Raus aus Kiew | Geschichte einer Flucht | La Costanera

Müns­ter, 25. März 2022

Guten Tag,

stel­len Sie sich vor: Sie lie­gen mit Ihrem Part­ner oder Ihrer Part­ne­rin schla­fend im Bett und plötz­lich klin­gelt das Tele­fon. Dem Wecker nach zu urtei­len ist es fünf Uhr in der Früh. Ihre Schwie­ger­mut­ter ist dran. „Der Krieg ist da”, sagt sie nur. Dann geht alles ganz schnell.

So beginnt die Geschich­te von And­re und Mari­ia Gro­tens Flucht aus der ukrai­ni­schen Haupt­stadt Kiew nach Müns­ter. Die­se Geschich­te möch­te ich Ihnen heu­te erzäh­len. Aber ich möch­te Ihnen auch die Geschich­te von And­re und Mari­ia Gro­ten erzählen.

Sie beginnt im Som­mer 2020.

And­re Gro­ten hat nach zwei Jah­ren sei­nen Job in einer Ham­bur­ger Mar­ke­ting­agen­tur gekün­digt. Vor sei­nem Stu­di­um in Osna­brück hat er mit sei­ner Fami­lie in Sen­den gelebt. Müns­ter war damals sein sozia­les Zen­trum: An der Hil­de­gar­dis­schu­le hat er Abitur gemacht, an den Wochen­en­den ist er mit sei­nen Freund:innen durch die Bars und Dis­ko­the­ken am Hawerk­amp gezogen.

Doch bevor sich er nach einem neu­en Job umsieht, braucht er erst ein­mal eine Pau­se. Also ruft er Goog­le Flights auf: Wel­che Flü­ge sind gera­de güns­tig? Wo sind die Coro­na-Ein­schrän­kun­gen ok? Wo war er noch nicht?

Sei­ne Ent­schei­dung fällt auf Kiew. Drei Mona­te kann er ohne Visum dort­hin rei­sen. Er bucht ein Hos­tel und fliegt los.

Nach einem Jahr die Hochzeit

In Kiew ste­hen die gän­gi­gen Tou­ris­ten­at­trak­tio­nen auf dem Plan: Er erkun­det Muse­en, den his­to­ri­schen Teil Tscher­no­byls – ihn inter­es­siert vor allem die Geschich­te der Ukrai­ne. Dann trifft er Mari­ia, auf einer ein­schlä­gi­gen Dating-App, wie er es nennt, und grinst.

Die bei­den ver­ste­hen sich auf Anhieb. Mari­ia zeigt ihm Kiew aus der Sicht einer Ein­hei­mi­schen. „Wir sind an dem Tag – das weiß ich noch ganz genau, weil mei­ne Füße so unglaub­lich weh taten – ich glau­be, 25.000 Schrit­te gegan­gen. Das waren knap­pe 20 Kilo­me­ter”, erin­nert er sich.

Nach einem Jahr Fern­be­zie­hung hei­ra­ten die bei­den. Er zieht von Deutsch­land zu ihr, nach Kiew.

Wäh­rend And­re Gro­ten mir die Geschich­te ihres Ken­nen­ler­nens erzählt, sitzt er in sei­ner neu­en Woh­nung. Erst waren sie nach Müns­ter geflo­hen, dann fan­den sie die Woh­nung bei Bremen. 

Ich fra­ge ihn, wie es sich für ihn anfühlt, an die­se Zeit zurück­zu­den­ken. Eine Zeit, in der in Kiew noch kein Krieg herrschte. 

„Trau­rig”, ant­wor­tet er und hält inne. „Es war zuletzt mein Zuhau­se. Dort war unser Lebens­mit­tel­punkt. Dann wur­den wir ver­trie­ben und muss­ten flüchten.”

Nach dem Anruf von Mari­i­as Mut­ter am 24. Febru­ar, dem Tag, an dem die ers­ten Rake­ten der rus­si­schen Armee ihre Zie­le in der Ukrai­ne tra­fen, sei alles wie im Film gewe­sen, erzählt Groten.

Sein ers­ter Gedan­ke ist: raus. Nur wie? „Ich als ein­fäl­ti­ger deut­scher Euro­pä­er, der davon aus­geht, dass alles, auch im Krieg, geord­net abläuft, habe erst­mal nach Flü­gen geguckt”, sagt Gro­ten. Doch es flie­gen kei­ne mehr.

