Die Kolumne von Marion Lohoff-Börger | Masematte ist ein Aufreger 

Müns­ter, 22. Janu­ar 2023

Guten Tag,

die ers­te Fra­ge, die mir oft gestellt wird, ist die danach, wie ich denn zu der Mase­mat­te gekom­men sei. Dar­auf hole ich tief Luft und erzäh­le Fol­gen­des: Die Mase­mat­te und ich, das ist eine wech­sel­vol­le Geschich­te, die im Jahr 2016 begann, als mir das ers­te Mase­mat­te-Wör­ter­buch in die Hän­de fiel. Ich las es wie einen Kri­mi, so span­nend fand ich die Wör­ter, ihre Her­kunft und ihren Gebrauch. Heu­te, nach sie­ben Jah­ren, wür­de ich sagen, war das der Punkt, an dem sich die Mase­mat­te wie ein alter, kran­ker und aus dem Hals stin­ken­der Hund vor mei­ne Haus­tür gesetzt hat­te und sich nicht mehr ver­trei­ben ließ. Also muss­te ich mich wohl kümmern.

Begann ich anfangs noch blau­äu­gig und ziem­lich naiv mit der Beschäf­ti­gung mit Müns­ters soge­nann­ter „unter­ge­gan­ge­ner Geheim­spra­che“, so merk­te ich deut­lich, wenn ich mich mit der Mase­mat­te auf Müns­ters öffent­li­ches Par­kett wag­te, mir immer wie­der ein böiger bis stür­mi­scher Wind ent­ge­gen­weh­te (manch­mal mit Orkan­stär­ke). War­um das so war, das ver­stand ich erst viel später.

Identität und Abgrenzung

Bei einem Inter­view mit einer Jour­na­lis­tin in einem hip­pen Café im Han­sa­vier­tel misch­te sich plötz­lich eine gut geklei­de­te, mir völ­lig unbe­kann­te Frau in den Sech­zi­gern, die zwei Tische wei­ter saß, wütend in unser Gespräch ein (ja, ich habe eine lau­te und durch­drin­gen­de Stim­me, man ver­steht mich gut). 

Sie keif­te rich­tig­ge­hend, was mir denn ein­fal­len wür­de, die Masemattesprecher:innen der­art zu ver­un­glimp­fen. Was hat­te ich gera­de nur gesagt? Da fiel bei mir der Gro­schen: Sie fühl­te sich ange­grif­fen, weil ich behaup­tet hat­te, die Akademiker:innen hät­ten sich in den spä­ten Sech­zi­ger­jah­ren die Mase­mat­te unter den Nagel geris­sen und die Spra­che in ihrer ursprüng­li­chen Form, die Müns­ter mit dem Holo­caust ver­lo­ren gegan­gen sei, missbraucht. 

Okay, ich gebe heu­te zu, das war schon etwas krass aus­ge­drückt. Damals war ich scho­ckiert, denn wer traut sich schon in einem Café in ein Gespräch an einem ande­ren Tisch ein­zu­grei­fen, bei dem es sich offen­sicht­lich um ein Inter­view han­delt? Es muss­te etwas sehr Per­sön­li­ches gewe­sen sein. Heu­te weiß ich es: Es ging (und das geht es immer bei der Mase­mat­te) um Identität.

Bei einer ande­ren Gele­gen­heit war ich zu einer Ver­an­stal­tung der Dro­gen­hil­fe Müns­ter ein­ge­la­den, um den unter­hal­ten­den Part zu über­neh­men. Ich erzähl­te an die­sem Abend fröh­lich und unbe­küm­mert auf und über Mase­mat­te. In der Pau­se unter­hielt ich mich mit einem Street­wor­ker, der am Bre­mer Platz hin­ter dem Bahn­hof arbei­te­te, und er berich­te­te mir, dass sei­ne ganz alten Kli­en­ten nichts mehr hät­ten, kein Zuhau­se, kein Geld, kei­ne Zukunft. Aber nur noch eines besä­ßen sie, was ihre Iden­ti­tät aus­ma­che und ihnen Selbst­ach­tung schen­ke: die Mase­mat­te, ihre alte urei­ge­ne Spra­che, mit der sie sich abgren­zen konnten. 

