Die Kolumne von Michael Jung | Der Hauptbahnhof, eine Zwischenbilanz

Müns­ter, 15. Janu­ar 2023

Guten Tag,

für die letz­ten Sit­zun­gen des letz­ten Jah­res erreich­te die Rats­mit­glie­der und die inter­es­sier­te Öffent­lich­keit eine Vor­la­ge des Stadt­bau­rats Robin Denstorff, die auf acht Sei­ten sehr Grund­sätz­li­ches fest­stell­te: Es ging um einen Tunnel. 

Der habe, so for­mu­lier­te die Fach­ver­wal­tung, „im Stadt­bild der­zeit ledig­lich die Funk­ti­on eines Tran­sit­raums, der mög­lichst schnell durch­quert wer­den soll“. Er sei „für die Nut­ze­rin­nen und Nut­zer ledig­lich ein ver­bin­den­der Ort, der aber auf­grund feh­len­der Attrak­ti­vi­tät gar nicht wei­ter wahr­ge­nom­men wird“. Es feh­le aller­dings auch am nöti­gen Bewusst­sein, ist sich die Ver­wal­tung sicher: „Ledig­lich in den Rand­be­rei­chen der bei­den Zugän­ge fin­det eine Beschäf­ti­gung mit dem Tun­nel statt, indem die der­zeit dort ange­bo­te­nen Fahr­rad­stän­der zum Abstel­len von Rädern genutzt werden.“ 

Ange­sichts so kri­ti­scher Wort sind natür­lich Ver­bes­se­run­gen das Ziel, und wie immer in Müns­ter sind die Per­spek­ti­ven groß­ar­tig: Es schei­ne „daher gebo­ten zu sein, sich der Gestal­tungs­mög­lich­kei­ten bewusst zu wer­den, die im Umfeld (…) feh­len oder stär­ker aus­ge­prägt wer­den soll­ten, zum Bei­spiel dem (sic) The­ma Grün im öffent­li­chen Raum – nicht nur als Ele­ment auf­grund des Kli­ma­wan­dels und der Nach­hal­tig­keit, son­dern auch als Ele­ment der Gestal­tung und damit gleich­zei­tig ver­bun­de­ner mög­li­cher kli­ma­freund­li­cher Aspekte.“ 

So schlug die Ver­wal­tung nach län­ge­ren Über­le­gun­gen zur Fra­ge, ob man auch Kunst auf­stel­len könn­te (kann man nicht), den Gre­mi­en einen Gestal­tungs­wett­be­werb vor, um den Tun­nel zum Juwel und zur Speer­spit­ze des kom­mu­na­len Kli­ma­schut­zes zu machen. So wird es schließ­lich in einem kom­ple­xen und zeit­auf­wän­di­gen Pro­zess wohl kom­men, denn bei solch heh­ren Zie­len kann es nur gut werden. 

Wenn Sie neu in Müns­ter sind, wer­den Sie viel­leicht nicht sofort wis­sen, wo die­ses unter­schätz­te städ­te­bau­li­che Juwel liegt; wenn Sie schon län­ger hier sind, ist es klar: Das kann nur der Ham­bur­ger Tun­nel am Bahn­hof sein. Also der Ort, der bis­her olfak­to­risch und visu­ell schon ein High­light der Stadt war. 

Jetzt wird es bald alles ganz schön. So hat es die Ver­wal­tung mit ihrer Vor­la­ge schon ein­mal gezeigt – mit der sechs­sei­ti­gen Begrün­dung kann man sich ohne Pro­blem auch für den nächs­ten Poe­sie­preis der Stadt bewer­ben, aber so rich­tig durch­schla­gen­de Ideen hat die Fach­ver­wal­tung auch nicht: Irgend­wie grün soll es wer­den, irgend­was mit Fahr­rä­dern natür­lich, und alles natür­lich nach­hal­tig und gut für’s Kli­ma. Die Ideen sol­len jetzt bit­te von den Archi­tek­tur­bü­ros kom­men. Für heu­te soll die­ser poe­ti­sche Ansatz der Ver­wal­tung ein­mal Anlass sein, Zwi­schen­bi­lanz zu ziehen. 