Es bleibt ein Ausweg

Der Flug­ha­fen wer­de bom­bar­diert, hören sie. Ande­re sagen, rus­si­sche Sepa­ra­tis­ten hät­ten den Flug­ha­fen bela­gert, um für Unru­he zu sorgen.

Dann wol­len sie mit der U-Bahn zum Haupt­bahn­hof, um dort einen Zug nach Wes­ten zu neh­men. Doch das Mili­tär hat schon alles abge­rie­gelt. Sie ent­schei­den sich, zu Mari­i­as Zwil­lings­schwes­ter zu fah­ren. Sie lebt etwa zwölf Kilo­me­ter ent­fernt mit ihrem Mann und ihrem Baby in einem Vorort.

Ein paar Sta­tio­nen kön­nen sie mit der U-Bahn fah­ren. Sie sind Teil eines Stroms. Die Leu­te ver­las­sen flucht­ar­tig die Stadt. Als es nicht wei­ter­geht, ver­su­chen sie zu tram­pen. Lan­ge nimmt sie nie­mand mit, dann wer­den sie doch zur nächs­ten Bus­hal­te­stel­le gefah­ren. Die letz­ten zwei Kilo­me­ter zu Mari­i­as Schwes­ter lau­fen sie.

Im Kel­ler des Hau­ses bespre­chen sie sich: Wie geht es wei­ter? Gemein­sam ver­su­chen sie, die Lage zu ord­nen, aber alles geht drun­ter und drü­ber. Sie wis­sen nicht, wie sie sich ohne Auto bewe­gen sol­len. Vor allem wis­sen sie nicht, wo es sicher ist. Sie ent­schei­den sich dafür, bis auf Wei­te­res bei Mari­i­as Schwes­ter zu blei­ben. Bis sie einen Aus­weg fin­den. Also gehen sie zum Super­markt und decken sich ein. Es ist schon Nach­mit­tag; der ers­te Ansturm vom Mor­gen ist abge­ebbt. Sie besor­gen das Nötigs­te: Was­ser, Lebens­mit­tel, Win­deln, Babynahrung.

Engagement in Münster: Unsere Interviews aus der RUMS-Hütte zum Nachlesen

#12 Weit­blick

In den letz­ten Wochen haben wir Ihnen in unse­rer Rei­he Enga­ge­ment in Müns­ter zahl­rei­che Men­schen vor­ge­stellt, die sich in der Stadt enga­gie­ren. Heu­te schal­ten wir das letz­te Inter­view aus die­ser Rei­he für Sie frei. Dar­in hat Eva Streh­l­ke mit Helen Schlü­ter von der Stu­die­ren­den­in­itia­ti­ve Weit­blick Müns­ter dar­über gespro­chen, war­um sie sich für gerech­te­re Bil­dungs­chan­cen ein­setzt und was man beim Schul­bau in Ben­in alles ler­nen kann. Das Inter­view fin­den Sie hier.

Wenn Sie eins unse­rer Inter­views ver­passt haben soll­ten oder wenn Sie sich über eine der Orga­ni­sa­tio­nen noch ein­mal infor­mie­ren möch­ten: Unse­re zwölf Inter­views sowie alle wich­ti­gen Infor­ma­tio­nen zu unse­ren Gesprächspartner:innen und deren Enga­ge­ment fin­den Sie auf die­ser Sei­te.

Aber lan­ge blei­ben kön­nen sie nicht. Es ist zu gefähr­lich, zu nah an der Haupt­stadt. Nach zwei Tagen bei der Schwes­ter ler­nen Mari­ia und And­re Gro­ten die Nach­ba­rin ken­nen. Sie hat ein Auto und kennt jeman­den mit einem zwei­ten. Weil ihr Mann beim Mili­tär ist und halb­wegs gesi­cher­te Infor­ma­tio­nen dar­über geben kann, wo es weni­ger gefähr­lich ist, fah­ren sie nach Süden zu einer Bekann­ten der Nach­ba­rin. Zwölf Men­schen, zwei Autos, zwei­hun­dert Kilo­me­ter, acht Stunden.

Das End­ziel ist noch immer nicht klar. Ich fra­ge And­re Gro­ten, ob sie von Beginn an nach Deutsch­land woll­ten. „Für mich war das klar, aber Mari­ia hat­te Beden­ken”, sagt er. Die Män­ner aus ihrer Fami­lie dür­fen das Land nicht ver­las­sen. Wegen des Kriegs­ge­set­zes. Die Frau­en aus ihrer Fami­lie wol­len nicht ohne sie das Land verlassen.

