Kidane und Herr Schweitzer

50 Pro­zent der Kin­der, die im Stadt­teil Müns­ter-Coer­de zu Hau­se sind, leben in Armut. Das hat Fol­gen für ihre Chan­cen auf Bil­dung — und damit für ihr gan­zes Leben. Eines die­ser Kin­der ist Kidane. RUMS-Autorin Sig­rid März hat den Zehn­jäh­ri­gen getrof­fen. Und sie hat mit dem Bil­dungs­exper­ten Jochen Schweit­zer gespro­chen, der etwas für die jun­gen Men­schen in sei­nem Stadt­teil ver­bes­sern möchte.

Text: SIGRID MÄRZ
Redak­ti­on: CONSTANZE BUSCH, RALF HEIMANN
Titel­fo­to: NIKOLAUS URBAN

Der zehn­jäh­ri­ge Kidane ging immer ger­ne in die Schu­le, doch wie wich­tig sie ihm ist, ver­stand er erst im Früh­jahr wäh­rend des ers­ten Lock­downs. Er fühl­te sich oft allein. Er ver­miss­te die Zeit mit ande­ren Kin­dern. Er saß viel zu Hau­se her­um. Ob es im Som­mer ein Feri­en­pro­gramm geben wür­de, war noch nicht klar. In die­ser Zeit hör­te Kidane von einem Thea­ter­pro­jekt in der Nähe, kei­ne zehn Minu­ten vom Eich­horn­weg in Coer­de ent­fernt, wo Kidane bei sei­ner Tan­te wohnt. Das Pro­jekt war für ihn ein Glücksfall.

Zwölf Kin­der im Alter von sechs bis zehn Jah­ren prob­ten eine Woche lang auf dem Gelän­de des Sport­ver­eins Teu­to­nia, beglei­tet von zwei Thea­ter­päd­ago­gin­nen. In dem Stück, das sie spiel­ten, ging es um eine Löwin, die nicht schrei­ben kann.

Zwi­schen­durch schau­te immer wie­der ein älte­rer Herr vor­bei. Jochen Schweit­zer, 78 Jah­re alt, ein ehe­ma­li­ger Leh­rer. Manch­mal brach­te er den Kin­dern mor­gens Bröt­chen. Schweit­zer hat­te das Pro­jekt orga­ni­siert, um die Coro­na-Zeit zu über­brü­cken, zusam­men mit der Kin­der­kul­tur­werk­statt Musi­fratz. Er hat­te auf eige­ne Faust einen Übungs­raum besorgt, Büh­nen­plat­ten und eine Pla­ne gegen den Regen. Und er hat­te ein Hygie­ne­kon­zept erstellt. Bei der Auf­füh­rung am Ende saß er im Publi­kum. Für das Fina­le hat­te er den Clown Fideli­dad eingeladen.

Die Kin­der spiel­ten vol­ler Inbrunst Affen, Löwen und Fla­min­gos, in bun­ten Kos­tü­men und mit viel Selbst­be­wusst­sein. An die­sem Tag sah Kidane glück­lich aus.

Das ist die eine Sei­te der Geschich­te, die schö­ne. Doch es gibt auch noch eine ande­re. Sie klingt nicht ganz so schön.

Klingelschilder fehlten, niemand öffnete

Die Bröt­chen brach­te Jochen Schweit­zer mor­gens vor­bei, weil eini­ge Kin­der ohne Früh­stück kamen. Ihre Eltern schlie­fen noch, als sie das Haus ver­lie­ßen. „Ich habe schon vie­le Ver­an­stal­tun­gen orga­ni­siert, aber das war nerv­lich das Anstren­gends­te, was ich je erlebt habe“, sagt Schweit­zer. Jeden Tag hät­ten sie sich mor­gens gefragt, ob die Kin­der auch kom­men. Mit den Eltern Kon­takt auf­zu­neh­men, sei nicht ein­fach gewe­sen. E-Mail-Adres­sen und Tele­fon­num­mern stimm­ten nicht, an den Woh­nun­gen fehl­ten Klin­gel­schil­der oder nie­mand öff­ne­te. Das Miss­trau­en gegen­über Frem­den sei groß, auch die Angst vor Kon­trol­len und Ämtern, sagt der ehe­ma­li­ge Leh­rer. Er habe immer wie­der gehört: „Das geht mit die­sen Kin­dern und die­sen Eltern nicht.“ Doch das woll­te Schweit­zer nicht hin­neh­men. „Ich woll­te bewei­sen, dass es doch geht“, sagt er. Und er woll­te bewei­sen, dass es nicht an den Kin­dern liegt.

