Die Kolumne von Ruprecht Polenz | Demokratie und Umfragen

Müns­ter, 25. April 2021

Ich wün­sche Ihnen einen schö­nen Sonntag.

Das war eine span­nen­de Woche mit wich­ti­gen Ent­schei­dun­gen, nicht nur für den bevor­ste­hen­den Bun­des­tags­wahl­kampf, son­dern auch für die nächs­ten vier Jah­re. Wir wis­sen jetzt, wer im Sep­tem­ber ins Kanz­ler­amt ein­zie­hen kann (in alpha­be­ti­scher Rei­hen­fol­ge): Anna­le­na Baer­bock, Armin Laschet oder Olaf Scholz. Aber weil nicht die alpha­be­ti­sche Rei­hen­fol­ge dar­über ent­schei­det, son­dern Sie, lie­gen span­nen­de Wochen vor uns.

Die drei Per­sön­lich­kei­ten sind auf sehr unter­schied­li­che Art und Wei­se in ihre jet­zi­gen Posi­tio­nen gekom­men. Olaf Scholz wur­de bereits im August 2020 nomi­niert, nach­dem er zuvor bei der Wahl als SPD-Par­tei­vor­sit­zen­der unter­le­gen war.

Anna­le­na Baer­bock war schon lan­ge eine von zwei Per­sön­lich­kei­ten, von denen es nur eine wer­den konn­te. Die Grü­nen hat­ten es ihren bei­den Vor­sit­zen­den über­las­sen, dar­über unter vier Augen zu ent­schei­den. Für den Fall, dass sie sich nicht eini­gen könn­ten, stand fest: Die Frau hat­te den ers­ten Zugriff.

Kom­pli­zier­ter war die Lage bei der Uni­on. Zum einen, weil sich zwei Par­tei­en auf einen gemein­sa­men Kan­di­da­ten eini­gen muss­ten, zum ande­ren, weil die CDU wegen Coro­na erst am 16. Janu­ar ihren neu­en Vor­sit­zen­den gewählt hatte. 

Bei der CDU folg­te eine Kampf­ab­stim­mung der nächs­ten. Die Grü­nen ent­schie­den geräusch­los. In bei­den Par­tei­en spiel­ten Kri­te­ri­en eine Rol­le, die kei­ne von bei­den für zukünf­ti­ge Ent­schei­dun­gen der K-Fra­ge in ihre Sat­zung schrei­ben würde.

Meinungsumfragen ändern sich schnell

Weder wür­den die Grü­nen das Ent­schei­dungs­recht ihrer Mit­glie­der dau­er­haft an die bei­den Bun­des­vor­sit­zen­den dele­gie­ren, noch wür­den CDU und CSU in ihre Sat­zun­gen schrei­ben: Wenn es zwei Kandidat:innen gibt, ist nomi­niert, wer zum Zeit­punkt der Nomi­nie­rung in den Mei­nungs­um­fra­gen führt. 

Denn offen­kun­dig ist es nicht so ein­fach. Mei­nungs­um­fra­gen ändern sich schnell. Hät­te die Uni­on sich nur danach gerich­tet und im Dezem­ber ent­schie­den, wäre jetzt Jens Spahn der Kanzlerkandidat. 

Ohne das erkenn­bar auch per­sön­lich gute Ver­hält­nis zwi­schen Anna­le­na Baer­bock und Robert Habeck, also mit ande­ren Per­sön­lich­kei­ten an der Spit­ze, hät­te die Par­tei­ba­sis der Grü­nen nicht auf ihr Ent­schei­dungs­recht ver­zich­ten können.

Die Fra­ge „Wie hältst du es mit der Basis?“ hat auch im Ent­schei­dungs­pro­zess der Uni­ons­par­tei­en eine gro­ße Rol­le gespielt. Anhän­ger von Mar­kus Söder ver­wie­sen immer wie­der dar­auf, dass die­ser auch unter den CDU-Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ten und bei vie­len CDU-Mit­glie­dern Unter­stüt­zung genieße. 

Des­halb woll­te Söder nicht gel­ten las­sen, dass sich im CDU-Bun­des­vor­stand eine brei­te Mehr­heit für Laschet aus­ge­spro­chen hat­te. Söder hat­te zwar davon gespro­chen, dass er nur dann kan­di­die­ren wol­le, wenn er auch von der CDU breit unter­stützt wür­de. Aber damit habe er kei­ne „Hinterzimmer“-Entscheidungen gemeint, son­dern sich auf die gan­ze CDU bezo­gen. Damit stell­te er in Fra­ge, dass der von 1.001 Dele­gier­ten gewähl­te Bun­des­vor­stand für die Par­tei spre­chen könne. 

Gera­de bei strei­ti­gen Ent­schei­dun­gen ist wich­tig, dass die Regeln vor­her klar sind, und dass nicht ver­sucht wird, die Regeln im Ver­lauf des Ver­fah­rens so hin­zu­zim­mern, dass das Ergeb­nis passt. „Moving the goal­posts“ sagen die Brit:innen dazu. Nicht der Ball muss ins Tor, son­dern das Tor wird schnell ver­scho­ben, damit der Ball reingeht. 