Ihre Zwil­lings­schwes­ter zurück­zu­las­sen fällt Mari­ia Gro­ten beson­ders schwer. And­re muss sie über­zeu­gen. Sie müs­sen in Sicher­heit kom­men. Vor sei­nem inne­ren Auge sieht er die EU-Gren­ze. So weit müs­sen sie es schaffen.

Auf ihrer acht­stün­di­gen Fahrt Rich­tung Süden kom­men sie immer wie­der an bewaff­ne­ten Soldat:innen und Bür­ger­weh­ren vor­bei. „Das war alles sur­re­al für mich, Leu­te mit offe­nen Waf­fen auf der Stra­ße zu sehen. Und das waren ja auch kei­ne klei­nen Kali­ber”, erin­nert sich Groten.

An ihrem Ziel, einem klei­nen Dorf mit knapp 12.000 Einwohner:innen, wer­den sie von der Bekann­ten der Nach­ba­rin in Emp­fang genom­men. Sie schla­fen zu zwölft in einem Zim­mer, Mari­ia und And­re auf dem Boden, die Fami­li­en mit den Kin­dern in den Betten.

Nächste Station: Winnyzja

Am nächs­ten Mor­gen wol­len sie wei­ter nach Wes­ten. Aber das Kind der Nach­ba­rin ist krank. Es hat sich über­ge­ben. Schon am Vor­abend muss­ten sie es ins Kran­ken­haus bringen. 

Die Fami­lie kann And­re und Mari­ia Gro­ten nicht mehr mit­neh­men. Sie brau­chen den Platz für ihr kran­kes Kind. Aber wo sich eine Auto­tür schließt, öff­net sich manch­mal eine ande­re. Der Fah­rer des zwei­ten Autos bie­tet ihnen an, sie mit nach Win­nyz­ja mit­zu­neh­men. „Von dort aus könnt ihr euch wei­ter zur Gren­ze durch­kämp­fen”, sagt er. Sie neh­men das Ange­bot an.

Sie ver­ab­schie­den sich von ihren Helfer:innen und Ver­trau­ten. Der Abschied von Mari­i­as Fami­lie fällt ihnen unglaub­lich schwer.

Auf der Flucht nach Win­nyz­ja tele­fo­niert Mari­ia Gro­ten mit all ihren Ver­wand­ten und Bekann­ten. Dann erreicht sie ihre Deutsch­leh­re­rin. Auch And­re kennt die Frau. Er lernt bei ihr Rus­sisch. Seit einem knap­pen Jahr unter­rich­tet sie die bei­den online. Jetzt ist sie auch auf der Flucht nach Win­nyz­ja. Sie bie­tet ihnen an, sie dort zum Bahn­hof zu fah­ren. Von dort fah­ren noch Züge nach Polen. Zumin­dest haben sie das gehört. Doch als sie ankom­men, fah­ren kei­ne Züge mehr. Die Deutsch­leh­re­rin und ihr Freund bie­ten den bei­den an, sie in ein Hotel zu beglei­ten. Win­nyz­ja gilt zu die­sem Zeit­punkt als rela­tiv sicher, das Hotel ist noch in Betrieb.

Es geht an die Substanz

Inzwi­schen gibt es noch ein wei­te­res Pro­blem: Mari­ia geht es schlecht. Sie hat hohes Fie­ber und braucht Medi­ka­men­te. Ihre Deutsch­leh­re­rin hat Tablet­ten dabei. Fürs Ers­te hel­fen sie.

Doch auch in Win­nyz­ja ist es bald nicht mehr sicher. Schon am nächs­ten Mor­gen geht es wei­ter. Die­ses Mal nach Nor­den, in ein noch klei­ne­res Dorf. Wie­der machen Gerüch­te die Run­de. Win­nyz­ja soll bom­bar­diert wer­den, so erzählt man es sich. Nur Tage spä­ter wird sich her­aus­stel­len: Die Gerüch­te stimmten.

In dem klei­nen Dorf im Nor­den set­zen Mari­ia und And­re Gro­ten sich in ein Café. Wie­der lau­tet die Fra­ge: Wie geht es wei­ter? Die Deutsch­leh­re­rin wird sie nicht mehr wei­ter mit­neh­men kön­nen. Wie vie­le ande­re will sie das Land nicht ver­las­sen. Sie möch­te bei ihrem Freund bleiben. 

