Die Kolumne von Ruprecht Polenz | Garantierte Sicherheit

Guten Tag,

einen schö­nen Sonn­tag wün­sche ich Ihnen. 

Die ers­te Woche des neu­en Jah­res ist schon wie­der rum. Irgend­wie ging es so wei­ter, wie das alte auf­ge­hört hat. Trotz­dem wird sich 2022 natür­lich von 2021 unter­schei­den, so, wie jedes Jahr sich vom vor­her­ge­hen­den unter­schie­den hat. Zum Bes­se­ren, hof­fen wir natür­lich. Aber die inter­na­tio­na­le Lage hat sich eher verdüstert. 

Mit­ten in Euro­pa ist die Kriegs­ge­fahr in den letz­ten Mona­ten deut­lich gewach­sen. Russ­land berei­tet sich dar­auf vor, die Ukrai­ne zu über­fal­len. Putin sieht Russ­land durch die Ukrai­ne „bedroht“.

EU-Gre­mi­en tagen, die deut­sche Außen­mi­nis­te­rin reist nach Washing­ton. „Baer­bock und Blin­ken wol­len ‚fal­sche Erzäh­lung‘ Russ­lands nicht län­ger hin­neh­men“, titelt die FAZ ihren Bericht über den USA-Besuch.

Dann wol­len wir die rus­si­schen Erzäh­lun­gen doch mal näher unter die Lupe neh­men und mit der tat­säch­li­chen Lage und ihren Vor­ge­schich­ten vergleichen.

Das Verbot von Memorial ist ein Menetekel

Über 110.000 rus­si­sche Soldat:innen sind an der Gren­ze zur Ukrai­ne auf­mar­schiert. Putin droht unver­hoh­len mit einem mili­tä­ri­schen Angriff, falls sei­nen For­de­run­gen nicht ent­spro­chen wird. Nach der völ­ker­rechts­wid­ri­gen Anne­xi­on der Krim 2014 und der seit­dem andau­ern­den mili­tä­ri­schen Unter­stüt­zung für sepa­ra­tis­ti­sche Mili­zen im Don­bas wür­de die­se rus­si­sche Aggres­si­on gegen die Ukrai­ne gleich meh­re­re Eska­la­ti­ons­stu­fen auf ein­mal nehmen.

Im Dezem­ber wur­de Memo­ri­al ver­bo­ten. Das passt in das düs­te­re Bild. Die von dem Frie­dens­no­bel­preis-Trä­ger And­rei Sacha­row gegrün­de­te Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­ti­on hat­te sich gro­ße Ver­diens­te bei der Erfor­schung der sta­li­nis­ti­schen Ver­bre­chen erwor­ben. Mil­lio­nen von Russ:innen hat­ten sich seit den 90er Jah­ren an Memo­ri­al gewandt, um das Schick­sal ihrer Ver­wand­ten auf­zu­klä­ren, die Opfer des Sta­lin-Ter­rors gewor­den waren.

So fand Inna Hart­wich den Namen ihrer Groß­mutter Frie­da wie­der, die in sowje­ti­schen Arbeits­la­gern geschuf­tet hat­te. Der Name stand „auf den zahl­rei­chen Lis­ten der Bür­ger­recht­ler von Memo­ri­al, der Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­ti­on, die Russ­land nun ver­bo­ten hat“, beschreibt sie in einem sehr lesens­wer­ten Arti­kel (NZZ) und erklärt, war­um Memo­ri­al so wich­tig für die rus­si­sche Gesell­schaft ist. 

Doch Putin will, dass man bei Sta­lin nur an den Ret­ter im gro­ßen vater­län­di­schen Krieg denkt. Denn nur so lässt sich eine unge­bro­che­ne, impe­ria­le Linie rus­si­scher Grö­ße von Katha­ri­na der Gro­ßen bis zu Putin zie­hen. Dafür muss der Staat die allei­ni­ge Herr­schaft über die Erin­ne­rungs­kul­tur haben. Für Memo­ri­al war kein Platz mehr. Putin fällt zurück hin­ter den 20. Par­tei­tag der KPdSU von 1956 und die von Niki­ta Chruscht­schow ange­ord­ne­te Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Stalinismus.

Repression nach innen folgt Aggression nach außen

Der Repres­si­on nach innen folgt die Aggres­si­on nach außen. Putin, der den Zer­fall der Sowjet­uni­on für die größ­te Kata­stro­phe des 20. Jahr­hun­derts hält, fühlt sich beru­fen, Russ­land wie­der zu alter impe­ria­ler Grö­ße zurück­zu­füh­ren. Dabei sieht er die Ukrai­ne als untrenn­ba­ren Bestand­teil Russ­lands an. „Über die his­to­ri­sche Ein­heit der Rus­sen und Ukrai­ner“ hat Putin sei­nen Auf­satz über­schrie­ben, in dem er der Ukrai­ne Sou­ve­rä­ni­tät und Eigen­staat­lich­keit rund­her­aus abspricht (die deut­sche Über­set­zung ist abge­druckt in Ost­eu­ro­pa 7/2021).

