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Nachwuchs heißt: Mitglieder unter 60
Münsters ältesten Verein kennt kaum jemand. Der Civilclub wird 250 Jahre alt. Im einst elitären Männerzirkel sind heute Frauen in der Überzahl. Was passiert dort?
„Block weg“, sagt die Dame mit der Brosche an der Bluse. Sie hat dem Treffen zugestimmt, ein Glas Wasser und eine Schale Walnusskerne auf den Tisch gestellt. Sie hat per App ihre Hörgeräte justiert. Sie hat von der Heizung erzählt, von den Enkeln, Urenkeln, dem Mann, dem Krieg. Davon, wie sie das erste Mal von diesem Civilclub hörte. Nur, all das soll nicht veröffentlicht werden. Ist der Civilclub ein Geheimbund?
Allein seinem Namen nach und der Schreibweise mit C klingt der Civilclub, als würden Menschen wie in „The Great Gatsby“ in Salons auf Sofas mit Samtbezug verkehren, hinter verschlossenen Türen das Stadtgeschick nicht nur kommentieren, sondern mit beeinflussen, und in hübschen Heimen mit Gartenzwergen und Spitzendeckchen auf Kommoden residieren.
Der Civilclub ist der älteste der rund 6.400 eingetragenen Vereine in Münster, und eine der ältesten Vereinigungen in Deutschland. „Als tragende Säule für Demokratie, Diskussionskultur und Wertevermittlung“ lobte ihn Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst, als er im April 2025 mit den Civilclubbern auf ihr Vierteljahrtausend anstieß.
2025 ist das große Jahr im Civilclub. Es gab ihn schon, als Johann Wolfgang von Goethe an Faust schrieb, er überlebte die Preußen, die Franzosen, das Kaiserreich, die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus. Einflussreiche Männer haben im Civilclub verkehrt.
Verkehren, überhaupt ein schönes deutsches Wort für das Sich-bewegen in einem bestimmten Dunstkreis. Der Bankier und ehemalige Oberbürgermeister der Stadt, Johann von Olfers, verkehrte hier, Preußens Finanzminister von Duesberg und Preußens Generalleutnant von Clausewitz, der ehemalige Stadtdirektor von Boeselager. Ein Club für mächtige alte weiße Männer?
Das Wichtigste? Geselligkeit
Nein, sagt Michaela Heuer, die Präsidentin, bei einem Treffen in ihrem Büro im Rathaus. Eine Frau. Der Club scheint offen zu sein für ein modernes Verständnis von Führung. „Ein, in Anführungszeichen, ganz normaler Club“ sei das, sagt Michaela Heuer. 125 Euro Jahresbeitrag. Das Wichtigste? Geselligkeit.
Das Elitäre, das sei früher mehr gepflegt worden, das habe sich „Gott sei Dank“ geändert. Der Civilclub sei für jeden, der neugierig ist. Mitglied werden? Das gehe jetzt „einfach per Mail“.
Die Frau mit der Brosche sagt, sie gehe in ihren Neunzigern noch gerne in den Club, „weil man da noch platziert wird“. Bei Vorträgen und Treffen gebe es Listen, auf denen steht, wer wo sitzt. So bilden sich keine Grüppchen.
Sie schweigt einen Moment. Die Münsteraner seien sehr stur, da könne man sich nicht einfach alleine in einem Café zu anderen dazusetzen. Oder an der Ampel. „Schon grün“ – wenn sie das sage, um ein wenig ins Gespräch zu kommen, dann antworteten die Leute nicht. Da komme man sich dann auch blöd vor. Ist sie einsam? „Nein, nein“, sagt sie und zeigt auf ihr Smartphone. Die Kinder, die Enkel, die Urenkel.

Der Civilclub beginnt als Männerverein. Münster ist 1775 eine Stadt im Übergang zur Moderne. Die Universität wird gegründet, die allgemeine Schulpflicht eingeführt, die alten Stadtmauern und Gräben werden zur Promenade umgebaut.
In den Vereinigten Staaten beginnt der Unabhängigkeitskrieg, in Paris flammt der Mehlkrieg auf – ein Vorbote der Revolution. Es sind die letzten Jahre der Ständegesellschaft im Fürstbistum Münster. Fünf Männer zwischen 28 und 41 haben 1775 die Idee, ein Zimmer zu mieten, um sich dort regelmäßig zu treffen.
Sie sind Juristen und stehen als Beamte der fürstbischöflichen Verwaltung an der Spitze des gebildeten Bürgertums, sagt der Stadtarchivar Peter Worm. Doch sie haben, anders als die Handwerker, keine Zünfte, die gemeinsam diskutieren, feiern und sich in der Not helfen. Und für die Kreise des westfälischen Adels und der Kleriker haben sie die falsche Herkunft. Sie schaffen sich also ihren eigenen gesellschaftlichen Treffpunkt und gründen einen Club.