Vor eini­gen Jah­ren war Müns­ters Haupt­bahn­hof das etwas pein­li­che Ein­gangs­tor zur Stadt, inzwi­schen ist die Ver­kehrs­sta­ti­on kom­plett saniert. Den­noch ist der Ort vor allem eines: eine zen­tra­le Zone der Stadt, in der man dicht gedrängt alle Pro­ble­me der Ver­kehrs- und Pla­nungs­po­li­tik unse­rer Stadt auf engs­tem Raum neben­ein­an­der sehen kann. 

1. Problem: Wer es allen recht machen will, macht es niemandem recht

Nir­gend­wo kann man die wider­sprüch­li­che Ver­kehrs­po­li­tik der Stadt schö­ner erle­ben als auf den Wegen, über die man sich dem Haupt­bahn­hof von Nor­den oder Süden aus nähert. Vom Süden aus gelan­gen Sie auf eine Fahr­spur, die Autos am Bahn­hof ent­lang führt. Wenn Sie aller­dings vor­ha­ben, jeman­den am Bahn­hof abzu­set­zen oder abzu­ho­len, sind Sie hier falsch, denn das ist nur auf der ande­ren Sei­te des Haupt­bahn­hofs vorgesehen. 

Außer­dem sind Sie zusam­men mit star­ten­den, enden­den und links in die Innen­stadt abbie­gen­den Bus­sen unter­wegs. Wenn Sie auf dem Rad fah­ren, braucht es Mut, Tap­fer­keit und Zuver­sicht, denn Ihre rot mar­kier­te Spur führt mit­ten durch das Getüm­mel der Autos und Busse. 

In der Gegen­rich­tung sind Rad­fah­ren­de und Bus­se unter sich, denn Autos, die aus dem Nor­den kom­men, wer­den um die Bahn­hof­stra­ße her­um­ge­führt; über die­sen Weg errei­chen Sie den Haupt­bahn­hof lei­der gar nicht. 

Auch wenn sich alle inzwi­schen dar­an gewöhnt haben: Was hier pas­siert, ist typisch für Müns­ters Ver­kehrs­po­li­tik. Alle haben durch­ge­setzt, was sie für wich­tig hal­ten, und her­aus­ge­kom­men ist etwas, das für nie­man­den rich­tig gut funk­tio­niert – und das vor allem für Aus­wär­ti­ge nur sehr schwer zu durch­schau­en ist. 

Den­ken Sie zum Bei­spiel an den über die Fried­rich­stra­ße geführ­ten Rechts­ab­bie­ge­ver­kehr Rich­tung Waren­dor­fer Stra­ße. Zuletzt sorg­te die durch­ge­hen­de Bus­spur für gro­ße Auf­re­gung vor allem bei der Indus­trie- und Han­dels­kam­mer und den West­fä­li­schen Nach­rich­ten. Dabei besteht dazu wenig Anlass: Eine ein­zi­ge neue durch­ge­hen­de Bus­spur seit zwan­zig Jah­ren in Müns­ter ändert auch wenig am Grundproblem. 

Aber es zeigt, wie es läuft: Man beschließt eine Insel­lö­sung, aber eine kla­re poli­ti­sche Grund­satz­ent­schei­dung zum Ver­kehr rings um den Haupt­bahn­hof ist nicht getrof­fen und nicht in Sicht. Ein­zel­ne Grup­pen ver­ab­schie­den sich – wer auf dem Rad unter­wegs ist, mei­det die­se Ach­se bes­ser. Weil man sich an Grund­satz­ent­schei­dun­gen nicht traut, kom­men am Ende Lösun­gen her­aus, die für kei­ne Grup­pe wirk­lich tau­gen, und nur weil man sie jetzt eini­ge Jah­re erlebt hat, wird es doch kei­ne gute Lösung. Wer es allen recht­ma­chen will, schafft Pro­ble­me für alle. 

2. Problem: Wenn Sie zu Fuß unterwegs sind, haben Sie leider Pech gehabt

Zugleich macht die Lösung exem­pla­risch klar, wie in Müns­ter die Hier­ar­chie der Ver­kehrs­trä­ger ist: Das Auto steht nach wie vor an ers­ter Stel­le; sein Platz wird ideo­lo­gisch ver­tei­digt. Eben­so ideo­lo­gisch ist die Posi­ti­on der ande­ren Sei­te, die aufs Fahr­rad setzt. 

Platz eins ist ver­ge­ben, aber er ist umkämpft. Ande­re Ver­kehrs­trä­ger spie­len in der Debat­te kei­ne Rol­le, und das zeigt sich am Bahn­hof deut­lich: Wer zu Fuß unter­wegs ist, spielt kei­ne Rol­le, und der Nah­ver­kehr hat kei­ne Lobby. 