Ande­ren Staa­ten in der Nach­bar­schaft Russ­lands will er nur eine ein­ge­schränk­te Sou­ve­rä­ni­tät zuge­ste­hen. Alle, die Putin zum „nahen Aus­land“ zählt, wie zum Bei­spiel Geor­gi­en oder Arme­ni­en, sol­len nicht frei dar­über ent­schei­den dür­fen, wel­chen Bünd­nis­sen sie ange­hö­ren wollen. 

Dies soll nicht nur für Staa­ten gel­ten, die frü­her der Sowjet­uni­on ange­hör­ten. Auch Finn­land und Schwe­den – bei­de sind Mit­glie­der der EU – soll ein NATO-Bei­tritt ver­wehrt blei­ben. Der fin­ni­sche Minis­ter­prä­si­dent Sau­li Nii­nistö war not amused. 

Putin ver­langt ulti­ma­tiv „Sicher­heits­ga­ran­tien des Wes­tens für Russ­land“. Nur so kön­ne die von ihm fälsch­lich so genann­te „Ukrai­ne-Kri­se“ bei­gelegt wer­den. Er hat Ent­wür­fe für zwei Abkom­men mit den USA und der NATO vor­ge­legt, mit denen eine Ost­erwei­te­rung des Mili­tär­bünd­nis­ses sowie die Errich­tung von US-Mili­tär­stütz­punk­ten in Staa­ten der ehe­ma­li­gen sowje­ti­schen Ein­fluss­sphä­re unter­sagt wer­den sol­len. Er sug­ge­riert gro­ße Dring­lich­keit und gibt sich besorgt, obwohl eine Erwei­te­rung der NATO über­haupt nicht auf der Tages­ord­nung steht. Der von „Putin-Versteher:innen“ gezo­ge­ne Ver­gleich mit der Kuba-Kri­se geht des­halb am The­ma vorbei.

Öffnung der NATO war 1990 kein Thema

Putin sieht Russ­land durch die NATO bedroht und behaup­tet, die Öff­nung der NATO für die drin­gen­den Bei­tritts­wün­sche der mit­tel- und ost­eu­ro­päi­schen Län­der in den 90er Jah­ren habe kla­ren Ver­ein­ba­run­gen wider­spro­chen, die zwi­schen Gor­bat­schow und dem Wes­ten 1990 geschlos­sen wor­den seien. 

Gor­bat­schow selbst wider­spricht die­ser Behaup­tung: „Die Ost­erwei­te­rung war 1990 kein Thema.“

In der Süd­deut­schen Zei­tung hat Ste­fan Kor­ne­li­us vor kur­zem noch ein­mal aus­führ­lich nach­ge­zeich­net, dass Russ­land nie bin­den­de Zusa­gen im Hin­blick auf eine NATO-Ost­erwei­te­rung bekam.

Außer­dem sei „das Gerau­ne über münd­li­che Ver­spre­chun­gen im Jahr 1990 rund um die Wie­der­ver­ei­ni­gung Deutsch­lands spä­tes­tens seit 1997 hin­fäl­lig oder nur noch für His­to­ri­ker inter­es­sant“, sagt Wolf­gang Ischin­ger, der Vor­sit­zen­de der Münch­ner Sicher­heits­kon­fe­renz, „weil Russ­land mit der Unter­schrift unter die Nato-Russ­land-Grund­ak­te damals, also vor 24 Jah­ren, die Nato-Erwei­te­rung nach Osten akzeptierte.“

Die NATO selbst hat­te sei­ner­zeit mit der Auf­nah­me neu­er Mit­glie­der eher gezö­gert. Es waren die bal­ti­schen Staa­ten, Polen und Ungarn, die nach 1990 unbe­dingt in die NATO auf­ge­nom­men wer­den woll­ten. Sie such­ten eine Rück­ver­si­che­rung für den Fall, dass der Weg Russ­lands zu Demo­kra­tie und Rechts­staat fehl­schla­gen würde.

Auch Putins Behaup­tun­gen, Russ­land sei nach 1990 vom Wes­ten stän­dig gede­mü­tigt wor­den, hal­ten einer Über­prü­fung nicht stand: Russ­land tritt dem NATO-Pro­gramm Part­ner­ship for peace bei (1994); Auf­nah­me Russ­lands in den Euro­pa­rat (1996); Part­ner­schafts- und Koope­ra­ti­ons­ab­kom­men mit der EU (1997); NATO-Russ­land-Grund­ak­te zur Stär­kung des gegen­sei­ti­gen Ver­trau­ens (1997); Auf­nah­me Russ­lands in die G7 (1998); Bil­dung des NATO-Russ­land-Rats (2002); Auf­nah­me Russ­lands in die Welt­han­dels­or­ga­ni­sa­ti­on WTO (2011).

