„Die Kirche sollte ihre Gebäude an Genossenschaften und Suppenküchen übergeben“

2019 hat Lisa Kötter zusammen mit anderen katholischen Frauen die Protestbewegung Maria 2.0 gegründet. Inzwischen ist sie nicht mehr katholisch und engagiert sich politisch. Ein Interview über Glauben ohne Kirche, Machtfragen und preußische Zustände im Jahr 2023.
INTERVIEW: CONSTANZE BUSCH
LEKTORAT: SVENJA STÜHMEIER
FOTOS: NIKOLAUS URBAN
Frau Kötter, vor zwei Jahren haben Sie im RUMS-Interview gesagt, dass Sie die katholische Kirche von innen heraus verändern möchten. Inzwischen sind Sie ausgetreten. Warum?
Ich habe durch die Arbeit für Maria 2.0 unglaublich viele Briefe und Anrufe von Menschen bekommen, die die römische Kirche zutiefst verletzt hat. Im Laufe der Zeit ist bei mir die Überzeugung gewachsen, dass diese Institution überhaupt nicht reformierbar ist. Deshalb habe ich entschieden, sie zu verlassen.
Warum halten Sie eine Reform für ausgeschlossen?
Eine Reform würde bedeuten, sich zurückzubesinnen. Die Kirche wieder in die Form zu bringen, wie sie einmal gedacht war. Diese Form müsste die jesuanische Spur sein, der Weg, den Jesus vorgegeben und vorgelebt hat. Aber auf dieser Spur hat sich die Kirche nie bewegt. Die römische Kirche ist ein Machtinstrument, eine Maschine, die Macht generiert. Die Diskriminierung und die Verletzungen, die sie Menschen antut, liegen in ihrem Selbstverständnis.

Andrea Voß-Frick, mit der Sie die Bewegung Maria 2.0 initiiert haben, ist fast gleichzeitig mit Ihnen ausgetreten. Wie ist das bei anderen Frauen, die sich bei Maria 2.0 engagieren?
Ich kenne zwar viele, die auch ausgetreten sind. Aber die Mehrheit der Menschen, die sich zu Maria 2.0 zugehörig fühlen, sind noch in der Kirche. Sie sind unzufrieden. Wenn es politisch wird, ziehen sich viele aber doch in die Privatheit ihrer Gemeinden zurück. Sie fordern Veränderungen, akzeptieren aber, dass es bis dahin noch 1.000 Jahre dauern kann und dass die Entscheider in der Kirche immer noch die Kleriker sind. Damit stützen sie das System, das sie eigentlich kritisieren.
Wie passt das mit dem Protest von Maria 2.0 zusammen?
Eine Protestbewegung kann durchaus das System erhalten, gegen das sie sich auflehnt. Für viele ist es erträglicher geworden, in der römischen Kirche zu bleiben, seit es Maria 2.0 gibt. Die Bewegung rebelliert sozusagen stellvertretend. Selbst Bischöfe haben uns anfangs gebeten, weiterzumachen.
Das haben die Bischöfe aber nicht öffentlich gesagt, oder?
Nein. Wir haben sie gefragt, warum sie sich nicht offen äußern. Die Antwort war: Dann sind wir ja die längste Zeit Bischof gewesen.
Haben Sie eine Erklärung dafür, dass so viele unzufriedene Menschen doch in der Kirche bleiben?
Wir diskutieren das bei Maria 2.0 natürlich auch oft. Und ganz ehrlich: Ich kann in diesen Gesprächen das Wort ‚Hoffnung‘ irgendwann nicht mehr hören. Diese Hoffnung auf Veränderungen wird sich einfach nicht erfüllen.
Aber sie hält die Menschen in der Institution.
Ja, die Hoffnung ist ein Grund. Es gibt außerdem eine große Angst vor Radikalität, davor, in Konflikte zu gehen. Diese Angst ist ererbt, wenn man im und mit dem System Kirche aufgewachsen ist. Überhaupt hat Radikalität ja einen schlechten Ruf. Dabei geht es im Wortsinn um die Wurzel – und die Christinnen und Christen sollten sich mal fragen, ob jemals jemand radikaler gedacht hat als Jesus.
Für viele Menschen sind auch ihre persönlichen Wurzeln ein Grund, in der Kirche zu bleiben. Sie fühlen sich darin zu Hause. Haben Sie selbst Ihre geistliche Heimat verloren, als Sie die Institution verlassen haben?
Ich würde nicht sagen, dass ich eine Heimat hinter mir gelassen habe, aber durchaus meine religiöse Verwurzelung. Wenn ich irgendwo auf der Welt in eine katholische Kirche gehe, kann ich den Raum und die Objekte darin lesen. Alles ist sehr vertraut und ich verstehe, dass es schwer ist, das zu verlassen. Ich habe mich davon gelöst und einen direkteren Draht zu Gott gesucht. Den habe ich auch gefunden – aber ich fühle mich jetzt nicht unbedingt geborgener.