Hin­zu kommt: Mari­i­as Zustand wird immer schlech­ter, die bei­den müs­sen wei­ter. Es ist zu gefähr­lich zu war­ten, bis sich ihr Zustand bes­sert. „Ich habe nur noch funk­tio­niert”, sagt Gro­ten. Mitt­ler­wei­le sind sie seit fünf Tagen auf der Flucht.

Im Café früh­stü­cken sie. Seit ihrer Flucht aus Kiew haben sie kaum etwas geges­sen. Es gibt Kar­tof­fel­brei, Kote­lett und Borscht, eine Gemü­se­sup­pe mit roter Bete.

Mit dem Fernbus nach Moldawien

Nach dem Essen blei­ben sie noch zwei Stun­den dort sit­zen. Sie wis­sen nicht wei­ter. Dann kommt eine Nach­richt von Mari­i­as Vater. Er hat sich als Frei­wil­li­ger beim Mili­tär gemel­det, um das loka­le Kran­ken­haus zu beschüt­zen. Bei­na­he rund um die Uhr wird er, schwer bewaff­net, den Ein­gang zum Kran­ken­haus sichern.

„Da kam es über mich. Da bin ich zusam­men­ge­bro­chen”, erzählt Gro­ten. Was er und Mari­ia die letz­ten fünf Tagen erlebt haben, ist emo­tio­nal nicht mehr zu fassen.

Aber sie müs­sen wei­ter. Sie spre­chen mit Passant:innen, den Besitzer:innen des Cafés, sie ver­su­chen, einen neu­en Plan zu machen. Vom Bus­bahn­hof aus wol­len sie mit dem Fern­bus nach Mol­da­wi­en. Doch dort erwar­tet sie die nächs­te Ent­täu­schung: Der Bus­bahn­hof ist so sehr von Flüch­ten­den über­füllt, dass nichts zu machen ist. Sie brau­chen einen neu­en Plan. Schon wie­der. Zu die­sem Zeit­punkt tren­nen sie noch 60 Kilo­me­ter von der mol­da­wi­schen Grenze.

Sie stel­len sich an den Rand einer Stra­ße und stre­cken die Dau­men raus. Ihre letz­te Opti­on ist dar­auf zu hof­fen, dass sie jemand mit­nimmt. Tat­säch­lich hält irgend­wann ein VW-Bul­li an. In ihm sitzt ein älte­rer Mann, der gegen Geld Men­schen zur Gren­ze bringt. Ein gutes Geschäft für ihn. 14 Per­so­nen fah­ren in dem Sechs­sit­zer mit. Doch es geht nicht wie ver­spro­chen zur Gren­ze, son­dern zum nächs­ten Militärposten. 

Dort blei­ben sie ste­hen, ohne zu wis­sen, was los ist. Als der Bul­li nach vier Stun­den end­lich wie­der los­fährt, erfah­ren Mari­ia und And­re, dass die Fahrt im nächs­ten Dorf enden wird. Der Fah­rer des Bul­lis emp­fiehlt ihnen, für die letz­ten 30 Kilo­me­ter zur mol­da­wi­schen Gren­ze ein Taxi zu nehmen.

Die letzten Meter laufen sie

Sie fin­den eins. Der Taxi­fah­rer hat sei­nen alten Renault mit reli­giö­sen Iko­nen und Got­tes­bil­dern deko­riert. Als sie sich der Gren­ze nähern, sehen sie den kilo­me­ter­lan­gen Stau. Der Fah­rer über­holt ihn von links. Im Vor­bei­fah­ren betrach­tet And­re Gro­ten die war­ten­den Autos. „Da stand der dicke Por­sche zusam­men mit dem Opel Cor­sa in der Rei­he. So ein Krieg macht alle Men­schen gleich.”

Der Taxi­fah­rer lässt sie an einer Tank­stel­le raus. Die letz­ten andert­halb Kilo­me­ter bis zur Gren­ze lau­fen sie.

Und dann haben sie es geschafft. Sie sind in Sicher­heit, aber ihre Flucht ist noch nicht zu Ende.

Auf der ande­ren Sei­te tref­fen sie einen ande­ren Taxi­fah­rer. Er habe da einen Kol­le­gen, der sie nach Deutsch­land brin­gen kön­ne, sagt der Mann. Ihre drei­stün­di­ge Taxi­fahrt endet an einer Auto­bahn. Dort steht ein Bus, der mol­da­wi­sche Arbeiter:innen nach Deutsch­land bringt. And­re und Mari­ia Gro­ten sind die ein­zi­gen Flüch­ten­den. Mit dem Bus geht es an die rumä­ni­sche Gren­ze, dort ste­hen sie wie­der sechs Stun­den, bis sie die Fahrt end­lich fortsetzen.