Kon­kre­tes Bei­spiel: Für Men­schen, die nicht aus Müns­ter kom­men, ist das Meer abge­stell­ter Fahr­rä­der einer der ers­ten prä­gen­den Ein­drü­cke der Stadt, die man rings um den Haupt­bahn­hof sam­meln kann. 

Die ver­kehrs­po­li­ti­sche Debat­te kreist daher um die Fra­ge, wo und wie zusätz­li­che Abstell­mög­lich­kei­ten ent­ste­hen kön­nen. Rad­sta­tio­nen erst im Wes­ten, jetzt im Osten, eine Park­hau­se­ta­ge am Bre­mer Platz – und doch sieht es bald wie­der genau­so aus wie vor­her: Müns­ters Bahn­hofs­are­al quillt über von abge­stell­ten Fahr­rä­dern, und das hat Grün­de. Unter ande­rem den, dass in Müns­ter zuge­park­te Geh­we­ge nur dann The­ma sind, wenn man über „Lewe-Meter“ und Autos dis­ku­tie­ren kann. 

Wenn Fahr­rä­der Geh- und Ret­tungs­we­ge blo­ckie­ren, ist das Gewohn­heits­recht und lus­ti­ges Lokal­ko­lo­rit. Men­schen, die zu Fuß unter­wegs sind, tau­chen in der städ­ti­schen Ver­kehrs­pla­nung und ihren Zeich­nun­gen nur als Leu­te auf, die gera­de fla­nie­ren, shop­pen und Kaf­fee trin­ken, nicht aber als Men­schen, die ein Ziel errei­chen wollen. 

Des­we­gen haben sie auch kei­ne Lob­by, son­dern kom­men nur ins Spiel, wenn die Fahr­rad­fans gera­de den Auto­fans einen mit­ge­ben wol­len. Die Stadt­ver­wal­tung hat lan­ge auf­ge­ge­ben: Seit­dem ein Stu­dent die Stadt ver­klagt hat wegen des Abräu­mens sei­nes abge­stell­ten Fahr­rads, hat die Stadt ihre Bemü­hun­gen gegen das Fahr­rad­cha­os weit­ge­hend ein­ge­stellt und auch viel zu wenig Per­so­nal dafür. 

Das Ergeb­nis kann man über­all in der Stadt, aber beson­ders ein­drucks­voll rings um den Haupt­bahn­hof beob­ach­ten. Schrott­rä­der, geklau­te und dann abge­stell­te Lee­zen blo­ckie­ren die Abstell­mög­lich­kei­ten, alle par­ken da, wo gera­de eine Lücke ist, und ger­ne eben auch auf Geh­we­gen. Wer den Fahr­rad­ver­kehr för­dern will, muss auch durch­grei­fen – und das heißt eben auch, Schrott­rä­der abräu­men, Geh­we­ge frei­hal­ten und Regeln durchsetzen. 

Wie wenig das pas­siert, kann man am Haupt­bahn­hof exem­pla­risch sehen. Hier eska­liert es beson­ders, und man sieht: Wer zu Fuß unter­wegs ist, hat lei­der kei­ne Lob­by. Das zeigt sich auch an der Zone an der Wind­thorst­stra­ße, wo trotz höchs­ter Fre­quenz von Men­schen zum Teil mit viel Gepäck, das Fahr­rad­fah­ren trotz­dem erlaubt ist, was immer wie­der zu absur­den Sze­nen führt. 

Fahr­rä­dern wer­den in Müns­ter Gren­zen nur gesetzt, wenn es um die Inter­es­sen des moto­ri­sier­ten Indi­vi­du­al­ver­kehrs geht, aber nie, wenn es um Men­schen geht, die zu Fuß unter­wegs sind. Die Hier­ar­chie der Ver­kehrs­trä­ger ist klar.

3. Problem: Der Öffentliche Nahverkehr hat in Münster keine Priorität

Wenn Sie in Müns­ter mit dem Zug ankom­men und nicht mit dem Auto, son­dern mit dem Öffent­li­chen Nah­ver­kehr wei­ter wol­len, ste­hen Sie als Gast vor einer inter­es­san­ten Auf­ga­be. Wo fährt eigent­lich Ihr Bus? Es gibt vier Mög­lich­kei­ten, die sich auf zwei durch eine vier­spu­ri­ge Stra­ße getrenn­te Sei­ten ver­tei­len auf einer Län­ge von meh­re­ren hun­dert Metern. 