Besuchen Sie noch Gottesdienste?
Wir haben in unserer Maria-2.0-Gruppe eine spirituelle Ebene gefunden. Wir treffen uns alle zwei Wochen. Manchmal singen und beten wir, manchmal reden wir uns die Köpfe heiß. Beides ist für mich Gottesdienst.
Aber Sie feiern nicht mehr in Gemeinden der Amtskirche mit?
Nein, ich kann nicht mehr in eine römische Messe gehen und schon gar nicht die Eucharistie mitfeiern. Dieses Sakrament ist eine solche Machtdemonstration. Der Priester dürfte mich ja davon ausschließen, weil ich ausgetreten bin. Und überhaupt, da steht dieser Mann in einem römischen Gewand vorne am Altar, an einem Opferstein, und sagt: ‚Jesus ist für dich gestorben, also sei artig.‘ Das hält die Menschen klein.
Was wäre denn richtig – ‚Jesus ist für dich gestorben, also bist du frei‘?
Nein! Jesus hat für mich gelebt, deshalb bin ich frei. Die Voraussetzung für meine Freiheit ist nicht sein leidvoller Tod. Was wäre das für ein Gott, der das bräuchte? Wir sollen einfach nur das Brot teilen.
Und machen Sie das, feiern Sie außerhalb der Kirche das Abendmahl?
Wir teilen bei unseren Treffen von Maria 2.0 immer Wein und Brot. Aber es geht ja nicht nur um eine solche Feier, sondern darum, das Leben zu teilen und für jeden Menschen das Beste zu suchen. Gottesdienst ist Menschendienst. Wir müssen gemeinsam auf der Suche sein, lebendig und beweglich bleiben.