Foto: Niko­laus Urban

An einem Nach­mit­tag im Okto­ber eini­ge Wochen spä­ter steht Kidane am Eich­horn­weg an der Stra­ße und schabt mit den Schu­hen über den Asphalt. Jochen Schweit­zer hat­te sich ange­kün­digt, er besucht die Kin­der aus dem Thea­ter­pro­jekt regel­mä­ßig und schaut, wie es ihnen geht. Jetzt steigt er vom Fahr­rad. „Ich dach­te, du kommst nicht mehr“, sagt Kidane. Schweit­zer lächelt. „Ich habe mit dei­ner Tan­te halb vier abge­spro­chen, Kidane, und hier bin ich“, sagt er. Dann schlen­dern die bei­den zum Ein­gang des Mehr­fa­mi­li­en­hau­ses, in dem Kidane lebt.

Hier im Vier­tel rei­hen sich Mehr­fa­mi­li­en­häu­ser anein­an­der. Im Osten begrenzt der Dort­mund-Ems-Kanal den Stadt­teil, im Wes­ten die Bahn­li­nie. „Alles endet hier in Sack­gas­sen“, sagt Schweit­zer, und damit meint er nicht nur die Stra­ßen. „Nach Coer­de zieht man nicht, wenn man nicht muss“, so hat er es mehr­fach gehört. Er selbst lebt seit sie­ben Jah­ren hier – frei­wil­lig, wie er betont.

Der Wohlstand ist ungleich verteilt

Eigent­lich ist Müns­ter eine Stadt, der es gut geht. Die Men­schen haben im Jahr durch­schnitt­lich knapp 24.000 Euro zur Ver­fü­gung, im Lan­des­schnitt sind es 1.400 Euro weni­ger. Im Jahr 2019 war nur einer von 20 Men­schen in Müns­ter arbeits­los. Doch der Wohl­stand in der Stadt ist ungleich ver­teilt. In Mau­ritz und im Kreuz­vier­tel lie­gen die Ein­kom­men und die Ver­mö­gen deut­lich über denen in Berg Fidel, Kin­der­haus und eben Coer­de. Im Kreuz­vier­tel bezieht nur einer von 50 Men­schen Hartz IV, in Berg Fidel jeder fünf­te. In Mau­ritz haben zwei von zehn Kin­der eine Migra­ti­ons­vor­ge­schich­te, in Coer­de fast sie­ben von zehn.

Im Mai 2018 liest Jochen Schweit­zer dar­über in den West­fä­li­schen Nach­rich­ten: „Stadt der schrof­fen Gegen­sät­ze“ steht über dem Bericht. Es geht um die ers­te gro­ße Unter­su­chung, die sich mit den Ein­kom­mens­un­ter­schie­den in Müns­ter befasst, das soge­nann­te Sozi­al­mo­ni­to­ring. Coer­de als „Stadt­teil mit den alar­mie­rends­ten Daten“ kommt nicht gut weg. Beson­ders stark trifft es die Jüngs­ten: Fast jedes zwei­te Kind in Coer­de lebt in Armut. So steht es in der Sta­tis­tik. „Das hat mich wahn­sin­nig wütend gemacht“, sagt Schweit­zer. Denn das ist nicht nur eine Fest­stel­lung, es ist auch eine Bestim­mung: Wer arm ist, hat in Deutsch­land schlech­te­re Bil­dungs­chan­cen, und das hat Fol­gen für das gesam­te Leben.

Im Wohn­zim­mer des Bil­dungs­exper­ten reicht ein wei­ßes Bücher­re­gal bis unter die Decke. Dar­in ste­hen Bän­de über Fri­da Kahlo, Albrecht Dürer und die Kel­ten Mit­tel­eu­ro­pas neben Schul­bü­chern aus Schweit­zers Zeit als Leh­rer. Davor sitzt der 78-Jäh­ri­ge und spricht ener­gisch über eine Fra­ge, die ihn schon seit Jahr­zehn­ten beschäf­tigt: Wie kann man die Bil­dungs­chan­cen von Kin­dern verbessern?

