Die Kolumne von Ludwig Lübbers | Pflege und Prioritäten

Müns­ter, 19. März 2023

Guten Tag,

die Situa­ti­on ist ange­spannt. Die Bevöl­ke­rung wird immer älter, und das wirkt sich immer stär­ker auf das Pfle­ge­sys­tem aus. Laut dem Pfle­ge­be­darfs­plan der Stadt ist die Zahl der Men­schen in Müns­ter zwi­schen 60 und 85 Jah­ren in den ver­gan­ge­nen zehn Jah­ren um ein Drit­tel gestie­gen. Und Pfle­ge­dienst­leis­tun­gen neh­men Men­schen vor allem in ihren letz­ten bei­den Lebens­jah­ren in Anspruch. 

Men­schen mit kör­per­li­chen Beein­träch­ti­gun­gen brau­chen oft schon viel frü­her Pfle­ge. Hin­zu kommt: Wer in hohem Maße auf Leis­tun­gen der Pfle­ge­ver­si­che­rung ange­wie­sen ist, gerät schnell in die Armuts­fal­le. Ren­te und Pfle­ge­geld zusam­men rei­chen oft nicht aus, um einen Heim­platz zu finan­zie­ren. Außer­dem sind die­se Plät­ze eher Man­gel­wa­re. Wie aber wol­len wir mit Men­schen, die auf Hil­fe und Pfle­ge ange­wie­sen sind, men­schen­wür­dig umge­hen? Wie wol­len wir ihnen die Teil­ha­be am gesell­schaft­li­chen Leben ermöglichen? 

Eine Ant­wort auf die­se Fra­ge ist die Pfle­ge­ver­si­che­rung. Sie wur­de am 1. Janu­ar 1995 ein­ge­führt. Und sie war auch eine Ant­wort auf den gesell­schaft­li­chen Wan­del, in dem man die Pfle­ge von Ange­hö­ri­gen nicht mehr allein dem Drei­ge­ne­ra­tio­nen­prin­zip über­las­sen konn­te. Auch das Rol­len­bild von Frau und das Ver­ständ­nis von Gleich­be­rech­ti­gung im Arbeits­le­ben hat­ten sich verändert. 

Das Stre­ben nach mehr indi­vi­du­el­ler Frei­heit, Unab­hän­gig­keit und Arbeits­tei­lung der Men­schen mach­te es not­wen­dig, die Pfle­ge von hilfs­be­dürf­ti­gen Men­schen neu zu orga­ni­sie­ren. Die Pfle­ge­ver­si­che­rung war als fünf­te Säu­le unse­res Sozi­al­sys­tems gedacht. 

Streit mit den Behörden

Die Ver­si­che­rung star­te­te mit drei soge­nann­ten Pfle­ge­stu­fen. Heu­te gibt es fünf Pfle­ge­gra­de. Der medi­zi­ni­sche Dienst stuft Men­schen ein, wenn sie gepflegt wer­den müs­sen. Er ent­schei­det dar­über, wie viel Geld und wel­che Sach­leis­tun­gen sie bekommen. 

Das Ein­stu­fungs­ver­fah­ren führt oft zu Streit mit den Behör­den. Der Kri­te­ri­en­ka­ta­log wird teil­wei­se minu­ti­ös abge­fragt, wenn es um Ein­schrän­kun­gen der Mobi­li­tät, der Selb­stän­dig­keit, der Selbst­ver­sor­gung oder auch der kogni­ti­ven Fähig­kei­ten und der sozia­len Kon­tak­te der Betrof­fe­nen geht. Auf die­ser Ebe­ne haben sich betriebs­wirt­schaft­li­che Struk­tu­ren durch­ge­setzt. Durch sie soll es mög­lich wer­den, objek­tiv ein­zu­schät­zen, wer Anspruch auf wel­che Leis­tun­gen hat. 

Der All­tag der Betrof­fe­nen zeigt jedoch häu­fig, dass eine Bewer­tung von Lebens­si­tua­tio­nen nach betriebs­wirt­schaft­li­chen Kri­te­ri­en sehr oft am Fak­tor Mensch schei­tert. Mensch­li­che Erkran­kun­gen und deren Ent­wick­lungs­sta­di­en und Aus­prä­gun­gen las­sen sich in vie­len Fäl­len nicht einem mathe­ma­ti­schen Modell unter­wer­fen. Der Kom­ple­xi­täts­grad ist ein­fach zu hoch. 

Aller­dings müs­sen die Pfle­ge­kas­sen auch sicher­stel­len, dass Men­schen sich Leis­tun­gen nicht unrecht­mä­ßig erschlei­chen. Und man möch­te die­je­ni­gen, die Ange­hö­ri­ge in Eigen­re­gie pfle­gen, ermu­ti­gen, Leis­tun­gen zu bean­tra­gen. Die büro­kra­ti­schen Hür­den sol­len daher mög­lichst nied­rig sein. 

