ihre Anna Stern

PS

Zum Schluss möchte ich mich ganz herzlich bedanken! Bei Ihnen, liebe Leser:innen, und besonders bei denjenigen, die mir unterstützende ebenso wie kritische Kommentare zu meinen Texten geschickt und mir damit gezeigt haben, dass da draußen im scheinbaren digitalen Vakuum jemand ist. Und natürlich bei der RUMS-Redaktion, die mir große Freiheiten bei Themenwahl, Textlänge und Formulierungen gewährt und meine Texte immer konstruktiv und wertschätzend lektoriert hat. Danke für die schöne und bereichernde RUMS-Zeit! Und bis bald auf Münsters Bühnen.

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