Wer spricht überhaupt noch Masematte?

Das war ein gewal­ti­ger Knack­punkt in mei­ner Beschäf­ti­gung mit der Mase­mat­te. Ich hör­te auf, sie rein zu unter­hal­ten­den Zwe­cken zu benut­zen und begann immer tie­fer zu gra­ben und zu recher­chie­ren, was sie eigent­lich wirk­lich ist – dabei im Hin­ter­kopf behal­tend, dass es, wenn man sich in Müns­ter mit Mase­mat­te beschäf­tigt, wirk­lich ans Ein­ge­mach­te geht. Mase­mat­te ist ein Auf­re­ger. Und alle inter­es­sie­ren sich dafür.

An die­sem Punkt drängt sich die Fra­ge auf: Wer spricht denn heu­te über­haupt noch Mase­mat­te in Müns­ter? Wird die Spra­che noch gespro­chen und wenn ja, von wem und zu wel­chem Anlass? 

Auf die­se Fra­ge möch­te ich heu­te in mei­ner ers­ten Kolum­ne bei RUMS ein­ge­hen. Wei­te­re inter­es­san­te Ergeb­nis­se mei­ner Erfah­run­gen und Recher­chen mit der Son­der­spra­che Mase­mat­te wer­de ich in Zukunft an die­ser Stel­le dar­stel­len dür­fen (was mich stolz und dank­bar macht). Heu­te geht es nun erst mal nur dar­um, wer denn in Müns­ter noch Mase­mat­te spricht und vor allem: wer sie ursprüng­lich gespro­chen hat. 

Mase­mat­te heißt „Han­del trei­ben“ und kommt aus dem Jid­di­schen bzw. Hebräi­schen. Die Bezeich­nung Mase­mat­te ist eine Fremd­be­zeich­nung des Müns­te­ra­ner Bür­ger­tums, um die Men­schen zu benen­nen, die in engen Vier­teln der Stadt leb­ten, weil sie Mit­te des 19. Jahr­hun­derts gezwun­gen wur­den, sess­haft zu werden. 

Vor­her leb­ten die wenig will­kom­me­nen Gäs­te vom mobi­len Han­del und Hand­werk, waren Fah­ren­de, Schau­stel­ler und Vieh­händ­ler. Sagt heu­te jemand, was ich selbst anfangs blau­äu­gig bejaht hät­te, dass die Mase­mat­te eine „Spra­che von Gano­ven, Gau­nern und jüdi­schen Vieh­händ­lern“ gewe­sen sei, grenzt das nach mei­nem heu­ti­gen Erkennt­nis­stand an Antisemitismus. 

Pluggendorf, Sonnenstraße, Kuhviertel

Ja, ja, auch das ist pro­vo­kant. Und, oh ja, auch damit mache ich mich bei mei­nen Lesun­gen und Vor­trä­gen nicht son­der­lich beliebt und ecke immer wie­der an. Vor allem bei der 60-plus-Gene­ra­ti­on, man erin­ne­re sich an die oben erwähn­te Frau aus dem Café, die genau zu die­ser Grup­pe gehör­te. Aber jetzt doch mal sys­te­ma­tisch und von vorne. 

Mase­mat­te wur­de von der Mit­te des 19. Jahr­hun­derts bis zum Holo­caust und dem zwei­ten Welt­krieg in Müns­ter in sei­ner ursprüng­li­chen Form von einer klei­nen Bevöl­ke­rungs­grup­pe in bestimm­ten Vier­teln gespro­chen. Eini­gen wir uns dar­auf, sie die Pri­mär­ma­se­mat­te zu nennen. 