Wenn Sie Glück haben, fin­den Sie die rich­ti­ge Mög­lich­keit – wenn nicht, haben Sie gelernt, dass Sie in einer Stadt ange­kom­men sind, in der Bus nur fährt, wer gar nicht anders kann. 

Müns­ters Haupt­bahn­hof ist die zen­tra­le Ver­kehrs­sta­ti­on einer Groß­stadt, aber der Über­gang vom öffent­li­chen Fern­ver­kehr auf den Nah­ver­kehr ist so unüber­sicht­lich und undurch­sich­tig, dass er nur für Ein­hei­mi­sche funk­tio­niert. Die Stadt setzt auch das Signal: Gäs­te fah­ren Taxi oder Auto; wer das Geld nicht hat, inter­es­siert uns weniger. 

Wenn es aber klap­pen soll mit dem Umstieg vom Auto auf nach­hal­ti­ge­re Ver­kehrs­mit­tel, kann es nicht bei einer neu­en Bus­spur am Bahn­hof blei­ben. Die Stadt wird sich über­le­gen müs­sen, wie sie einen funk­tio­nie­ren­den, ein­fa­chen und über­sicht­li­chen Umstieg von der Bahn auf den Bus gewähr­leis­ten will. 

So wie jetzt am Haupt­bahn­hof wird das jeden­falls hoff­nungs­los. Abge­se­hen von einer Info­ta­fel mit den End­zie­len der Bus­li­ni­en gibt es kei­ne Infor­ma­ti­ons­mög­lich­keit im Bahn­hofs­be­reich, son­dern allen­falls den Mobilé-Shop der Stadt­wer­ke auf der ande­ren Stra­ßen­sei­te; ein aus­ge­bau­tes Fern­bus­ter­mi­nal oder eine Aus­schil­de­rung des Weges dort­hin sucht man eben­so ver­geb­lich. Dass das kon­se­quen­ter­wei­se auch für den Flug­ha­fen­bus gilt, sei nur am Ran­de vermerkt. 

Und in die­ses Bild, das die Stadt schon am Haupt­bahn­hof abgibt, passt genau, dass es in Müns­ter letz­tes Jahr wie­der das lau­tes­te Geschrei im der Ver­kehrs­po­li­tik gab, als es um nur eine zusätz­li­che Bus­spur und um eine Kos­ten­sen­kung bei Bus­ti­ckets ging: Es gibt kaum eine Stadt, die so lie­der­lich mit ihrem Nah­ver­kehr umgeht und den Umstieg auf nach­hal­ti­ge Ver­kehrs­mit­tel, die nicht Fahr­rad hei­ßen, so schwer macht. 

Das zeigt sich an der Ver­kehrs­sta­ti­on am Haupt­bahn­hof exem­pla­risch. Die Hier­ar­chie ist: Erst Auto, dann Fahr­rad. Bus und Men­schen, die zu Fuß unter­wegs sind, spie­len unter­ge­ord­ne­te Rollen. 

4. Problem: Stadtentwicklung läuft in Münster am liebsten investorengesteuert

Wer die in den letz­ten Jah­ren erfolg­te Umge­stal­tung des Bahn­hofs­are­als, die noch kräf­tig läuft, mit­ver­folgt hat, kann hier auch ein wei­te­res Prin­zip erken­nen: Es geht zual­ler­erst um die Inter­es­sen von Inves­to­ren. Nur bei der Ver­kehrs­sta­ti­on selbst hat die Stadt mit dem Preis von fünf Mil­lio­nen Euro Zuschuss selbst regu­lie­rend ein­ge­grif­fen: So wur­de eine gro­ße Shop­ping­mall ver­hin­dert; das ent­sprach aber natür­lich sehr wesent­lich auch den Inter­es­sen derer, die in der Innen­stadt schon inves­tiert sind. 

Dar­über hin­aus aber wur­de schö­nes Geld ver­dient: Beim Metro­po­lis-Hoch­haus gab es noch Regu­lie­rungs­be­mü­hun­gen. Im Ergeb­nis stan­den Vor­ga­ben für Miet­prei­se für einen Teil der neu­en Mikro­ap­par­te­ments. Danach ent­stan­den noch mehr davon auf der klei­nen Bahn­hofs­stra­ße, ganz unre­gu­liert und ohne sozi­al gerech­te Boden­nut­zung oder ande­re läs­ti­ge Vorgaben. 