Gleich­zei­tig kämpft das Sys­tem mit erheb­li­chen Kos­ten­stei­ge­run­gen. Sie sind vor allem auf den demo­gra­fi­schen Wan­del zurück­zu­füh­ren. Aus öko­no­mi­scher Sicht­wei­se kann man die Pfle­ge als Wachs­tums­bran­che bezeich­nen. Wäre die­ser Zweig der Volks­wirt­schaft ein bör­sen­no­tier­tes Unter­neh­men, wür­de es sich wahr­schein­lich loh­nen, in die­se Akti­en zu investieren. 

Das Grundgesetz macht keinen Unterschied

Es hät­te sicher einen gewis­sen Charme, die Pfle­ge als gesell­schaft­li­che Inves­ti­ti­on zu betrach­ten und sie stär­ker in die Wert­schöp­fung des Brut­to­in­lands­pro­dukts ein­zu­be­zie­hen. Doch die Rea­li­tät sieht anders aus. 

Ambu­lan­te Pfle­ge­diens­te und sta­tio­nä­re Ein­rich­tun­gen wie Kran­ken­häu­ser und Senio­ren­hei­me kla­gen über einen chro­ni­schen Per­so­nal­man­gel. Zu den Haupt­grün­den gehö­ren Unter­be­zah­lung und man­geln­de Job­at­trak­ti­vi­tät. Die Qua­li­tät der Pfle­ge genügt daher an vie­len Stel­len nicht den Ansprü­chen, die der Arti­kel 1 des Grund­ge­set­zes for­mu­liert: Die Wür­de des Men­schen ist unantastbar. 

Das Grund­ge­setz macht kei­nen Unter­schied zwi­schen gesun­den Men­schen und denen, die Hil­fe brau­chen, um selbst­be­stimmt leben zu kön­nen. Auch die Wür­de die­ser Men­schen ist unantastbar. 

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Wer jeman­den pflegt, ver­sucht die­sem Men­schen Lebens­qua­li­tät zu ermög­li­chen, oft mit gro­ßer Lei­den­schaft. Häu­fig ist es eine Her­zens­an­ge­le­gen­heit, den Lebens­part­ner, die Lebens­part­ne­rin oder einen Ange­hö­ri­gen zu Hau­se zu betreu­en. Aber irgend­wann gelan­gen die Pfle­gen­den an einen Punkt, an dem Hil­fe von außen nötig ist. 

Die meis­ten Men­schen, die Leis­tun­gen von der Pfle­ge­ver­si­che­rung bezie­hen, bekom­men Geld, gefolgt von Sach­leis­tun­gen. Es kom­men zum Bei­spiel ambu­lan­te Pfle­ge­diens­te zum Einsatz. 

Damit lässt sich ein ein­deu­ti­ger Trend fest­stel­len: Men­schen mit Pfle­ge­be­darf wol­len so lan­ge wie mög­lich zu Hau­se leben. 

Die Pfle­ge­ver­si­che­rung unter­stützt die­ses Lebens­mo­dell, stößt damit aber oft an die Gren­zen. Wie auch in den Kran­ken­häu­sern fehlt es an Per­so­nal. Es braucht Reser­ven, um bei Krank­heits­aus­fäl­len gewapp­net zu sein. Aber schon der regu­lä­re Bedarf lässt sich oft kaum decken. Die Arbeits­be­din­gun­gen tra­gen zu einer hohen Fluk­tua­ti­on bei. Und der Bedarf an sta­tio­nä­ren Pfle­ge­plät­zen steigt. 

Fragwürdige Argumentation

Auf dem Papier wäre die Lösung ein­fach: Man müss­te die Men­schen bes­ser bezah­len und die Per­so­nal­schlüs­sel ver­bes­sern. In der Rea­li­tät ist das kaum möglich. 

Men­schen mit Behin­de­run­gen sind unter Umstän­den schon sehr früh in ihrem Leben auf Pfle­ge­leis­tun­gen ange­wie­sen. Sie brau­chen beson­de­re Rege­lun­gen, um nicht in der Armuts­fal­le zu landen. 

Ein Vor­bild könn­ten hier die con­ter­gan­ge­schä­dig­ten Men­schen sein. Sie haben vor etwa zehn Jah­ren nach einem mehr­jäh­ri­gen und öffent­lich geführ­ten Kampf eine mas­si­ve staat­li­che Ren­ten­er­hö­hung durch­ge­setzt – mit der Begrün­dung, dass die Fol­ge­schä­den ihrer Behin­de­run­gen zu einem finan­zi­el­len Mehr­be­darf führen. 