Die Legi­ti­mi­tät des Ver­fah­rens ist ent­schei­dend dafür, dass die unter­le­ge­ne Sei­te das Ergeb­nis anschlie­ßend mit­tra­gen kann. Es gibt nur zwei Mög­lich­kei­ten, Ent­schei­dun­gen demo­kra­tisch zu legi­ti­mie­ren. Ent­we­der durch reprä­sen­ta­ti­ve Demo­kra­tie oder durch direk­te Demokratie. 

Ein Viertel der Fraktion tritt nicht mehr an

Die Basis der Uni­ons­par­tei­en sind ihre Mit­glie­der, 415.000 aus der CDU und 140.000 von der CSU. Nur ein gemein­sa­mer Mit­glie­der­ent­scheid bei­der Par­tei­en hät­te im Weg der direk­ten Demo­kra­tie gezeigt, wie die Basis tat­säch­lich denkt. 

Die Par­tei­en müs­sen demo­kra­ti­schen Grund­sät­zen ent­spre­chen, schreibt das Grund­ge­setz vor, und das Par­tei­en­gesetz nor­miert Grund­prin­zi­pi­en reprä­sen­ta­ti­ver Demo­kra­tie, denen die Par­tei­en fol­gen müs­sen. Danach müs­sen sich letzt­lich alle Ent­schei­dun­gen mit­tel­bar oder unmit­tel­bar auf die Mit­glie­der zurück­füh­ren lassen.

Der CDU-Bun­des­vor­stand wird von 1.001 Dele­gier­ten gewählt, die wie­der­um von den CDU-Mit­glie­dern der Kreis­ver­bän­de gewählt wer­den. Damit reprä­sen­tiert der Bun­des­vor­stand die Par­tei und ist demo­kra­tisch legi­ti­miert, für die Par­tei zu spre­chen und zu entscheiden.

Die CDU/C­SU-Bun­des­tags­frak­ti­on, die von Anhänger:innen Söders als Ent­schei­dungs­gre­mi­um ins Gespräch gebracht wur­de, weil sie das ein­zi­ge gemein­sa­me Gre­mi­um von CDU und CSU sei, ist weder Basis noch reprä­sen­ta­tiv für die Par­tei (sie reprä­sen­tiert ihre Wähler:innen). Es ist Sache der Par­tei­en, ihre Kandidat:innen für Par­la­ments­wah­len auf­zu­stel­len. Dazu gehört auch die Ent­schei­dung über die Num­mer eins. 

Hin­zu­kommt, dass etwa 25 Pro­zent der gegen­wär­ti­gen Bun­des­tags­frak­ti­on gar nicht mehr dabei sein wer­den, wenn der nächs­te Bun­des­tag ent­schei­det, wer ins Kanz­ler­amt ein­zie­hen darf. Denn sie tre­ten zur Wahl im Sep­tem­ber nicht mehr an. Die durch­schnitt­li­che Amts­zeit im Bun­des­tag beträgt nur zwei Legislaturperioden.

Auch eine Kon­fe­renz aller Kreis­vor­sit­zen­den, die als Ent­schei­dungs­gre­mi­um ins Spiel gebracht wur­de, wäre nicht reprä­sen­ta­tiv gewe­sen. Es gibt CDU-Kreis­ver­bän­de mit mehr als 4.000 Mit­glie­dern. Ande­re haben weni­ger als 400. 

In einer lan­gen Sit­zung hat der CDU-Bun­des­vor­stand mit deut­li­chem Ergeb­nis über die bei­den Bewer­ber für die Kanz­ler­schafts­kan­di­da­tur ent­schie­den: Für Laschet gab es 31 Stim­men. Für Söder stimm­ten 9. Ent­hal­ten haben sich 6. 

Auf Twit­ter war die Dis­kus­si­on der eigent­lich ver­trau­li­chen Online-Vor­stands­sit­zung im Live­ti­cker zu ver­fol­gen, weil Journalist:innen im Minu­ten­takt mit SMS ver­sorgt wur­den. Die­se „Durch­ste­che­rei­en“, die es ja auch bei den Ministerpräsident:innen-Konferenzen gibt, wer­den dazu füh­ren, dass man bei Prä­senz-Sit­zun­gen in Zukunft wohl öfter die Han­dys ein­sam­meln wird, um einen offe­nen und ver­trau­li­chen Mei­nungs­aus­tausch zu garantieren.

Die richtigen Zukunftsfragen

In die­sem Fall hat­te die „Live-Bericht­erstat­tung“ eine posi­ti­ve Neben­wir­kung: die Öffent­lich­keit konn­te mit­ver­fol­gen, wie die Argu­men­te pro oder con­tra bei­der Kan­di­da­ten ange­spro­chen und abge­wo­gen wur­den: die Mei­nungs­um­fra­gen, die Stim­mung an der Basis, die Qua­li­tä­ten der bei­den Bewer­ber. Dass es mög­lich ist, die ein­zel­nen Aspek­te dabei unter­schied­lich zu gewich­ten, liegt auf der Hand. Am Ende muss man mit Mehr­heit entscheiden.