Ein einfacher Test für Bildungschancen

Schweit­zer selbst hat­te gute Vor­aus­set­zun­gen. Nach dem Abitur mach­te er eine Bank­leh­re, danach stu­dier­te er Wirt­schaft und Lehr­amt. Nach sei­nem Abschluss muss­te er sich ent­schei­den. Kar­rie­re als Bän­ker oder Sicher­heit im Schul­dienst? Schweit­zer wähl­te die Sicherheit.

So blieb ihm Zeit, um sich nach der Schu­le poli­tisch zu enga­gie­ren. Mit 27 Jah­ren trat er in die SPD ein, und er schloss sich der Gewerk­schaft Erzie­hung und Wis­sen­schaft (GEW) an. Spä­ter küm­mer­te er sich für die Indus­trie­staa­ten-Orga­ni­sa­ti­on OECD um die Pisa-Stu­die. Bis zu sei­ner Pen­sio­nie­rung vor 13 Jah­ren bereis­te er alle 30 dama­li­gen OECD-Mit­glieds­län­der, wur­de Vor­sit­zen­der der Stra­te­gi­schen Ent­wick­lungs­grup­pe der Stu­die. Er war dafür zustän­dig, die Pisa-Ergeb­nis­se auf die Schul­po­li­tik in Deutsch­land zu über­tra­gen. Und wenn er heu­te zurück­schaut, sagt er: „Ich weiß, wie man Din­ge bewe­gen kann, wie sich Bil­dung ent­wi­ckelt, wie sich Schu­len und Schüler:innen ent­wi­ckeln kön­nen. Oder eben auch nicht.“

Aber wie misst man, wel­che Chan­cen ein Kind hat, sich gut zu ent­wi­ckeln? „Es gibt einen inter­na­tio­nal aner­kann­ten Indi­ka­tor für Bil­dung und Bil­dungs­chan­cen“, sagt Schweit­zer. „Man fragt die Kin­der: Wie vie­le Bücher habt ihr zu Hau­se?“ Die­se Fra­ge kön­ne jedes Kind beantworten.

Nach­dem Schweit­zer den Zei­tungs­ar­ti­kel über die Stu­die gele­sen hat­te, ver­stand er, dass der Stadt­teil Coer­de ein gro­ßes Pro­blem hat, doch er woll­te wis­sen, wo es genau liegt.

Er begann zu recher­chie­ren. Er sprach mit über 80 Men­schen, Erzieher:innen, Kinderärzt:innen, Schulleiter:innen, Wissenschaftler:innen, Kommunal-Politiker:innen und mit Men­schen, die selbst in Armut leben. Er frag­te: Wel­che Erfah­run­gen haben Sie mit Kin­der­ar­mut? Was läuft schief? Wie kann man das ändern? Die knapp 300 Aus­sa­gen, die er zusam­men­trug, fass­te er auf 42 Sei­ten zusam­men, dazu Ergeb­nis­se aus Stu­di­en und Wis­sen aus jahr­zehn­te­lan­ger Schul­for­schung. Mit die­sem Bericht kon­fron­tier­te er die Ver­ant­wort­li­chen: den Ober­bür­ger­meis­ter und den Stadt­di­rek­tor, aber auch das Jugend- und Schul­amt. Über einen Arti­kel in den West­fä­li­schen Nach­rich­ten erreich­te der Bericht auch die Öffent­lich­keit. Die Reak­tio­nen über­rasch­ten Schweit­zer, denn die Stadt­ver­wal­tung und auch die Men­schen in Coer­de waren ver­är­gert. Nicht weil in dem Stadt­teil so vie­le Kin­der in Armut leben – son­dern weil jemand dar­über sprach. So emp­fand Schweit­zer es. „Ich habe die Men­schen beschämt“, sagt er.

Start mit zwei Jahren Rückstand

Im Jahr 2019 grün­de­te Jochen Schweit­zer die Initia­ti­ve Chan­cen für alle Coer­der Kin­der, kurz ChaCK. Jetzt erst recht, dach­te er. Der Bil­dungs­be­richt für das Jahr 2019 bestä­tig­te sei­ne Ver­mu­tung. Die­ser beschei­nig­te den Grundschüler:innen in Coer­de mit Abstand die schlech­tes­ten Start­be­din­gun­gen in Müns­ter. Den Kin­dern feh­le es an vie­lem, sagt Schweit­zer: an aus­rei­chen­der Gesund­heits­vor­sor­ge, früh­kind­li­cher För­de­rung und Unter­stüt­zung der Eltern beim Ler­nen. Das zeigt auch eine Unter­su­chung der Stadt aus dem ver­gan­ge­nen Jahr.