Mit möblier­tem Wohn­raum las­sen sich auch Vor­ga­ben des Miet­spie­gels sehr schön umge­hen, und bei Qua­drat­me­ter­prei­sen von weit über 20 Euro warm stimmt die Ren­di­te auch. So ist in den letz­ten Jah­ren im süd­west­li­chen Bereich des Haupt­bahn­hofs eine bemer­kens­wer­te Mono­struk­tur ent­stan­den, die anders­wo in der Stadt als pro­ble­ma­tisch gel­ten wür­de, hier aber als sin­ni­ge Moder­ni­sie­rung ver­kauft wird. 

Auf die Auf­stel­lung eines Bebau­ungs­plans ver­zich­te­te die Denstorff-Ver­wal­tung so lan­ge, bis fer­tig gebaut war – bezie­hungs­wei­se bis es Streit um das Are­al der alten Bahn­hofs­post zwi­schen Inves­tor und Stadt­bau­rat gab. 

Für die ande­ren aber stimmt die Ren­di­te. Man wird sehen, was aus die­ser Mono­struk­tur ein­mal wer­den wird und wie man in 20 oder 25 Jah­ren auf die­se Ergeb­nis­se städ­ti­scher Pla­nungs­po­li­tik bezie­hungs­wei­se des Ver­zichts auf eine sol­che bli­cken wird. 

Viel­leicht gibt es dann ganz neue Ideen, was aus Ein­raum­ap­par­te­ments in Bahn­hofs­nä­he mal wer­den kann. Immer­hin gibt es jetzt eine gan­ze Mono­struk­tur davon, und man kann sehr schön sehen, wer in Müns­ter Stadt­ent­wick­lung betreibt: Es sind die Inter­es­sen von Inves­to­ren, und die Poli­tik kommt ins Spiel, wenn es mal irgend­wo hakt. Sonst geht es ger­ne auch ohne Bau­leit­pla­nung und Regulierung.

5. Problem: Man wird nicht gesund, wenn man verdrängt wird

Ein damit zusam­men­hän­gen­des Pro­blem der Pla­nungs­po­li­tik in unse­rer Stadt lässt sich gera­de auf der Ost­sei­te erken­nen. Pro­ble­me wer­den nicht dadurch gelöst, dass man sie ver­drängt. Schon als 2016 im Rat die Plä­ne für die Neu­ge­stal­tung beschlos­sen wur­den, kreis­te die Debat­te weni­ger um gestal­te­ri­sche Fra­ge­stel­lun­gen als dar­um, was eigent­lich aus der Dro­gen­sze­ne hin­term Bahn­hof wer­den soll. 

Die umstands­lo­se Über­pla­nung der Area­le droh­te schon wäh­rend der Umbau­pha­se zu Pro­ble­men zu füh­ren. Seit­her erar­bei­te­te die Ver­wal­tung zahl­rei­che Kon­zep­te und Papie­re, und man kann auf der Ost­sei­te jetzt schon sehen: Das hat nur sub­op­ti­mal geklappt. 

Schließ­lich wird die Sze­ne ledig­lich ver­drängt. Das ent­spricht durch­aus den Inten­tio­nen eini­ger Tei­le der Poli­tik, die sich jetzt wie­der mit lau­ten Rufen nach grö­ße­rer Här­te und mehr Druck auf die Sze­ne zu pro­fi­lie­ren suchen. Von einer Lösung ist man damit aber weit ent­fernt: Schwer dro­gen­kran­ke Men­schen wer­den näm­lich nicht gesund, wenn man sie ver­drängt, son­dern sie suchen sich neue Orte. 

Vor der Umge­stal­tung war der rela­ti­ve Vor­teil der Situa­ti­on, dass die Sze­ne geschlos­sen auf einem Are­al zu fin­den war und dort ein Sozi­al­raum ent­stan­den war, der mit bestehen­den Hil­fe­st­ruk­tu­ren (vor allem Indro ist hier zu nen­nen) und auch sicher­heits­po­li­tisch leid­lich unter Kon­trol­le war; das ist jetzt nicht mehr der Fall. 