Der Wahl­kampf wird span­nend und hof­fent­lich um die rich­ti­gen Zukunfts­fra­gen geführt. Für mich ist beson­ders wichtig: 

Wie schaf­fen wir es, die Pari­ser Kli­ma­zie­le ein­zu­hal­ten und die Erd­er­hit­zung auf 1,5 Grad zu begren­zen? Sonst wer­den wei­te Tei­le der Erde unbe­wohn­bar, und auch der Rest wird von stän­di­gen Natur­ka­ta­stro­phen heimgesucht. 

Wie kann es gelin­gen, unse­re Indus­trie­ge­sell­schaft ohne sozia­le Ver­wer­fun­gen nach­hal­tig und zukunfts­si­cher zu machen? Denn nur, wenn uns das auf demo­kra­ti­schem Weg gelingt, wer­den ande­re Staa­ten auf der Welt dem deut­schen Bei­spiel fol­gen. Allein blie­be unser Ein­fluss auf das Kli­ma zu gering. 

Wie bewäl­ti­gen wir die wirt­schaft­li­chen, sozia­len und psy­chi­schen Fol­gen der Coro­na-Kri­se?

Wie nut­zen wir die Vor­tei­le der Digi­ta­li­sie­rung und blei­ben wach­sam gegen­über nega­ti­ven Nebenwirkungen? 

Wie kom­men wir zu mehr Bil­dungs­ge­rech­tig­keit, um die Nach­tei­le der Geburts­lot­te­rie aus­zu­glei­chen? (Ich habe das „Wie“ her­vor­ge­ho­ben, weil es nicht mehr um das „Ob“ gehen kann und des­halb der Weg zu den Zie­len die ent­schei­den­de poli­ti­sche Fra­ge ist.)

Ob die­se und ande­re Zukunfts­fra­gen im Mit­tel­punkt des Wahl­kamp­fes ste­hen, oder ob statt­des­sen die wöchent­li­chen Mei­nungs­um­fra­gen für wich­ti­ge Poli­tik gehal­ten wer­den, die man vor allem ande­ren kom­men­tie­ren müs­se, hängt auch davon ab, ob Journalist:innen die Politiker:innen danach fra­gen und nicht locker las­sen, ehe sie eine Ant­wort bekom­men. Es ist aller­dings viel ein­fa­cher, Arti­kel über Mei­nungs­um­fra­gen oder die Klei­dung von Politiker:innen in Talk­shows zu schrei­ben. Mei­nungs­um­fra­gen wer­den kom­men­tiert wie Fuß­ball-Tabel­len. Wür­den die­se so erstellt, wie Mei­nungs­um­fra­gen, blie­be Schal­ke bei man­chen in der Bundesliga.

Zum Schluss ein Blick auf Müns­ter. Auch hier ver­spricht der Wahl­kampf span­nend zu wer­den. Dr. Ste­fan Nacke (CDU) und Maria Klein-Schmeink (Bünd­nis 90/Die Grü­nen) dür­fen sich Hoff­nun­gen auf das Direkt­man­dat machen. Aber man soll­te trotz der schlech­ten Umfra­ge­wer­te für die SPD auch Sven­ja Schul­ze nicht unter­schät­zen. Immer­hin hat die müns­ter­sche SPD mit ihr eine amtie­ren­de Bun­des­um­welt­mi­nis­te­rin ins Ren­nen geschickt.

Bis die Ent­schei­dung am 26. Sep­tem­ber getrof­fen wird, fließt noch viel Was­ser die Aa hin­un­ter. Aber der Wett­lauf für den nächs­ten Bun­des­tag ist eröffnet.

Ich wün­sche Ihnen eine gute Woche – und blei­ben Sie gesund.

Herz­lich
Ihr Ruprecht Polenz


Über den Autor

Vie­le Jah­re lang war Ruprecht Polenz Mit­glied des Rats der Stadt Müns­ter, zuletzt als CDU-Frak­ti­ons­vor­sit­zen­der. Im Jahr 1994 ging er als Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ter nach Ber­lin. Er war unter ande­rem CDU-Gene­ral­se­kre­tär, zwi­schen 2005 und 2013 Vor­sit­zen­der des Aus­wär­ti­gen Aus­schus­ses des Bun­des­tags. Von 2000 bis 2016 war Ruprecht Polenz Mit­glied des ZDF-Fern­seh­rats, ab 2002 hat­te er den Vor­sitz. Der gebür­ti­ge Bautz­e­ner lebt seit sei­nem Jura-Stu­di­um in Müns­ter. 2020 erhielt Polenz die Aus­zeich­nung „Gol­de­ner Blogger“.