„Die Kin­der kom­men mit bis zu zwei Jah­ren Rück­stand in die Schu­le“, betont Schweit­zer. Vie­le von ihnen haben einen für ihr Alter sehr klei­nen Wort­schatz und Schwie­rig­kei­ten mit der Gram­ma­tik. Das liegt unter ande­rem dar­an, dass es im Stadt­teil zu weni­ge Krip­pen­plät­ze gibt. Nur ein gutes Drit­tel der unter Drei­jäh­ri­gen in Coer­de kön­nen in Kitas betreut und geför­dert wer­den, in ganz Müns­ter sind es fast die Hälf­te. Dabei bräuch­ten die Kin­der in Coer­de eigent­lich noch mehr Unter­stüt­zung und För­de­rung, sagt Schweit­zer. Sei­ne Initia­ti­ve for­dert des­halb, dass die Betreu­ungs­quo­te im Stadt­teil nicht nur an den städ­ti­schen Durch­schnitts­wert ange­passt wird, son­dern ihn deut­lich über­stei­gen soll. Wenn es nach Schweit­zer geht, soll die Stadt den Bil­dungs­in­dex zum Maß­stab neh­men und auf die­ser Grund­la­ge Res­sour­cen so ein­set­zen, dass schwa­che Stadt­tei­le mehr bekom­men. Und es brau­che nicht nur mehr Kita-Plät­ze, sagt er. Für die Ein­rich­tun­gen in Coer­de müs­se auch ein höhe­rer Per­so­nal­schlüs­sel gel­ten als für Stadt­tei­le wie das Kreuz­vier­tel, denen es bes­ser geht. Und Kin­der aus Fami­li­en mit wenig Geld bräuch­ten eine bes­se­re För­de­rung. Davon ist Schweit­zer über­zeugt. Min­des­tens drei­mal so vie­le Plät­ze sei­en nötig, um den Bedarf zu decken.

Die Lehrerin fragt, ob alles in Ordnung ist

Kidane hat einen der weni­gen För­der­plät­ze bekom­men. Nach der Schu­le geht er in die Heil­päd­ago­gi­sche Tages­grup­pe (HTG), jeden Tag. Dort macht er sei­ne Haus­auf­ga­ben. Seit die Schu­le wie­der geschlos­sen ist, arbei­tet er zu Hau­se, an einem klei­nen Tisch im Wohn­zim­mer. Einen Schreib­tisch gibt es nicht.

Foto: Niko­laus Urban

Manch­mal ruft die Leh­re­rin an und fragt, ob alles in Ord­nung ist. Weil aus der Schu­le nie­mand die Haus­auf­ga­ben kor­ri­giert, ver­sucht sei­ne Tan­te Mari­am es. Doch auch für sie ist es eine schwie­ri­ge Situa­ti­on. Sie hat eine klei­ne Toch­ter, um die sie sich küm­mern muss, und sie erzählt, sie sei selbst nur bis zu ihrem zwölf­ten Lebens­jahr zur Schu­le gegangen.

Mari­am ist als jun­ges Mäd­chen aus Eri­trea geflo­hen. Zu die­ser Zeit hat­te sie schon viel erlebt. Mit zwölf Jah­ren berief das Mili­tär sie ein. Ihr Alter spiel­te dabei kei­ne Rol­le. Sie war groß genug, damit war sie geeig­net. In dem dik­ta­to­ri­schen Staat ist das kei­ne Aus­nah­me, vie­le Min­der­jäh­ri­ge müs­sen unter kata­stro­pha­len Bedin­gun­gen den Mili­tär­dienst leis­ten. Noch in der Nacht nach ihrer Ein­be­ru­fung mach­te Mari­am sich auf den Weg, ohne sich von den Eltern oder Ver­wand­ten zu ver­ab­schie­den. Vier Tage war sie unter­wegs, zu Fuß, bis ins Nach­bar­land Äthio­pi­en. So erzählt Mari­am es. Über die Zeit danach spricht sie nicht.

Nach Coer­de kam Mari­am vor fünf Jah­ren. Sie mel­de­te sich zum Bun­des­frei­wil­li­gen­dienst. Ein Jahr lang arbei­te­te sie in einem Coer­der Alten­heim. Im ver­gan­ge­nen Jahr ist sie 20 Jah­re alt gewor­den. Es ist alles noch nicht so, wie es wer­den soll. Der Vater ihrer klei­nen Toch­ter stu­diert in Äthio­pi­en Pfle­ge und Theo­lo­gie, noch min­des­tens ein Jahr lang. Was danach sein wird, ist noch nicht klar. Aber Mari­am will bald wie­der als Alten­pfle­ge­rin arbei­ten. Der Beruf mache ihr viel Freu­de, sagt sie.