Der Groß­teil der Masemattesprecher:innen wur­de von den Nazis ver­schleppt und umge­bracht, nicht erst 1942 mit den Trans­por­ten nach Riga, son­dern ver­mut­lich schon viel frü­her als soge­nann­te „Aso­zia­le“. Die Spre­cher­vier­tel Plug­gen­dorf, Son­nen­stra­ße und das Kuh­vier­tel wur­den zum gro­ßen Teil im zwei­ten Welt­krieg zer­stört, nur Klein-Muf­fi (eigent­lich Mochum, aber das ist eine ande­re span­nen­de Geschich­te) zwi­schen Wol­be­cker Stra­ße und Kanal blieb erhalten. 

In den Fünf­zi­ger­jah­ren tauch­te die Mase­mat­te beim Wie­der­auf­bau Müns­ters unter den Arbei­tern erneut auf. Ab hier spre­chen wir von Sekun­där­ma­se­mat­te. Die Spra­che der Mau­rer war die soge­nann­te Speismakeimersprache. 

Die Kin­der, die in den Fünf­zi­ger­jah­ren in der Schu­le Mase­mat­te­wör­ter benutz­ten, wur­den von ihren Lehrer:innen geschla­gen. Das haben mir ver­schie­de­ne Men­schen aus der 70-plus-Gene­ra­ti­on erzählt, es wur­de viel­fach bestä­tigt. Die­se Men­schen, die heu­te sieb­zig Jah­re und älter sind, emp­fin­den immer noch eine gewis­se Scham, wenn sie Mase­mat­te spre­chen sol­len. Am bes­ten kann man ihnen ein paar Wör­ter ent­lo­cken, wenn man mit ihnen zwei, drei Lowin­chen schi­ckert (Bier­chen trinkt). 

Ursprung als reine Spaßsache

Ob die Jugend auf dem Bau in den Fünf­zi­gern aus­ge­hol­fen hat oder die Eltern noch Bruch­stü­cke der alten Spra­che kann­ten, weiß man heu­te nicht. In den Sech­zi­ger­jah­ren aber wur­de Mase­mat­te in der Müns­te­ra­ner Jugend und Stu­den­ten­schaft Kult. 

Die stu­den­ti­sche Revo­lu­ti­on, wo Stu­die­ren­de sich gegen die alten ver­krus­te­ten Struk­tu­ren, Denk­wei­sen und Per­so­na­li­en an Uni, Schu­len und Ver­wal­tun­gen wehr­ten, brauch­te in Müns­ter eine adäqua­te Spra­che: Die Mase­mat­te mit ihren vie­len jid­di­schen Aus­drü­cken, Wor­ten aus dem Rot­wel­schen, einer alten Räu­ber­spra­che aus dem Mit­tel­al­ter und nicht zuletzt dem Roma­nes, der Spra­che der Sinti:zze und Rom:nja, eig­ne­te sich her­vor­ra­gend, um sich abzugrenzen. 

Die Stu­die­ren­den von damals, das ist die aktu­el­le Gene­ra­ti­on 60 plus der Masemattesprecher:innen, die sich, wie es die müns­ter­sche Stadt­ge­sell­schaft so ger­ne tut, brüs­tet, etwas ganz Beson­de­res zu sein, ein­zig­ar­tig sozu­sa­gen. „Kannst du Mase­mat­te? Nein? Ach, du bist nicht aus Müns­ter? Hm, ist ja nicht so schlimm.“ 

Abgren­zung und Aus­gren­zung vom Feins­ten. Und da wird er wie­der sicht­bar, der rote Faden, der sich durch die heu­ti­ge Kolum­ne zieht: die Iden­ti­tät. Abgren­zung ver­bun­den mit Aus­gren­zung ist da nur die ande­re, unschö­ne Seite. 

Eini­ge die­ser Spre­cher­grup­pe dach­ten in den Sieb­zi­gern und Acht­zi­gern, es wäre doch eine jov­le (gute) Idee, man wür­de Glos­sen und Kar­ne­vals­re­den auf Mase­mat­te schrei­ben und hal­ten. Hier hat die Mase­mat­te ihren Ursprung als rei­ne Spaß­spra­che – etwas, das ihr bis heu­te lei­der nachhängt. 

