Die Kolumne von Michael Tillmann | Münsters Störche: Wenn Natur auf Kultur trifft

Müns­ter, 23. Juli 2023

Guten Tag,

fällt Ihnen auch auf, dass flie­gen­de Stör­che über der Stadt Müns­ter inzwi­schen zu einer nor­ma­len Erschei­nung gewor­den sind? Wun­dern Sie sich, wenn Sie auf Fel­dern und Äckern manch­mal zehn oder gar zwan­zig und mehr Stör­che hin­ter Land­ma­schi­nen lau­fen sehen? 

Vor Jah­ren ent­deck­te ich auf dem berühm­ten Bild des nie­der­län­di­schen Malers Gerard ter Borch vom Ein­zug des nie­der­län­di­schen Gesand­ten Adria­an Pauw zu den Frie­dens­ver­hand­lun­gen in Müns­ter gro­ße Vögel – ein­deu­tig Weiß­stör­che. Das weck­te mei­ne Neu­gier und ich bin der Fra­ge nach­ge­gan­gen, ob es denn in der Ver­gan­gen­heit in Müns­ter und der unmit­tel­ba­ren Umge­bung Stör­che gab. 

Ich habe trotz aus­führ­li­cher Recher­che kei­ner­lei Hin­wei­se gefun­den und muss davon aus­ge­hen, dass in Müns­ter und Umge­bung der Storch nicht zum Brut­vo­gel­in­ven­tar gehör­te. Bis es 2001 zu einer ers­ten Brut in den Rie­sel­fel­dern kam. Inzwi­schen ist der Stor­chen­be­stand auf dem Stadt­ge­biet auf 72 Paa­re gestiegen.

Dazu zäh­len auch die 51 Paa­re, die die­ses Jahr im All­wet­ter­zoo nis­ten. Dort sind Stör­che zu einem gro­ßen Auf­re­ger­the­ma gewor­den, nach­dem sich im Zoo inner­halb weni­ger Tage zwei Jung­stör­che auf der Netz­ab­de­ckung der Greif­vo­gel­vo­lie­re ver­fan­gen hat­ten und dort ver­en­det sind. 

Die Mit­ar­bei­ter des Zoos hat­ten kei­ne Ret­tungs­ver­su­che unter­nom­men, weil sie sonst das Leben der jun­gen Gei­er im Nest dar­un­ter gefähr­de­ten. Bei Besu­chern hat dies zu empör­ten Reak­tio­nen geführt, die ihren Nie­der­schlag in den sozia­len Medi­en und Zei­tungs­über­schrif­ten wie „Zoo trifft Hor­ror­ent­schei­dung“ fanden. 

Störche sind Wildtiere

Kei­ne Fra­ge: Die Ent­schei­dung des Zoos ist nach­voll­zieh­bar, auch wenn das Mit­er­le­ben des Todes­kamp­fes für Besu­cher schwer erträg­lich war. Fest­zu­hal­ten bleibt: Stör­che sind Wild­tie­re, sie sind vom Zoo nicht ein­ge­la­den wor­den. Sie wer­den dort weder gefüt­tert noch zuge­füt­tert, sie müs­sen zuse­hen, wie sie ihren Nah­rungs­be­darf in der frei­en Land­schaft decken. Es gibt im Zoo gera­de mal fünf Nist­hil­fen, alle ande­ren Horst­stand­or­te haben die Vögel selbst gewählt. Fast alle Neu­an­sied­lun­gen fin­den in den Bäu­men statt und blei­ben vie­len Besu­chern verborgen.

Der Zoo schreibt in sei­ner Stel­lung­nah­me, „dass an kaum einer ande­ren Stel­le die Über­schnei­dung von urba­nem Raum und Natur so inten­siv ist wie in einem Zoo.“ Damit trifft er einen Kern des Pro­blems. Der Weiß­storch ist ein Kul­tur­fol­ger, er hat sich vor Jahr­hun­der­ten dem Men­schen und mensch­li­chen Sied­lun­gen ange­schlos­sen, nach­dem ihm der Mensch durch die Rodung von Wäl­dern Zugang zu sei­nen Nah­rungs­quel­len ver­schafft hat. 