Wäh­rend sie nachts Rumä­ni­en durch­que­ren, schneit es pau­sen­los. Vor ihnen räumt ein Schnee­mo­bil die engen Ser­pen­ti­nen frei, 30 Kilo­me­ter die Stun­de. Die bei­den Bus­fah­rer wech­seln sich ab; alle hal­be Stun­de hal­ten sie an, um Ziga­ret­ten zu rau­chen. „Das war schreck­lich”, sagt Andre.

Auf der Fahrt ver­schlech­tert sich Mari­i­as Gesund­heits­zu­stand immer wei­ter. Sie glüht vor Fie­ber und über­gibt sich vie­le Male. Sie fah­ren kreuz und quer durch Rumä­ni­en und Tsche­chi­en. Dabei sam­meln sie neue Mitfahrer:innen ein oder set­zen Men­schen ab. In Prag holt der Bus­fah­rer eine Tasche ab. Als sie die Gren­ze nach Deutsch­land über­que­ren, geht die absur­de Fahrt wei­ter durch Baden-Würt­tem­berg, wei­ter nach Frank­furt und Erfurt. Dann, nach zwei­ein­halb Tagen im Bus, kom­men sie end­lich an – bei And­re Gro­tens Mut­ter und ihrem Freund in Senden.

Die Supermärkte sind leer

Als Ers­tes machen sie einen Coro­na-Test. Mari­i­as Ergeb­nis ist posi­tiv. So geht es nach einer Woche Flucht wei­ter mit zehn Tagen Qua­ran­tä­ne. Trotz­dem sind sie erleich­tert. „Wir waren zu Hau­se, und wir waren sicher”, sagt Groten.

Nach Bre­men kom­men sie, weil dort ein Kol­le­ge von And­re Gro­ten lebt. In sei­nem Haus war die Ein­lie­ger­woh­nung frei. Dort sitzt er nun am Schreib­tisch vor sei­nem Com­pu­ter, wäh­rend er ihre Geschich­te erzählt. 

Ihre alte Woh­nung in Kiew steht zum Zeit­punkt unse­res Gesprächs noch. And­re Gro­ten hat vor Kur­zem mit dem Ver­mie­ter gespro­chen. Er hat ihm gesagt, er sol­le sich das Obst und Gemü­se aus der Woh­nung holen. Der Mann war dank­bar. Fri­sches hat­te er schon lan­ge nicht mehr auf dem Tisch. Die Obst- und Gemü­se­ab­tei­lun­gen in den Super­märk­ten sind leer.

Mitt­ler­wei­le arbei­ten And­re und Mari­ia Gro­ten wie­der. Sie haben bei­de Jobs in der IT-Bran­che und sind im Home­of­fice. Mehr um eine Beschäf­ti­gung zu haben, als wirk­lich pro­duk­tiv zu sein, erzählt Groten. 

Am Wochen­en­de hel­fen sie And­res Kol­le­gen im Gar­ten: Sie legen Bee­te an, mähen den Rasen. Mari­ia pflanzt Stief­müt­ter­chen. Sie ver­su­chen sich abzu­len­ken, ein Stück weit in die Nor­ma­li­tät zurück­zu­keh­ren. „Nor­ma­li­tät in Anfüh­rungs­zei­chen”, ergänzt Gro­ten. Nie­mand kön­ne sich vor­stel­len, wie es einem nach sol­chen Erleb­nis­sen geht. Nie­mand, der es nicht selbst erlebt hat.

Mit Geld. Spenden Sie.”

Zu ihrer neu­en Nor­ma­li­tät gehö­ren auch die vie­len Tele­fo­na­te. Mehr­mals täg­lich rufen sie Mari­i­as Fami­lie an: das ers­te Mal direkt nach dem Auf­ste­hen, das letz­te Mal vor dem Schla­fen­ge­hen. Mari­i­as Zwil­lings­schwes­ter ist zusam­men mit ihrem Mann und ihrer klei­nen Toch­ter wei­ter in die Regi­on Dni­pro­pe­trowsk geflo­hen. Dort leben ihre Eltern und die Eltern ihres Man­nes in einer Stadt, die etwas klei­ner als Müns­ter ist. Im April wird Mari­i­as Nich­te Nika ein Jahr alt. Mari­i­as Vater steht noch immer bewaff­net vor dem loka­len Krankenhaus.