Bei vie­len mei­ner Lesun­gen mache ich die Erfah­rung, dass die Zuhörer:innen, wenn ich die ers­ten Mase­mat­te-Wör­ter aus­ge­spro­chen habe, schon lachen, obwohl es noch über­haupt gar nicht lus­tig ist. Jovel, sch­ofel, Lee­ze, Lowi­ne und Co. sind für eini­ge ein­fach wit­zig. Auch das muss­te ich erst müh­sam ler­nen und vor allem auch den Umgang damit (wie? Ich mot­ze die Leu­te an, ganz einfach).

Zugewanderte brachten die Sprache mit

Aber, oh wel­che ange­neh­me wie auch span­nen­de Über­ra­schung: Mase­mat­te wird auch von ganz jun­gen Men­schen in Müns­ter gespro­chen. Wo denn? Bei den Preu­ßen-Ultras im Sta­di­on zum Bei­spiel oder sonn­tags­nach­mit­tags in Meck­len­beck oder Kin­der­haus auf dem Fuß­ball­platz. Die Mase­mat­te ist also auch noch in der 20-plus-Gene­ra­ti­on leben­dig und wird sinn­voll genutzt. Als Son­der­spra­che, die ande­re nicht ver­ste­hen sol­len und zur Stär­kung der eige­nen Iden­ti­tät. Wer hät­te das gedacht?

Und die gute Nach­richt ist: Dass wir die­ses Iden­ti­täts­merk­mal in Müns­ter besit­zen, haben wir den zuge­wan­der­ten Men­schen aus der Mit­te des 19. Jahr­hun­derts zu ver­dan­ken, die, nicht immer frei­wil­lig, in Müns­ter sess­haft wur­den und dar­auf mit der Ent­wick­lung einer eige­nen Kul­tur­form reagier­ten, der Mase­mat­te näm­lich, und damit in Müns­ter tat­säch­lich urei­ge­ne Spu­ren hinterließen.

Die­ser so wich­ti­ge Umstand wur­de mir kürz­lich in einem Gespräch mit einer Freun­din, die arme­ni­sche Wur­zeln hat, deut­lich. Nach­dem ich ihr auf Nach­fra­ge (sehr lei­se dies­mal) in einem hip­pen Café im Han­sa­vier­tel davon erzähl­te, was es eigent­lich mit der Mase­mat­te auf sich habe, strahl­te sie glück­lich und sag­te: „Dann haben damals schon Men­schen, Spu­ren in Müns­ter hin­ter­las­sen, auf die Müns­ter bis heu­te so stolz ist. Viel­leicht ist das in 200 Jah­ren mit mei­ner Spra­che auch so?“

Herz­li­che Grü­ße
Ihre Mari­on Lohoff-Börger

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Über die Autorin

Mari­on Lohoff-Bör­ger ist die Frau mit der Mase­mat­te und den alten Schreib­ma­schi­nen. Auf letz­te­ren schreibt sie Gedich­te und ver­kauft die­se in ihrem Ate­lier an der Wol­be­cker Stra­ße 105 als Post­kar­ten. Die Mase­mat­te möch­te die freie Autorin in Müns­ter zu einem leben­di­gen Sprach­denk­mal machen und ver­sucht die­ses mit Kur­sen, Vor­trä­gen, Lesun­gen, Büchern und Arti­keln für Zei­tun­gen und Online­ma­ga­zi­ne umzu­set­zen. 2021 stell­te sie beim Land Nord­rhein-West­fa­len den Antrag „Mase­mat­te als Imma­te­ri­el­les Kul­tur­er­be“, der abge­lehnt wur­de mit dem Hin­weis, die Stadt­ge­sell­schaft Müns­ter müs­se sich noch mehr für die­ses Kul­tur­gut engagieren. 

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