Zur Erin­ne­rung: Vor rund 60 Jah­ren führ­te ein Schlaf­mit­tel der Fir­ma Grü­nen­thal zu einem der größ­ten Medi­zin­skan­da­le der Geschich­te. Tau­sen­de von Kin­dern kamen mit Miss­bil­dun­gen zur Welt. Ich habe damals eine Anfra­ge an den Peti­ti­ons­aus­schuss des Bun­des­tags gestellt. Ich woll­te wis­sen, war­um die­se Rege­lung nicht für alle Men­schen mit Behin­de­run­gen gilt – vor allem nicht für alle, die von Geburt an mit einer Behin­de­rung auf­ge­wach­sen sind. Die Ant­wor­tet war: Bei Con­ter­gan­ge­schä­dig­ten hand­le es sich um eine „Son­der­grup­pe“. Mir erscheint die Argu­men­ta­ti­on fragwürdig. 

Pfle­ge ist eine gesamt­ge­sell­schaft­li­che Auf­ga­be. Sie kann nicht aus­schließ­lich durch Migra­ti­on gelöst wer­den. Heu­te sind vie­le Men­schen auf Pfle­ge ange­wie­sen, die einen erheb­li­chen Bei­trag zum heu­ti­gen Wohl­stand geleis­tet haben. Für sie haben wir eine Verantwortung. 

Betroffene sind unterrepräsentiert

Es gibt eini­ge Vor­schlä­ge, die hel­fen könn­ten, die Situa­ti­on in der Pfle­ge zu ver­bes­sern. Dazu gehö­ren eine bes­se­re Ver­bin­dung zwi­schen jun­gen und alten Men­schen, Unter­stüt­zung durch ehren­amt­li­che Arbeit, bes­se­re Arbeits­be­din­gun­gen, mehr Aner­ken­nung für Pfle­ge­be­ru­fe, mehr öffent­li­che Auf­merk­sam­keit und geziel­tes poli­ti­sches Engagement.

Als Leh­rer an einer Schu­le wür­de ich mir wün­schen, dass unse­re Schü­le­rin­nen und Schü­ler durch nied­rig­schwel­li­ge Ange­bo­te, zum Bei­spiel in Form von Arbeits­ge­mein­schaf­ten, an ein sol­ches Ehren­amt her­an­ge­führt wer­den. Spie­le­nach­mit­ta­ge, Ein­kaufs- oder Begleit­diens­te könn­ten hel­fen, Berüh­rungs­ängs­te zwi­schen jun­gen und alten Men­schen abzubauen.

Wie die Pfle­ge­ver­si­che­rung aus­ge­stal­tet ist, und wie wir mit Men­schen umge­hen, die eine Behin­de­rung haben, das liegt in den Hän­den der Par­la­men­te. Doch die Betrof­fe­nen sind dort stark unterrepräsentiert. 

Im Euro­päi­schen Par­la­ment in Brüs­sel gibt es mit Kat­rin Lan­gen­sie­pen nur eine ein­zi­ge Frau, die eine sicht­ba­re Behin­de­rung hat. Eine Behin­der­ten­quo­te, wie wir sie aus der Arbeits­welt ken­nen, könn­te die Situa­ti­on auch hier verbessern. 

Ein höhe­rer Anteil an Betrof­fe­nen in den Par­la­men­ten könn­te dazu bei­tra­gen, dass die Per­spek­ti­ve die­ser Men­schen bei Ent­schei­dun­gen eine grö­ße­re Rol­le spielt. Das könn­te Ver­än­de­run­gen ansto­ßen. Und es könn­te dabei hel­fen, die Finan­zie­rung der Pfle­ge und die Wür­de der Men­schen glei­cher­ma­ßen im Blick zu behalten. 

Außer­dem ergä­be sich so ein wert­vol­ler Ein­blick in die Gesell­schaft. Davon könn­ten wir alle ler­nen. Am Ende geht es um etwas ganz Ein­fa­ches: um die Prio­ri­tä­ten unse­rer Gesell­schaft in der Pflege. 

Herz­li­che Grüße

Ihr Lud­wig Lübbers

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Über den Autor

Lud­wig Lüb­bers hat an der Uni Müns­ter Mathe­ma­tik und Sozi­al­wis­sen­schaf­ten stu­diert und anschlie­ßend das Refe­ren­da­ri­at absol­viert. Heu­te arbei­tet er als Leh­rer am Frei­herr-vom-Stein-Gym­na­si­um. Von 1997 bis 2000 initi­ier­te und betreu­te er das Pro­jekt „Han­di­cap im Inter­net“, eine Platt­form, auf der sich Men­schen mit Behin­de­rung ver­net­zen und aus­tau­schen konn­ten. In der städ­ti­schen Kom­mis­si­on zur För­de­rung der Inklu­si­on (KIB) setzt er sich heu­te für die Inter­es­sen von Men­schen mit Behin­de­run­gen in Müns­ter ein. 2021 ver­öf­fent­lich­te er sein ers­tes Buch: „L’Ultima Spi­ag­gia – Mei­ne letz­te Hoff­nung“. In sei­nen RUMS-Kolum­nen schreibt er über Bar­rie­ren und Bar­rie­re­frei­heit, über den All­tag von Men­schen mit Behin­de­rung und über Inklu­si­on in Münster.

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