Wonach suchen Sie, wenn es nicht mehr die Reform der Kirche ist?
Mein Engagement ist eine spirituell-politische Arbeit geworden. Ich frage mich: Wie kann die jesuanische Spur uns heute helfen, als Gesellschaft einen guten Weg zu finden? Wir müssen ja auf die Demokratie aufpassen. Und ich möchte den Staat fragen, warum er ein System wie die Kirche innerhalb der Demokratie zulässt. Diese riesige Institution bewegt sich in einer Parallelwelt, sie hat zum Beispiel ein eigenes Arbeitsrecht. Gleichzeitig bekommt die Kirche immer noch sehr viel Geld vom Staat. Warum greift die Politik da nicht ein?
Haben Sie selbst eine Antwort auf diese Frage?
Die Kirche nimmt dem Staat viel Bürokratie und Verwaltung ab. Sie stellt Räume für ehrenamtliche Arbeit, zum Beispiel die Tafeln. Wenn der Staat das alles selbst übernehmen müsste, hätte er ganz schön was an den Hacken. Und es würde ihn sehr viel Geld kosten, wenn er all das bezahlen müsste, was jetzt ehrenamtlich geleistet wird. Die Kirche hat auch die organisatorische Trägerschaft für viele Kindergärten und Schulen, allerdings übernimmt der Staat fast die kompletten Kosten. Trotzdem darf die Kirche in den Einrichtungen ihr eigenes Arbeitsrecht anwenden, im Jahr 2023 – wir sind doch nicht mehr in Preußen!
Sie haben im vergangenen Jahr ein Buch veröffentlicht, zusammen mit Maria Mesrian, die sich ebenfalls bei Maria 2.0 engagiert. Es heißt „Entmachtet diese Kirche und gebt sie den Menschen zurück“. An wen richten Sie diese Forderung?
An den hohen Klerus, also an diejenigen, die sich die Entscheidungsgewalt herausnehmen. Der Titel ist eine Aufforderung zur Besinnung. Aber das ist natürlich eine Utopie.
Sie wollen die Institution Kirche aber ja nicht reformieren. Was genau sollen die Menschen denn da zurückbekommen?
Den ganzen materiellen Besitz: die Gebäude und das Geld.
Was würden Sie mit den Gebäuden machen?
In den Städten gibt es heute so gut wie keinen konsumfreien Raum mehr, wo man sich treffen und aufhalten kann, ohne etwas zu bezahlen. Die Kirchen haben Räume in den besten Lagen. Sie sollten sie öffnen für die Menschen, die sie brauchen. Wohnungsnot und Familien, die sich ihren Lebensunterhalt kaum leisten können, all das gehört in die Mitte. Ein Beispiel aus Münster: Das bischöfliche Priesterseminar Borromaeum am Domplatz hat etwa so viele Quadratmeter wie das Schloss. Von all diesem Raum hat es ganze vier Zimmer abgegeben für wohnungslose Männer, die Arbeit haben. Ich finde, das ist nicht mehr als ein Feigenblatt. Die Kirche sollte alle ihre Gebäude an Genossenschaften und Suppenküchen übergeben, damit sie den Menschen dienen können. Damit würde sie Jesus Ideen ernst nehmen und etwas Relevantes tun, nämlich Not wenden.

Sie schreiben in Ihrem Buch, „Frauen müssen die Machtfrage stellen.“ Müssen das nicht auch Männer tun, die keine Priester sind?
Bei Machtfragen geht es ja um die Berechtigung von Regeln. Danach müssten tatsächlich alle sogenannten Laien fragen, aber Frauen ganz besonders. Sie sind qua Geschlecht von der Macht innerhalb der Kirche ausgeschlossen, und ihnen steckt das patriarchale System in den Knochen. Deshalb handeln sie oft zum eigenen Nachteil und zum Nachteil ihrer Schwestern. Männer hätten wenigstens theoretisch die Möglichkeit, Macht zu ergreifen, indem sie Priester werden. Frauen nicht. Sie gelten qua Geschlecht als unrein. Eine menstruierende Frau hinter dem Altar, das wäre für die römische Kirche unvorstellbar.
Warum eigentlich?
Ich denke, man muss den Ursprung solcher Tabus im historischen Kontext sehen. Die Menschen wussten früher nicht, ob mit der Menstruation etwas Giftiges kommt oder die Frauen vielleicht krank sind. Deshalb haben sie ein Tabu daraus gemacht. Heute wissen wir es besser. Aber das ist wie beim Thema Sexualität. Die Kirche übernimmt den neuen Wissensstand nicht in ihre Lehre, sondern missbraucht weiterhin die archaischen Ansichten, um zum Beispiel Frauen und homosexuelle Menschen zu diskriminieren. Die Kleriker stehen vor der Gemeinde und lesen vor, dass Gott alles erschaffen hat und sah, dass es gut ist. Gleichzeitig schmähen sie aber, was ihnen an der Schöpfung nicht in den Kram passt.
Wenn Menschen jetzt anfangen möchten, die Machtfrage zu stellen: Was könnten sie tun?
Sie könnten innerhalb ihrer Gemeinde überlegen, was sie für die Menschen in ihrer Umgebung tun können. Und sich fragen: Wie wollen sie leben? Wie demokratisieren sie hier vor Ort ihre Gemeinde? Welche Räume ihrer Kirche könnten sie öffnen für Kleiderkammern und Suppenküchen oder einfach, um für andere da zu sein? Der Klerus sollte die Schlüssel abgeben. Es ist alles da, wir haben alles. Wir sollten es teilen.
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