Nach andert­halb Stun­den ist unser Gespräch been­det und damit auch die Geschich­te von der Flucht der Gro­tens. Obwohl es ihn emo­tio­nal aus­laugt, die Geschich­te immer wie­der zu erzäh­len, wenn Freund:innen, Kolleg:innen oder Ver­wand­te danach fra­gen, ist es ihm wich­tig. Auf mei­ne Fra­ge, wie die Münsteraner:innen am bes­ten den Geflüch­te­ten und zurück­ge­blie­be­nen Men­schen hel­fen kön­nen, ant­wor­tet er: „Mit Geld. Spen­den Sie.”

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Korrekturen und Ergänzungen

Im RUMS-Brief vom Diens­tag haben wir über Raz­zi­en in Müns­ter im Zusam­men­hang mit Hass­kri­mi­na­li­tät im Inter­net berich­tet. In einer ers­ten Ver­si­on des Brie­fes hieß es, zwei Drit­tel der Beschul­dig­ten sei­en Frau­en. Das stimmt nicht, das Gegen­teil ist der Fall: Zwei Drit­tel der Opfer sind Frau­en. Auf die­sen Feh­ler hat uns eine Lese­rin auf­merk­sam gemacht und wir haben ihn berichtigt.

Außer­dem schrie­ben wir, dass die Stadt in der Hal­le Müns­ter­land eine Not­un­ter­kunft für geflüch­te­te Ukrainer:innen ein­rich­tet. Das ist so nicht rich­tig. Hilfs­kräf­te der Stadt hel­fen beim Auf­bau, aber es ist eine Unter­kunft des Landes.

Und wenn ein­mal der Wurm drin ist: In einer Ankün­di­gung am Diens­tag stand eine fal­sche Uhr­zeit. Die Ver­an­stal­tung „Mobi­li­täts­wen­de fürs Müns­ter­land – Boos­ter für den Bus­ver­kehr” mor­gen in der Gesamt­schu­le Mit­te beginnt um 10.15 Uhr. Und zur Sicher­heit noch mal: um 10.15 Uhr. Genaue­res hier.

In aller Kürze

Die Bezirks­ver­tre­tung Mit­te hat am Diens­tag­abend über eini­ges bera­ten und abge­stimmt. Hier das Wich­tigs­te in Kürze:

+++ Schon bald sol­len die Vor­ar­bei­ten zur Neu­ge­stal­tung am Bre­mer Platz begin­nen. Aber ein wich­ti­ges Detail ist noch immer nicht geklärt: die Sache mit den Fahr­rad­stell­plät­zen. Die braucht es vor allem für die Berufspendler:innen. Doch schon letz­tes Jahr war klar, dass die gewünsch­ten 400 Stell­plät­ze nicht auf den Bre­mer Platz pas­sen. Dafür ist er zu klein. Aus 400 wur­den 170. Die Bezirks­ver­tre­tung sprach sich am Diens­tag aber gegen die Stell­plät­ze aus. Die dafür benö­tig­te Flä­che auf dem Bre­mer Platz soll nicht ver­sie­gelt wer­den. Sie for­dert, die 170 Stell­plät­ze woan­ders zu bau­en und Platz für die rest­li­chen 230 Plät­ze zu fin­den. Jetzt liegt der Ball bei der Stadtverwaltung.

+++ Im RUMS-Brief vom 15. März hat Ralf Heimann die Ver­kehrs­ver­su­che bilan­ziert. Ein Ergeb­nis: Dank der durch­gän­gi­gen Bus­spur zwi­schen Lud­ge­rik­rei­sel und Lan­des­haus spa­ren die Bus­se an Werk­ta­gen 4 Stun­den und 20 Minu­ten. Zu den befürch­te­ten Staus war es wäh­rend des Ver­suchs nicht gekom­men. Jetzt soll der Ver­kehrs­ver­such ver­ste­tigt wer­den: Die durch­gän­gi­ge Bus­spur soll blei­ben, dann aller­dings mit wei­ßen statt gel­ben Ver­kehrs­strei­fen. Die end­gül­ti­ge Ent­schei­dung trifft der Ver­kehrs­aus­schuss am 30. März.