Dar­aus ist eine fast ein­zig­ar­ti­ge Sym­bio­se ent­stan­den, die ihren Nie­der­schlag in unzäh­li­gen Mär­chen, Sagen und Gedich­ten gefun­den hat. Auch wenn der Storch als Vehi­kel zur Ver­mei­dung sexu­el­ler Auf­klä­rung aus­ge­dient hat, als Sym­bol der Frucht­bar­keit und Früh­lings­bo­te ist er noch immer tief im Gemüt vie­ler Men­schen ver­an­kert. Und trotz­dem bleibt der Storch ein Wild­tier. Sein Anschluss an den Men­schen ist mit allen Risi­ken, Neben­wir­kun­gen und Kon­flik­ten behaf­tet, die nun mal mit der moder­nen Zivi­li­sa­ti­on ver­bun­den sind. 

Stör­che wol­len zuwei­len unbe­dingt da nis­ten, wo eine Gefahr für Men­schen besteht, zum Bei­spiel auf akti­ven Kami­nen. Stör­che wer­den Opfer von Ver­kehrs­un­fäl­len, sie ster­ben manch­mal durch Strom­schlä­ge an Lei­tungs­mas­ten. Im Zoo haben eini­ge Stör­che schon den Aus­flug in das Frei­ge­he­ge von Tiger, Löwe und Co. mit dem Leben bezahlt. Jung­stör­che ver­en­den in ihren Nes­tern, weil sie Gum­mi­schnü­re schlu­cken oder weil das Nest wegen des Ein­trags von Plas­tik regen­un­durch­läs­sig gewor­den ist. 

Sie möchten dieses Thema mit anderen Leser:innen diskutieren oder uns Hinweise geben?

Nut­zen Sie ein­fach unse­re Kom­men­tar­funk­ti­on unter­halb die­ses Textes.
Wenn Sie die Kolum­ne gera­de als E-Mail lesen, kli­cken Sie auf den fol­gen­den Link, um den Text auf unse­rer Web­site aufzurufen:

› die­se Kolum­ne kommentieren

Jahr­zehn­te lang galt der Storch als Sym­bol für eine arten­rei­che und natur­na­he Agrar­land­schaft. Sein Vor­kom­men galt als Beleg dafür, dass hier Natur und Land­schaft noch intakt sind. Nicht von unge­fähr hat der Natur­schutz­bund Deutsch­lands den Weiß­storch als Sym­bol­vo­gel in sein Logo aufgenommen. 

Nun soll nicht geleug­net wer­den, dass es auch in Müns­ter hier und da Maß­nah­men zur Rena­tu­rie­rung und land­schaft­li­chen Auf­wer­tung gege­ben hat. Aber noch immer domi­niert weit­räu­mig der Mais­an­bau, der mit einer enor­men Ver­ar­mung der Bio­di­ver­si­tät ein­her­geht. Fast allen Vögeln der Agrar­land­schaft geht es schlecht: 

Der Kie­bitz steht im Stadt­ge­biet Müns­ter vor dem Aus­ster­ben, das Reb­huhn ist prak­tisch ver­schwun­den und unse­re Land­schaft ist stumm gewor­den, weil hier kei­ne Feld­ler­chen mehr auf­stei­gen und ihren Gesang erschal­len lassen.

Ein­zig der Weiß­storch hat sich in einem Maße als anpas­sungs­fä­hig erwie­sen, das selbst Fach­leu­te noch vor weni­gen Jah­ren nicht für mög­lich gehal­ten haben. Das ver­mehr­te Vor­kom­men lässt sich jeden­falls nicht inter­pre­tie­ren als Fol­ge einer groß­räu­mi­gen Erho­lung von Natur und Landschaft.

Hier spielt wohl auch der Kli­ma­wan­del eine Rol­le, der die Stör­che ver­an­lasst hat, nicht mehr über Gibral­tar bis nach West­afri­ka zu flie­gen, son­dern in Spa­ni­en zu blei­ben, wo sie auf Müll­de­po­nien und Reis­fel­dern gut über den Win­ter kom­men. Sie kom­men schon sehr früh und mit guter Kon­di­ti­on wie­der zurück und beset­zen ihren Horst. 

