Die Kolumne von Ludwig Lübbers | Pflege und Prioritäten

Porträt von Ludwig Lübbers
Mit Ludwig Lübbers

Guten Tag,

die Situation ist angespannt. Die Bevölkerung wird immer älter, und das wirkt sich immer stärker auf das Pflegesystem aus. Laut dem Pflegebedarfsplan der Stadt ist die Zahl der Menschen in Münster zwischen 60 und 85 Jahren in den vergangenen zehn Jahren um ein Drittel gestiegen. Und Pflegedienstleistungen nehmen Menschen vor allem in ihren letzten beiden Lebensjahren in Anspruch.

Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen brauchen oft schon viel früher Pflege. Hinzu kommt: Wer in hohem Maße auf Leistungen der Pflegeversicherung angewiesen ist, gerät schnell in die Armutsfalle. Rente und Pflegegeld zusammen reichen oft nicht aus, um einen Heimplatz zu finanzieren. Außerdem sind diese Plätze eher Mangelware. Wie aber wollen wir mit Menschen, die auf Hilfe und Pflege angewiesen sind, menschenwürdig umgehen? Wie wollen wir ihnen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen?

Eine Antwort auf diese Frage ist die Pflegeversicherung. Sie wurde am 1. Januar 1995 eingeführt. Und sie war auch eine Antwort auf den gesellschaftlichen Wandel, in dem man die Pflege von Angehörigen nicht mehr allein dem Dreigenerationenprinzip überlassen konnte. Auch das Rollenbild von Frau und das Verständnis von Gleichberechtigung im Arbeitsleben hatten sich verändert.

Das Streben nach mehr individueller Freiheit, Unabhängigkeit und Arbeitsteilung der Menschen machte es notwendig, die Pflege von hilfsbedürftigen Menschen neu zu organisieren. Die Pflegeversicherung war als fünfte Säule unseres Sozialsystems gedacht.

Streit mit den Behörden

Die Versicherung startete mit drei sogenannten Pflegestufen. Heute gibt es fünf Pflegegrade. Der medizinische Dienst stuft Menschen ein, wenn sie gepflegt werden müssen. Er entscheidet darüber, wie viel Geld und welche Sachleistungen sie bekommen.

Das Einstufungsverfahren führt oft zu Streit mit den Behörden. Der Kriterienkatalog wird teilweise minutiös abgefragt, wenn es um Einschränkungen der Mobilität, der Selbständigkeit, der Selbstversorgung oder auch der kognitiven Fähigkeiten und der sozialen Kontakte der Betroffenen geht. Auf dieser Ebene haben sich betriebswirtschaftliche Strukturen durchgesetzt. Durch sie soll es möglich werden, objektiv einzuschätzen, wer Anspruch auf welche Leistungen hat.

Der Alltag der Betroffenen zeigt jedoch häufig, dass eine Bewertung von Lebenssituationen nach betriebswirtschaftlichen Kriterien sehr oft am Faktor Mensch scheitert. Menschliche Erkrankungen und deren Entwicklungsstadien und Ausprägungen lassen sich in vielen Fällen nicht einem mathematischen Modell unterwerfen. Der Komplexitätsgrad ist einfach zu hoch.

Allerdings müssen die Pflegekassen auch sicherstellen, dass Menschen sich Leistungen nicht unrechtmäßig erschleichen. Und man möchte diejenigen, die Angehörige in Eigenregie pflegen, ermutigen, Leistungen zu beantragen. Die bürokratischen Hürden sollen daher möglichst niedrig sein.

Gleichzeitig kämpft das System mit erheblichen Kostensteigerungen. Sie sind vor allem auf den demografischen Wandel zurückzuführen. Aus ökonomischer Sichtweise kann man die Pflege als Wachstumsbranche bezeichnen. Wäre dieser Zweig der Volkswirtschaft ein börsennotiertes Unternehmen, würde es sich wahrscheinlich lohnen, in diese Aktien zu investieren.

Das Grundgesetz macht keinen Unterschied

Es hätte sicher einen gewissen Charme, die Pflege als gesellschaftliche Investition zu betrachten und sie stärker in die Wertschöpfung des Bruttoinlandsprodukts einzubeziehen. Doch die Realität sieht anders aus.

Ambulante Pflegedienste und stationäre Einrichtungen wie Krankenhäuser und Seniorenheime klagen über einen chronischen Personalmangel. Zu den Hauptgründen gehören Unterbezahlung und mangelnde Jobattraktivität. Die Qualität der Pflege genügt daher an vielen Stellen nicht den Ansprüchen, die der Artikel 1 des Grundgesetzes formuliert: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Das Grundgesetz macht keinen Unterschied zwischen gesunden Menschen und denen, die Hilfe brauchen, um selbstbestimmt leben zu können. Auch die Würde dieser Menschen ist unantastbar.

Wer jemanden pflegt, versucht diesem Menschen Lebensqualität zu ermöglichen, oft mit großer Leidenschaft. Häufig ist es eine Herzensangelegenheit, den Lebenspartner, die Lebenspartnerin oder einen Angehörigen zu Hause zu betreuen. Aber irgendwann gelangen die Pflegenden an einen Punkt, an dem Hilfe von außen nötig ist.

Die meisten Menschen, die Leistungen von der Pflegeversicherung beziehen, bekommen Geld, gefolgt von Sachleistungen. Es kommen zum Beispiel ambulante Pflegedienste zum Einsatz.