+++ Am Aasee war letz­ten Som­mer eini­ges los, Sie erin­nern sich viel­leicht. Um dem Müll­pro­blem Herr zu wer­den, hat­te die Stadt­ver­wal­tung ein Glas- und Grill­ver­bot geplant, das wol­len auch die Abfall­wirt­schafts­be­trie­be. Die Bezirks­ver­tre­tung sieht das anders: Sie hat sich sich am Diens­tag gegen ein Ver­bot aus­ge­spro­chen. Das wür­de den Müll nicht ver­mei­den, son­dern ihn ledig­lich auf ande­re Grün­flä­chen ver­la­gern. Ob das Ver­bot kommt, ist noch nicht klar. Den Vor­schlag dis­ku­tie­ren kom­men­de Woche der Ord­nungs- und Umwelt­aus­schuss. Im Mai ent­schei­det der Rat darüber.

+++ Kom­men wir von der Bezirks­ver­tre­tung zu einer ande­ren Mel­dung. Nach­dem in kür­zes­ter Zeit vie­le Ukrainer:innen nach Müns­ter geflüch­tet sind, kom­men aktu­ell weni­ger Men­schen hier an. Das mel­den die West­fä­li­schen Nach­rich­ten. Trotz­dem sei man auf jede Mög­lich­keit ange­wie­sen, Geflüch­te­te unter­zu­brin­gen, mel­det die Stadt in einer Pres­se­mit­tei­lung. Aktu­ell berei­te man die Repa­ra­tu­ren in der Blüch­ner-Kaser­ne vor. In weni­gen Wochen sol­len dort 600 Men­schen ein­zie­hen können.

Corona-Update

+++ Die Zahl der Coro­na-Infi­zier­ten in Müns­ter hat inzwi­schen einen fünf­stel­li­gen Wert erreicht: Laut dem Gesund­heits­amt sind momen­tan 11.920 Per­so­nen nach­weis­lich mit dem Coro­na­vi­rus infi­ziert. 92 Covid-Patient:innen wer­den im Kran­ken­haus behan­delt, acht lie­gen auf der Inten­siv­sta­ti­on und vier wer­den beatmet. Laut dem WDR sind 91 Pro­zent aller Inten­siv­bet­ten in Müns­ter zur­zeit ausgelastet.

+++ Auch die Sie­ben-Tage-Inzi­denz liegt auf hohem Niveau: In der ver­gan­ge­nen Woche haben sich im Schnitt 2.337 Men­schen pro 100.000 Einwohner:innen in Müns­ter infi­ziert. Das ist die dritt­höchs­te Wochen­in­zi­denz in Nord­rhein-West­fa­len. Nur im Kreis Coes­feld und Min­den-Lübb­ecke sind die Fall­zah­len höher. Kri­sen­stabs­lei­ter Wolf­gang Heu­er mahnt des­halb in einer Pres­se­mit­tei­lung der Stadt zur Vor­sicht: Noch nie sei die Wahr­schein­lich­keit, sich anzu­ste­cken, so groß gewe­sen wie im Moment.

+++ Das dürf­te auch der Grund sein, wes­halb wie­der mehr Schüler:innen feh­len: Wie das Schul­mi­nis­te­ri­um mit­teilt, konn­ten letz­te Woche 1.668 Schüler:innen an 72 Schu­len in Müns­ter coro­nabe­dingt nicht am Unter­richt teil­neh­men. Und es fal­len auch wie­der mehr Lehrer:innen aus: 158 konn­ten letz­te Woche nicht arbei­ten, weil sie wegen Infek­ti­on oder als Kon­takt­per­son in Qua­ran­tä­ne saßen.

Unbezahlte Werbung

Ein in mund­ge­rech­te Wür­fel geschnit­te­nes rohes Rot­barsch­fi­let, rote Chi­li, Kori­an­der und Limet­ten­saft – das sind die weni­gen Zuta­ten, die der Koch des La Cos­ta­ne­ra an der Berg­stra­ße zu einer oder einem Cevi­che ver­ar­bei­tet (im Duden ste­hen tat­säch­lich „der”, „die” und „das” als mög­li­che Arti­kel). Die Säu­re der Zitrus­frucht gart in gewis­ser Wei­se den Fisch: sie dena­tu­riert des­sen Eiweiß­be­stand­tei­le. Dazu gibt es Can­cha, eine Art gerös­te­tes Pop­corn aus Mais und Süß­kar­tof­fel. Auch die rest­li­che abwechs­lungs­rei­che Kar­te ist süd­ame­ri­ka­nisch mit einem star­ken perua­ni­schen Schwer­punkt. Vor dem Essen – oder auch danach – ist zudem der „Pis­co Sour” zu emp­feh­len, ein Drink, der sei­nen Namen dem Natio­nal­ge­tränk Perus verdankt.