Junge, katholische Männer – keine Frauen
Der Händler der Hofbuchhandlung Perrenon lässt sich von den Männern für 60 Reichstaler im Jahr erweichen und stellt der neu gegründeten „Erholungsgesellschaft“ an der Rothenburg 36 einen Raum zur Verfügung.
Die Männer lesen Bücher und französische Zeitungen, spielen Karten und beflügeln ihre Gedanken mit Bier. Es ist die Sturm-und-Drang-Phase der deutschen Literatur. Es ist schick, Autoritäten zu kritisieren, individuell und emotional zu sein. Gemälde zeigen Männer mit tief im Nacken gebundenen Zöpfen und den für die Zeit typischen Rollmopslöckchen über den Ohren.
Der Civilclub ist ein erstes Zeichen für die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, schreibt die Historikerin Susanne Kill. Jenseits von Rang und Geburt versammeln sich junge, katholische Männer.
Frauen tauchen in den Mitgliederlisten noch nicht auf. Bürgerrechte bekamen sie – wie die Protestanten und Juden – erst unter den Preußen. Trotzdem ist der Civilclub zu dieser Zeit ein fortschrittlicher Ort, an dem die Bürger selbst verhandeln, wer Teil ihres Bürgertums sein darf.
Erst 237 Jahre nach Gründung können Frauen Mitglieder werden. 110 von 185 Mitgliedern sind heute weiblich. Nochmal zehn Jahre später, im Jahr 2022, wird mit Michaela Heuer die erste Frau Präsidentin.
Heuer, 63, ist, wie die Gründer, Juristin. Von Beruf ist sie Justiziarin der Stadt Münster. Eine Frau, die sich ihre hüftlangen roten Zöpfe irgendwann radikal abgeschnitten hat, „weil es praktischer war“. „Ich bin ja nicht als Emanze bekannt“, sagt Bürgermeisterin Angela Stähler im Mai bei einer Festrede zur Eröffnung der Jubiläumsausstellung in der Stadtbibliothek, aber das sei „ganz toll“, dass der Civilclub eine Präsidentin habe.
Im Publikum nicken auch Männer. Heuer – ganz die Juristin – hatte 2015 mit Verweis auf das deutsche Grundgesetz angeregt, dass zu einem Civilclub in der Neuzeit auch die Möglichkeit einer Frau an der Spitze gehört. Die erste Reaktion? „Grummelndes Unbehagen“, sagt Heuer. Inzwischen hätten die Herren auch gemerkt, dass eine Frau als Präsidentin den Club nicht unbedingt vor die Wand fährt.
Heuer bemüht sich nun um Nachwuchs für den Club. Nachwuchs heißt: Mitglieder unter 60. Oder ausländische Mitglieder. „Das würde ich auch eine schöne Entwicklung finden, gerade in Zeiten, in denen wir uns befinden“, sagt sie. Was passiert in so einem Civilclub?
Im Mai Spargel, im August Sommerfest
Der Civilclub trifft sich jeden Monat zum Clubabend in den Räumen des Zwei-Löwen-Clubs (der Konkurrenz der Kaufleute, heißt es), da wird gegessen („natürlich mit vegetarischer Option“ für „etwa 20 Euro“), ein Vortrag gehalten (am 24. Juni zu „Lösungsansätzen für die Herausforderungen des deutschen Krankenhausmarktes“).
Man geht ins Museum, auf Radtour, auf Studienreise (2025 Luxemburg) und Kunstreise (2025 Berlin) spielt Doppelkopf („ganz locker“), alle drei Wochen Boule am Nachmittag und liest im Literaturkreis (zuletzt Accabadora von der italienischen Schriftstellerin und linken Aktivistin Michela Murgia und aktuell Über Meereshöhe ihrer Landsfrau Francesca Melandri).
Jeden Mai gibt es Spargel, jeden August ein Sommerfest, jeden Dezember Nikolaus, im Januar ein Neujahrstreffen und im Februar die Generalversammlung. Einmal im Monat landet eine Ausgabe der eigenen Club-Zeitschrift in den analogen oder virtuellen Briefkästen der Mitglieder.
Ein sonniger Donnerstagmorgen im Mai 2025. Dieter von Schwertführer, 86, seit sieben Jahren im Civilclub (seit vier Jahrzehnten zudem Krokodiler, in seinem Wintergarten hängt „die Katharina“ an der Wand, ein ausgestopftes Krokodil und Wahrzeichen einer anderen Münsteraner Runde, der Juxgesellschaft „Vergnügtes Krokodil“), führt mit Helm und Regenjacke 50 Kilometer durchs Münsterland.