Mari­ams Schwes­ter, Kidanes Mut­ter, floh nicht vor dem dem Mili­tär­dienst, son­dern wegen ihres Glau­bens. Die meis­ten Men­schen in Eri­trea sind sun­ni­ti­sche Mus­li­me oder, wie Mari­am, in der Eri­tre­isch-Ortho­do­xen Tewa­he­do-Kir­che. Kidanes Mut­ter gehört der Min­der­heit der Protestant:innen an. In Eri­trea ist das ein Grund, ins Gefäng­nis zu kom­men. Nach­dem ihr Mann sehr plötz­lich an einem Herz­in­farkt ver­stor­ben war, hat­te Kidanes Mut­ter kei­nen Grund mehr zu bleiben.

Der Fehler war, ins Land zu kommen

Kidane erin­nert sich nur bruch­stück­haft an die Flucht, immer wie­der hilft Mari­am ihm beim Erzäh­len. Mit dem Bus ging es in den Sudan, von dort nach Äthio­pi­en und mit dem Flug­zeug wei­ter in die Tür­kei. Noch am Flug­ha­fen wur­den sie ver­haf­tet. Kidane konn­te das nicht ver­ste­hen. „Das war schlimm, wir haben doch nichts falsch gemacht“, sagt er lei­se. Der Feh­ler bestand dar­in, ins Land zu kom­men. Die Ein­rei­se war illegal.

Doch Kidane und sei­ne Mut­ter hat­ten Glück, sie wur­den wie­der ent­las­sen und zogen wei­ter nach Grie­chen­land, in ein Flücht­lings­la­ger in Athen. Irgend­wann setz­te sei­ne Mut­ter ihn dort in ein Flug­zeug nach Deutsch­land. Sie selbst wur­de von der Poli­zei auf­ge­hal­ten und reis­te spä­ter wei­ter nach Eng­land. Was ihre Schwes­ter dort macht und wann sie nach Müns­ter kommt, kann oder will Mari­am nicht sagen.

Mehr als zwei Jah­re lang war Kidane auf der Flucht. Unter­wegs muss­te er sich in vie­len unter­schied­li­chen Spra­chen ver­stän­di­gen, auf Tig­ri­nya, sei­ner Mut­ter­spra­che, auf Eng­lisch, Grie­chisch und Ara­bisch. Deutsch sprach er nicht. Als er vor knapp drei Jah­ren nach Coer­de kam, ver­stand er kaum ein Wort. Er war sie­ben Jah­re alt und noch nie in sei­nem Leben zur Schu­le gegan­gen. Inzwi­schen besucht er die drit­te Klas­se der Norbert-Grundschule.

Im nächs­ten Jahr muss sei­ne Tan­te ent­schei­den, wie es wei­ter­geht. Eine Mög­lich­keit wäre die Haupt­schu­le Coer­de. Die ande­re wäre, jeden Tag in einen ande­ren Stadt­teil zu fah­ren. Mehr Optio­nen gibt es nicht. Und das ist ein Pro­blem, sagt Jochen Schweit­zer, denn vie­le Kin­der blei­ben so unter ihren Möglichkeiten.

In Müns­ter wech­selt nach der vier­ten Klas­se nur eines von 20 Kin­dern auf die Haupt­schu­le. In Coer­de sind es sie­ben Mal so vie­le. Ein Grund dafür ist: Vie­le Eltern ent­schei­den sich für die ein­fachs­te Lösung, und das ist in die­sem Fall die Schu­le um die Ecke.

Jochen Schweit­zer ist Bil­dungs­exper­te. Und als sol­cher fin­det er, man muss die Din­ge klar benen­nen. Die Haupt­schu­le nennt er „Res­te­schu­le“, und in die­sem Wort steckt nicht sei­ne eige­ne Hal­tung, son­dern die Kri­tik dar­an, wie das Schul­sys­tem funk­tio­niert. „Hier herrscht das Den­ken, dass Aus­le­se etwas ganz Nor­ma­les ist“, sagt Schweit­zer. Und das sieht nicht nur er so. Die meis­ten Bun­des­län­der haben die Haupt­schu­len abge­schafft, ihre Zahl schrumpft seit 2006 ste­tig. Doch Nord­rhein-West­fa­len hält wei­ter am tra­di­tio­nel­len Schul­sys­tem fest.