Drinnen und Draußen

+++ Am Sonn­tag knallt’s. Und zwar in der Frau­en­stra­ße 24, wenn von 16 bis 18 Uhr die „Peng! Impro-Shorts” statt­fin­den. Was dort genau pas­siert, kön­nen wir Ihnen gar nicht sagen, denn das ist ja das Prin­zip der Impro­vi­sa­ti­on. In wel­che Rich­tung es dabei geht, bestim­men Sie als Publi­kum. Wenn Sie mit­be­stim­men möch­ten, soll­ten Sie am bes­ten vor­ab per E-Mail reser­vie­ren. Ob Sie 5 oder 10 Euro Ein­tritt bezah­len wol­len und kön­nen, ent­schei­den Sie selbst.

+++ Sie kön­nen Ihr Geld am Sonn­tag aber auch auf dem Floh­markt in der Men­sa am Coes­fel­der Kreuz aus­ge­ben. Zumin­dest, wenn Sie auf der Suche nach Mode, Schmuck, Acces­soires und Kos­me­tik sind. Von 12 bis 18 Uhr fin­det hier auf zwei Eta­gen der Klei­der­wir­bel statt. Der Ein­tritt kos­tet 5 Euro, ermä­ßigt 3 Euro. Wenn Sie eher auf der Suche nach musi­ka­li­schen Schät­zen sind, kön­nen Sie sich am Sonn­tag im Jovel umschau­en. Ab 11 Uhr wer­den auf der Müns­te­ra­ner Schall­plat­ten­bör­se – der Name ver­rät es schon – tau­sen­de Plat­ten ange­bo­ten, unter ande­rem aus dem Bestand des Jovel. Auch hier müs­sen Sie ein Ticket kau­fen, für 4 Euro kön­nen Sie das direkt online machen. Bei bei­den Ver­an­stal­tun­gen gel­ten 3G und eine FFP2-Maskenpflicht.

Und noch eine Emp­feh­lung von Ralf Heimann: 

+++ Sonn­tag letz­te Chan­ce: Hen­ning Stoff­ers zeigt ab 11 Uhr im Schloss­thea­ter noch ein­mal hun­dert Jah­re alte Fotos aus Müns­ter. Titel sei­nes Licht­bild­vor­trags: „Die tur­bu­len­ten Jah­re 1918 – 1933 in Müns­ter“. Dazu erzählt er Geschich­ten über Men­schen, die man Ori­gi­na­le nennt, zum Bei­spiel den Schau­spie­ler Bus­so Meh­ring oder Karl-Heinz ‚Bubi‘ Gie­se­ler, den Poli­zis­ten vom Prin­zi­pal­markt. Licht­bild­vor­trag klingt zwar etwas ange­staubt, aber das täuscht. Stoff­ers ist ein wun­der­ba­rer Erzäh­ler. Schau­en Sie es sich an. Kar­ten bekom­men Sie für 12 Euro hier.

Am Diens­tag schreibt Ihnen Ralf Heimann. Bis dahin wün­sche ich Ihnen ein son­ni­ges Wochenende.

Herz­li­che Grü­ße
Johan­ne Burkhardt

Mit­ar­beit: Sebas­ti­an Fob­be, Eva Strehlke


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PS

Wenn mir neue Per­so­nen vor­ge­stellt wer­den und ich ihnen spä­ter zufäl­lig auf der Stra­ße oder beim Ein­kau­fen begeg­ne, erken­ne ich sie meis­tens direkt. Sie mich aber nicht so oft. Lan­ge habe ich gedacht, es liegt an mir. Viel­leicht bin ich ein­fach nicht ein­präg­sam genug. Jetzt weiß ich: Es könn­te wirk­lich an mir lie­gen. Aber ver­mut­lich aus einem ande­ren Grund. Ich könn­te eine „Super-Reco­g­nis­er” sein. Das sind Men­schen, die sich beson­ders gut Gesich­ter mer­ken und erken­nen kön­nen. Sie glau­ben mir nicht? Ich habe beim Super-Reco­g­nis­er-Test der Uni­ver­si­tät Green­wich immer­hin 11 von 14 Gesich­tern erkannt. Sie kön­nen gern ver­su­chen, mei­nen Score zu knacken.