Ein Dutzend Mitglieder auf Elektrofahrrädern surren durch Wald und Wiesen. Vorbei an den Kasernen an der Meerwiese, aber auch an riesigen Grundstücken des modernen Landadels, an Industriekleber Weicon. „Da können wir auch mal eine Führung machen“, sagt von Schwertführer.
Ein Mann kommt auf einer getrockneten Traktorspur vom Weg ab und fällt ins Gras. „Gut, dass es hier weich ist“, sagt einer und gräbt den Herrn unter dem schweren Gerät aus. „Man muss schon schauen, dass man seine Schäfchen zusammenhält“, sagt von Schwertführer. Eine Frau blickt auf ihren Tacho. 20 Stundenkilometer. „Wir könnten ruhig ein bisschen schneller fahren.“ Sie erzählt, sie habe beim Urlaub in Ägypten von anderen Münsteranern zum ersten Mal vom Civilclub gehört, die meisten kommen über Nachbarn oder Bekannte. Zitiert werden will keiner. Wie, schon wieder geheim?
Viele der 190 Mitglieder sind ehemalige Universitätsprofessoren, Ärzte, Juristen, Apotheker, Unternehmensberater oder Lehrer. Viele deren Witwen, deren Ehefrauen. Seitdem Menschen, Achtung geklauter Wortwitz, seit 2012 „ohne Glied Mitglied werden können“, kamen Psychologinnen, Lehrerinnen und andere dazu. Sie wollen ihr Privatleben nicht in der Öffentlichkeit sehen. So weit, so verständlich. Es sind schon überwiegend Akademiker, sagt die Präsidentin Michaela Heuer. Doch es gebe auch Mitglieder mit anderem beruflichen Hintergrund.
Eine Person aus der, sagen wir es mit einem Oberbegriff: Produktion. Diese Person wolle nicht, dass ihr Beruf genannt werde, sagt Heuer. Dabei sei es bereichernd, wenn Menschen aus unterschiedlichen Berufen, Generationen und Erfahrungen zusammenkommen. Sie will den Club öffnen, sagt Michaela Heuer. Sie spricht von Transformation. Kann sich wirklich jeder um die Mitgliedschaft bewerben?

Es braucht zwei Paten, die bürgen
Kopfschütteln. Man müsse schon angesprochen werden, sagt eine Frau mit Pagenschnitt, als die Radlertruppe Halt macht in der altdeutschen Gaststätte Wauligmann. Es gibt Münsteraner Töttchen, Hering und Speckpfannkuchen und Gespräche über die Orgel der Konstantin-Basilika in Trier, über die Studienfahrten nach Luxemburg („Da soll der Riesling so gut schmecken“), über Helme („Ihr habt auch so schwarz-weiß elegante“).
Eine Frau erzählt von ihren Jahren in Ecuador und der engen Zusammenarbeit mit Frauen indigener Gemeinden. Eine andere von ihrem Lateinstudium und wie sie nie ihren Beruf ausüben konnte, weil sie Mutter wurde, und warum sie trotzdem zufrieden ist.
Wer Mitglied werden will, soll mindestens drei Veranstaltungen besuchen. Danach soll er oder sie zweimal gefragt werden, ob er Mitglied werden will, bevor er seinen Antrag stellt. Es braucht zwei Paten, die für den Antrag bürgen. Der Vorstand entscheidet.
Lehnt einer ab, wird der Antrag abgelehnt. Ist das schon einmal passiert? Nicht, dass sie wüsste, sagt die Präsidentin. Nein, sagen auch andere. Doch, sagt dann ein anderer. Ein Arzt in seinen Vierzigern, den er vorgeschlagen hatte, sei vom Vorstand abgelehnt worden.
Der Civilclub hat die Jahrhunderte überstanden, indem er mit dem gesellschaftlichen Wandel mitgegangen ist. Als die Preußen um 1800 Münster übernahmen, zog eine neue Elite in die Stadt. „Die katholische Stadtbevölkerung befürchtete, dass alles auf den Kopf gestellt werde“, sagt der Stadtarchivar Worm.
Doch der Civilclub öffnete sich für diese neue evangelische Elite aus Militär,- Universitäts- und preußischer Verwaltung und gewann an Einfluss. Gab es zum Festjahr 1925 noch Schinkenpastete, Mockturtlesuppe, Heilbutt und Mastkalbsrücken, gibt es heute bei jedem Essen eine vegetarische Alternative, sagt Heuer. Das habe schon ihr Vorgänger eingeführt, ein Vegetarier.
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