Grundschule entscheidet über Bildungschancen

In Müns­ter hat sich die Zahl der Anmel­dun­gen an den Haupt­schu­len seit 2009 im Schnitt hal­biert. An den Gesamt­schu­len ist es umge­kehrt. Sie konn­ten nicht mal die Hälf­te der Kin­der auf­neh­men, die sich bewor­ben hatten.

Aber das Pro­blem beginnt nicht erst mit dem Wech­sel zu den wei­ter­füh­ren­den Schu­len. Schon die Wahl der Grund­schu­le ent­schei­de über die Bil­dungs­chan­cen der Kin­der, sagt Schweit­zer. Knapp die Hälf­te der Eltern in Coer­de ent­schie­den sich gleich für eine Schu­le außer­halb des Stadt­teils. Ihre Kin­der haben es spä­ter leich­ter, auch eine wei­ter­füh­ren­de Schu­le in einem ande­ren Stadt­teil zu besu­chen statt der Haupt­schu­le in Coer­de. Das ver­schär­fe die Spal­tung noch mehr.

Jochen Schweit­zer will mit sei­ner Initia­ti­ve ChaCK errei­chen, dass die Stadt die Schu­len in Stadt­tei­len wie Coer­de bes­ser aus­stat­tet. Die Klas­sen sol­len klei­ner sein, Kin­der sol­len fes­te Bezugs­per­so­nen haben, und sie sol­len es nicht nur mit Lehr­per­so­nal zu tun haben, son­dern auch mit Fach­leu­ten aus ande­ren Pro­fes­sio­nen, zum Bei­spiel der Sozi­al­ar­beit – denn es geht ja hier nicht nur um ein Lernproblem.

Eine Mög­lich­keit wären soge­nann­te gebun­de­ne Ganz­tags­schu­len, die den Kin­dern ein sta­bi­les sozia­les Umfeld, pro­fes­sio­nel­le Betreu­ung und ein täg­li­ches Mit­tag­essen bieten.

Ein Bei­spiel dafür ist die Pri­mus-Schu­le in Berg Fidel. Hier wer­den die Kin­der von der ers­ten bis zur zehn­ten Klas­se durch­ge­hend unter­rich­tet. Das macht die Über­gän­ge zwi­schen den ein­zel­nen Klas­sen leich­ter. Auch die Wart­burg-Grund­schu­le in Müns­ter ist eine gebun­de­ne Ganz­tags­schu­le, die inklu­siv, inte­gra­tiv und jahr­gangs­über­grei­fend unter­rich­tet. Das bedeu­tet: Die Kin­der bekom­men die För­de­rung, die sie benö­ti­gen. Wel­che Chan­cen sie auf eine gute Aus­bil­dung haben, soll nicht davon abhän­gen, wie viel ihre Eltern ver­die­nen. In bei­den Schu­len geht es dar­um, Kin­dern fes­te Struk­tu­ren zu geben. Struk­tu­ren, wie Kidane sie bei dem Thea­ter­pro­jekt erlebt hat.

Er hat in dem Stück einen Bären gespielt, sein Freund Aras war der Sohn. Zusam­men ver­such­ten die bei­den, der Löwin das Schrei­ben bei­zu­brin­gen. Wenn Kidane davon erzählt, strah­len sei­ne Augen. Das Tolls­te sei gewe­sen, wie die Leu­te im Publi­kum am Ende applau­diert hät­ten, sagt er. Dann läuft er aus dem Zim­mer und kommt mit einem klei­nen Heft­chen zurück. Dar­in sind Fotos und kur­ze Tex­te vom Thea­ter­pro­jekt. Jochen Schweit­zer hat allen Kin­dern eines geschenkt. Kidane liest seit­dem jeden Abend dar­in. Inzwi­schen kann er es aus­wen­dig. Es ist sein ers­tes Buch. Es ist ein Anfang.

Kidane, Aras und Mari­am hei­ßen eigent­lich anders. Die rich­ti­gen Namen sind der Ver­fas­se­rin des Tex­tes bekannt.

Die Recher­che für die­sen Bei­trag wur­de mit Mit­teln des WPK-Recher­che­fonds gefördert.