Wenn Putin von „Sicher­heits­ga­ran­tien“ spricht, schwebt ihm eine Auf­tei­lung Euro­pas in Ein­fluss-Sphä­ren vor, wie sie die Kon­fe­renz von Jal­ta 1945 vor­ge­nom­men hat­te. Ost­deutsch­land und die mit­tel- und ost­eu­ro­päi­schen Län­der wur­den sei­ner­zeit dem Ein­fluss­be­reich der Sowjet­uni­on zuge­ord­net. Aber die­se Spal­tung des Kon­ti­nents wur­de durch den Hel­sin­ki-Pro­zess und das Ende des Kal­ten Krie­ges überwunden. 

Grundprinzipien der Friedensordnung

Das Ergeb­nis des Hel­sin­ki-Pro­zes­ses war die Char­ta von Paris, die 1990 von den USA, Kana­da, der Sowjet­uni­on und prak­tisch allen euro­päi­schen Staa­ten unter­zeich­net wor­den war. In die­ser Char­ta sind die Prin­zi­pi­en für die Frie­dens­ord­nung in Euro­pa nach dem Ende des Kal­ten Kriegs fest­ge­legt: Gleich­be­rech­ti­gung und Sou­ve­rä­ni­tät aller Staa­ten, Unver­letz­lich­keit der Gren­zen, Gewalt­ver­zicht, Menschenrechte.

Mit der Anne­xi­on der Krim und der fort­ge­setz­ten Aggres­si­on gegen die Ukrai­ne ver­letzt Russ­land seit 2014 die Grund­prin­zi­pi­en die­ser gemein­sa­men Friedensordnung.

Ja, wir müs­sen des­halb wie­der über „Sicher­heits­ga­ran­tien“ spre­chen. Die für Janu­ar ange­kün­dig­ten Ver­hand­lun­gen zwi­schen den USA, Russ­land und der NATO soll­ten dazu genutzt wer­den. Aber es geht nach der Ver­let­zung der ter­ri­to­ria­len Inte­gri­tät der Ukrai­ne durch Russ­land um Sicher­heits­ga­ran­tien für alle Staa­ten in Euro­pa, nicht nur für Russ­land, son­dern auch von Russland. 

Russ­land hat 2008 Süd­os­se­ti­en von Geor­gi­en annek­tiert, dann 2014 die Krim von der Ukrai­ne. Seit 2018 lässt Putin in Kali­nin­grad atom­waf­fen­fä­hi­ge Iskan­der-Rake­ten mit einer Reich­wei­te von 500 km sta­tio­nie­ren. Es gab Cyber­an­grif­fe aus Russ­land gegen den Deut­schen Bun­des­tag, Es gibt Töne aus Russ­land, die mit einem pre­emp­ti­ve strike (also einem Prä­ven­ti­v­an­griff auf die Ukrai­ne) dro­hen, wenn den For­de­run­gen nicht ent­spro­chen würde.

Es gibt also viel zu bespre­chen mit Putin. Basis für die­se Gesprä­che müs­sen die 1990 auch von der Sowjet­uni­on unter­schrie­be­nen Prin­zi­pi­en der Char­ta von Paris sein, nicht die 1945 gefass­ten Beschlüs­se der Sie­ger­mäch­te des 2. Welt­kriegs auf der Kon­fe­renz von Jal­ta. Dann geht es um ver­trau­ens­bil­den­de Maß­nah­men und um Abrüs­tung – wie seit 1975 im Hel­sin­ki-Pro­zess. So könn­te 2022 zu einem fried­li­chen Jahr in Euro­pa werden.

In die­sem Sinn alles Gute im neu­en Jahr – und blei­ben Sie gesund.

Herz­lich

Ihr Ruprecht Polenz

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Über den Autor

Vie­le Jah­re lang war Ruprecht Polenz Mit­glied des Rats der Stadt Müns­ter, zuletzt als CDU-Frak­ti­ons­vor­sit­zen­der. Im Jahr 1994 ging er als Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ter nach Ber­lin. Er war unter ande­rem CDU-Gene­ral­se­kre­tär, zwi­schen 2005 und 2013 Vor­sit­zen­der des Aus­wär­ti­gen Aus­schus­ses des Bun­des­tags. Von 2000 bis 2016 war Ruprecht Polenz Mit­glied des ZDF-Fern­seh­rats, ab 2002 hat­te er den Vor­sitz. Der gebür­ti­ge Bautz­e­ner lebt seit sei­nem Jura-Stu­di­um in Müns­ter. 2020 erhielt Polenz die Aus­zeich­nung „Gol­de­ner Blogger“.

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