Die Sze­ne dif­fun­diert – und höhe­rer Druck wird die­sen Effekt wei­ter ver­stär­ken. Die Men­schen in den benach­bar­ten Wohn­vier­teln sind die­je­ni­gen, die bei die­sem Pro­zess ver­lie­ren, denn sie sind mit den Fol­gen ver­fehl­ter Pla­nungs­ent­schei­dun­gen kon­fron­tiert, tag­täg­lich und im Alltag. 

Zuletzt war schon zu beob­ach­ten, dass nicht mehr nur die im Osten anschlie­ßen­den Wohn­vier­tel, son­dern auch im Bereich des Über­gangs zur Pro­me­na­de, am Ser­va­tii­tor und bis hin zum Lud­ge­ri­platz ent­spre­chen­de Anzei­chen zu ent­de­cken waren. 

In Zukunft wird der Umgang mit schwerst­ab­hän­gi­gen Men­schen nicht mehr nur eine Fra­ge sein, die sich auf der Bahn­hof­s­ost­sei­te stellt, wo auch kom­pe­ten­te Hil­fe­st­ruk­tu­ren exis­tie­ren. Das ist die direk­te Fol­ge einer Pla­nungs­po­li­tik, die auch auf der Ost­sei­te in ers­ter Linie inves­to­ren­ge­stützt vor­ge­gan­gen ist und Pla­nung als Bau- und Ver­kehrs­fra­ge betrach­tet und die sozi­al­räum­li­chen Fra­ge­stel­lun­gen für unnö­ti­gen Klim­bim hält. 

Mit Blick auf eini­ge Akteu­re im Rat, die zunächst sol­che Pla­nun­gen beschlie­ßen und anschlie­ßend sicher­heits­po­li­tisch Law-and-Order-Paro­len ver­brei­ten, zeigt sich: Das kann auch poli­tisch inter­es­sant wer­den, wenn die Fol­gen zu einer Radi­ka­li­sie­rung des poli­ti­schen Dis­kur­ses führen. 

Man erkennt auch ein wei­te­res Pro­blem der Pla­nungs­po­li­tik: Die sozi­al­räum­li­chen Kon­se­quen­zen der Ent­schei­dun­gen wer­den noch immer unter­schätzt, und man dele­giert sie gern an ande­re, die sie dann zu bewäl­ti­gen haben.

Und nach einem Blick auf die gro­ßen Pro­ble­me rings um den Haupt­bahn­hof sind wir wie­der am Ham­bur­ger Tun­nel ange­kom­men: Die Fra­ge, was da nun wer­den soll, ist ein typi­sches Bei­spiel für die Pla­ce­bo-Stra­te­gie des Denstorff-Dezernats. 

Es gibt kei­ne Lösun­gen für die gro­ßen Pro­ble­me, statt­des­sen wird mit hohem rhe­to­ri­schen Auf­wand, vie­len Werk­stät­ten und Mas­ter­plä­nen der Ein­druck von Akti­vi­tät erzeugt, und am Ende ste­hen Schein­lö­sun­gen: Denn egal, wie grün der Tun­nel wird, und egal, ob nun ein Zugang zu den Bahn­stei­gen von dort erfol­gen kann oder nicht: Nötig wären Pro­zes­se, die ver­kehrs- und pla­nungs­po­li­tisch end­lich ein­mal die gro­ßen Fra­gen anpa­cken und nicht genau das ver­hin­dern, indem immer wie­der nur Baga­tel­len und Ein­zel­fra­gen ange­fasst wer­den und die gro­ßen Ent­wick­lun­gen nur nach Inves­to­ren­in­ter­es­sen aus­ge­stal­tet werden.

Herz­li­che Grü­ße
Ihr Micha­el Jung

Über den Autor

Micha­el Jung lebt schon immer in Müns­ter. Er wur­de 1976 hier gebo­ren. Er hat an der Uni Müns­ter Latein und Geschich­te stu­diert und in Geschich­te pro­mo­viert. Heu­te ist er Leh­rer am Annet­te-Gym­na­si­um in Müns­ter. Micha­el Jung war vie­le Jah­re in der Poli­tik: Von 2013 bis 2020 war er Frak­ti­ons­chef der SPD im Rat der Stadt. Im Jahr 2020 trat er für die SPD bei den Kom­mu­nal­wah­len als Ober­bür­ger­meis­ter­kan­di­dat an. 

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