Starke Zunahme im Westen

In allen west­deut­schen Bun­des­län­dern sind die Stor­chen­be­stän­de in den letz­ten zehn Jah­ren rasant ange­stie­gen, so dass in eini­gen Städ­ten und Regio­nen ernst­haft über Begren­zungs­maß­nah­men nach­ge­dacht wird.

Auch der Zoo in Müns­ter wäre froh, wenn sich mehr Stör­che außer­halb des Zoos ansie­deln wür­den. Aber einen wirk­sa­men Len­kungs­me­cha­nis­mus hat man dafür noch nicht gefun­den. Zwar haben in die­sem Jahr 21 Paa­re auch im übri­gen Stadt­ge­biet gebrü­tet, aber die Anzie­hungs­kraft, die von der bestehen­den Zoo­ko­lo­nie aus­geht, ist ein­fach zu groß.

Stör­che gal­ten frü­her als Glücks­brin­ger. Viel­leicht hat der Maler ter Borch auch das im Sin­ne gehabt, als er die Stör­che als deko­ra­ti­ve Ele­men­te in sein Bild ein­füg­te. Heu­te sind die Stör­che über Müns­ter eine rea­le Erschei­nung. Sie sind eine enor­me Berei­che­rung für unse­re Umwelt und ein gro­ßes Glück, das noch vor weni­gen Jah­ren kei­ner erwar­tet hatte.

Schau­en Sie mal ab und zu nach oben und freu­en Sie sich, wenn sie die­se fas­zi­nie­ren­den Vögel am Him­mel erbli­cken. Es wäre doch ein schö­nes Sonntagserlebnis.

Herz­li­che Grüße

Micha­el Tillmann

Diesen Brief teilen und RUMS weiterempfehlen:

Über den Autor

Micha­el Till­mann hat an der Uni Müns­ter Mathe­ma­tik und Sozi­al­wis­sen­schaf­ten stu­diert und die­se Fächer über 36 Jah­re unter­rich­tet. In den Neun­zi­ger­jah­ren enga­gier­te er sich bei der Erar­bei­tung der „Loka­len Agen­da” – einem Hand­lungs­pro­gramm, um Kom­mu­nen nach­hal­tig wer­den zu las­sen. Er ist stell­ver­tre­ten­des Mit­glied im Kli­ma­bei­rat der Stadt Müns­ter, war von 2015 bis 2020 ver­ant­wort­lich für den News­let­ter „Kli­ma-Info Müns­ter kom­pakt“ und ist Initia­tor der „Müns­te­ra­ner Kli­ma­ge­sprä­che“. Außer­halb sei­nes Kli­ma­en­ga­ge­ments beschäf­tigt sich Micha­el Till­mann seit vie­len Jah­ren inten­siv mit Weiß­stör­chen. Er ist einer der Spre­cher der NRW-Lan­des­ar­beits­ge­mein­schaft Weiß­storch und in die­sem Rah­men mit der Erfas­sung und Doku­men­ta­ti­on des Stor­chen­ge­sche­hens in Müns­ter und in Tei­len des Müns­ter­lan­des befasst. Micha­el Till­mann ist 75 Jah­re alt, Mit­glied bei Bündnis90/Die Grü­nen und Groß­va­ter von fünf Enkeln.

Die RUMS-Kolumnen

Immer sonn­tags schi­cken wir Ihnen eine Kolum­ne. Das sind Tex­te, in denen unse­re acht Kolum­nis­tin­nen und Kolum­nis­ten The­men ana­ly­sie­ren, bewer­ten und kom­men­tie­ren. Die Tex­te geben ihre eige­ne Mei­nung wie­der, nicht die der Redak­ti­on. Mit­glied­schaf­ten in poli­ti­schen Par­tei­en oder Orga­ni­sa­tio­nen machen wir trans­pa­rent. Wenn Sie zu den The­men der Kolum­nen ande­re Mei­nun­gen haben, schrei­ben Sie uns gern. Wenn Sie möch­ten, ver­öf­fent­li­chen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unse­ren Tex­ten Feh­ler fin­den, freu­en wir uns über Hin­wei­se. Die Kor­rek­tu­ren ver­öf­fent­li­chen wir eben­falls im RUMS-Brief.