Damit lässt sich ein eindeutiger Trend feststellen: Menschen mit Pflegebedarf wollen so lange wie möglich zu Hause leben.

Die Pflegeversicherung unterstützt dieses Lebensmodell, stößt damit aber oft an die Grenzen. Wie auch in den Krankenhäusern fehlt es an Personal. Es braucht Reserven, um bei Krankheitsausfällen gewappnet zu sein. Aber schon der reguläre Bedarf lässt sich oft kaum decken. Die Arbeitsbedingungen tragen zu einer hohen Fluktuation bei. Und der Bedarf an stationären Pflegeplätzen steigt.

Fragwürdige Argumentation

Auf dem Papier wäre die Lösung einfach: Man müsste die Menschen besser bezahlen und die Personalschlüssel verbessern. In der Realität ist das kaum möglich.

Menschen mit Behinderungen sind unter Umständen schon sehr früh in ihrem Leben auf Pflegeleistungen angewiesen. Sie brauchen besondere Regelungen, um nicht in der Armutsfalle zu landen.

Ein Vorbild könnten hier die contergangeschädigten Menschen sein. Sie haben vor etwa zehn Jahren nach einem mehrjährigen und öffentlich geführten Kampf eine massive staatliche Rentenerhöhung durchgesetzt – mit der Begründung, dass die Folgeschäden ihrer Behinderungen zu einem finanziellen Mehrbedarf führen.

Zur Erinnerung: Vor rund 60 Jahren führte ein Schlafmittel der Firma Grünenthal zu einem der größten Medizinskandale der Geschichte. Tausende von Kindern kamen mit Missbildungen zur Welt. Ich habe damals eine Anfrage an den Petitionsausschuss des Bundestags gestellt. Ich wollte wissen, warum diese Regelung nicht für alle Menschen mit Behinderungen gilt – vor allem nicht für alle, die von Geburt an mit einer Behinderung aufgewachsen sind. Die Antwortet war: Bei Contergangeschädigten handle es sich um eine „Sondergruppe“. Mir erscheint die Argumentation fragwürdig.

Pflege ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sie kann nicht ausschließlich durch Migration gelöst werden. Heute sind viele Menschen auf Pflege angewiesen, die einen erheblichen Beitrag zum heutigen Wohlstand geleistet haben. Für sie haben wir eine Verantwortung.

Betroffene sind unterrepräsentiert

Es gibt einige Vorschläge, die helfen könnten, die Situation in der Pflege zu verbessern. Dazu gehören eine bessere Verbindung zwischen jungen und alten Menschen, Unterstützung durch ehrenamtliche Arbeit, bessere Arbeitsbedingungen, mehr Anerkennung für Pflegeberufe, mehr öffentliche Aufmerksamkeit und gezieltes politisches Engagement.

Als Lehrer an einer Schule würde ich mir wünschen, dass unsere Schülerinnen und Schüler durch niedrigschwellige Angebote, zum Beispiel in Form von Arbeitsgemeinschaften, an ein solches Ehrenamt herangeführt werden. Spielenachmittage, Einkaufs- oder Begleitdienste könnten helfen, Berührungsängste zwischen jungen und alten Menschen abzubauen.

Wie die Pflegeversicherung ausgestaltet ist, und wie wir mit Menschen umgehen, die eine Behinderung haben, das liegt in den Händen der Parlamente. Doch die Betroffenen sind dort stark unterrepräsentiert.

Im Europäischen Parlament in Brüssel gibt es mit Katrin Langensiepen nur eine einzige Frau, die eine sichtbare Behinderung hat. Eine Behindertenquote, wie wir sie aus der Arbeitswelt kennen, könnte die Situation auch hier verbessern.

Ein höherer Anteil an Betroffenen in den Parlamenten könnte dazu beitragen, dass die Perspektive dieser Menschen bei Entscheidungen eine größere Rolle spielt. Das könnte Veränderungen anstoßen. Und es könnte dabei helfen, die Finanzierung der Pflege und die Würde der Menschen gleichermaßen im Blick zu behalten.

Außerdem ergäbe sich so ein wertvoller Einblick in die Gesellschaft. Davon könnten wir alle lernen. Am Ende geht es um etwas ganz Einfaches: um die Prioritäten unserer Gesellschaft in der Pflege.

Herzliche Grüße

Ihr Ludwig Lübbers

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Porträt von Ludwig Lübbers

Ludwig Lübbers

… hat an der Uni Münster Mathematik und Sozialwissenschaften studiert und anschließend das Referendariat absolviert. Heute arbeitet er als Lehrer am Freiherr-vom-Stein-Gymnasium. Von 1997 bis 2000 initiierte und betreute er das Projekt „Handicap im Internet“, eine Plattform, auf der sich Menschen mit Behinderung vernetzen und austauschen konnten. In der städtischen Kommission zur Förderung der Inklusion (KIB) setzt er sich heute für die Interessen von Menschen mit Behinderungen in Münster ein. 2021 veröffentlichte er sein erstes Buch: „L’Ultima Spiaggia – Meine letzte Hoffnung“. In seinen RUMS-Kolumnen schreibt er über Barrieren und Barrierefreiheit, über den Alltag von Menschen mit Behinderung und über Inklusion in Münster.

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