Die Kolumne von Ruprecht Polenz | Wir sollten wieder helfen

Müns­ter, 29. August 2021

Einen schö­nen Sonn­tag wün­sche ich Ihnen.

Am ver­gan­ge­nen Mon­tag ist Vol­ker Maria Hügel das Bun­des­ver­dienst­kreuz ver­lie­hen wor­den. Ober­bür­ger­meis­ter Mar­kus Lewe, der ihm die Aus­zeich­nung in der Rüst­kam­mer des Rat­hau­ses über­reich­te, wür­dig­te den 69-Jäh­ri­gen als Grün­der und Motor der Gemein­nüt­zi­gen Gesell­schaft zur Unter­stüt­zung Asyl­su­chen­der (GGUA).

Hügel habe den Ein­satz für Geflüch­te­te und den Schutz von Min­der­hei­ten zu sei­ner Lebens­auf­ga­be gemacht. Es gehe ihm dar­um, die­sen Men­schen wirk­li­che Teil­ha­be in unse­rer Gesell­schaft zu ermög­li­chen. Damit habe er viel zu einem par­tei­über­grei­fen­den Müns­ter-Kon­sens in der Flücht­lings­po­li­tik bei­getra­gen, die sich genau das zum Ziel gesetzt habe, so Mar­kus Lewe.

Müns­ter als Stadt, in der Geflüch­te­te Auf­nah­me fin­den und die offen ist für ihre Teil­ha­be und Mit­wir­kung am Stadt­ge­sche­hen – die­ser Müns­ter-Kon­sens wird jetzt auf eine neue Pro­be gestellt.

Wir sehen die schreck­li­chen Bil­der vom Flug­ha­fen in Kabul. Ver­zwei­fel­te Men­schen ver­su­chen, sich vor den Tali­ban in Sicher­heit zu bringen.

Vie­le von ihnen haben als soge­nann­te Orts­kräf­te für die 53 Natio­nen gear­bei­tet, die am Afgha­ni­stan-Ein­satz der NATO in den letz­ten 20 Jah­ren betei­ligt waren. Als Dolmetscher:innen, zivi­les Per­so­nal in den Feld­la­gern der aus­län­di­schen Streit­kräf­te oder zur Unter­stüt­zung der vie­len Orga­ni­sa­tio­nen, die im gan­zen Land Ent­wick­lungs­hil­fe geleis­tet haben: Kran­ken­häu­ser, Schu­len, Infrastruktur.

Besondere Verantwortung

Die­se Orts­kräf­te und ihre Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen sind jetzt in gro­ßer Gefahr. Sie müs­sen die Rache der Tali­ban fürch­ten, weil sie für die „aus­län­di­schen Besat­zer“ gear­bei­tet haben. Sie haben für ihr Land gear­bei­tet und für uns. Des­halb trägt Deutsch­land – eben­so wie die ande­ren am Ein­satz betei­lig­ten Natio­nen – eine beson­de­re Ver­ant­wor­tung für ihre Sicherheit.

Ich bin ent­täuscht und zor­nig dar­über, dass es offen­sicht­lich kei­nen Plan C für den Not­fall gab, der jetzt ein­ge­tre­ten ist. Auch wenn man einen sol­chen Exit vor Jah­ren für aus­ge­schlos­sen gehal­ten hat, hät­te man trotz­dem für den Worst Case eine Stra­te­gie ent­wi­ckeln müs­sen, wie die Orts­kräf­te für den Fall der Fäl­le aus­rei­sen und in Sicher­heit gebracht wer­den kön­nen. Die not­wen­di­gen Papie­re, Sicher­heits­über­prü­fun­gen und Lis­ten der mög­li­cher­wei­se zu Eva­ku­ie­ren­den hät­te man viel frü­her anle­gen und stän­dig fort­schrei­ben müssen.

Im Febru­ar 2020 hat­te Trump sei­nen „Deal“ mit den Tali­ban abge­schlos­sen: voll­stän­di­ger Abzug der ame­ri­ka­ni­schen Trup­pen bin­nen 14 Mona­ten, gegen die Zusa­ge eines Waf­fen­still­stands der Tali­ban gegen­über den USA.

Damit waren die Wür­fel gefal­len. Die Tali­ban, die in vie­len Tei­len des Lan­des über eine „Schat­ten­ver­wal­tung“ ver­fü­gen, die „Steu­ern“ und ande­re Abga­ben erpresst, gin­gen in die Offen­si­ve. Schon bald kon­trol­lier­ten sie immer grö­ße­re Tei­le des Landes.

Auch wenn nie­mand gedacht hät­te, dass es so schnell gehen wür­de, war doch mit hoher Wahr­schein­lich­keit damit zu rech­nen, dass es nach dem Abzug der USA eine Fra­ge von weni­gen Mona­ten sein könn­te, bis die Tali­ban die Herr­schaft an sich geris­sen hätten.

Die Bun­des­re­gie­rung hät­te des­halb auch das Ver­fah­ren der Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung ver­än­dern müs­sen.

Es war doch ersicht­lich, dass die afgha­ni­schen Ehepartner:innen deut­scher Staats­an­ge­hö­ri­ger die deut­sche Spra­che nicht mehr in Afgha­ni­stan wür­den ler­nen kön­nen, um die Vor­aus­set­zun­gen für ein Ein­rei­se­vi­sum zu erfül­len. De fac­to hat die Bun­des­re­gie­rung durch das Fest­hal­ten an die­ser Regel gegen die grund­ge­setz­li­che Pflicht ver­sto­ßen, Ehe und Fami­lie beson­ders zu schüt­zen (Art. 6 Abs. 1 GG).

Bundeswehr leistet jetzt Außergewöhnliches

Im Mai habe ich einen Appell an die Bun­des­re­gie­rung unter­schrie­ben, sich jetzt end­lich um die Orts­kräf­te und ihre Sicher­heit zu kümmern.

Das Paten­schafts­netz­werk für Orts­kräf­te der Bun­des­wehr geht von ca. 8.000 Orts­kräf­ten und ihren Fami­li­en aus, um deren Sicher­heit es geht.

Wie vie­le von ihnen bis­her nach Deutsch­land gebracht wer­den konn­ten, lässt sich nicht genau sagen. Es waren jeden­falls zu weni­ge, die noch zu einem Zeit­punkt nach Deutsch­land gebracht wur­den, als das gefahr­los mög­lich war.

Die Soldat:innen der Bun­des­wehr leis­ten jetzt Außer­ge­wöhn­li­ches, um trotz sehr gefähr­li­cher Bedin­gun­gen so vie­le von ihnen zu ret­ten wie nur irgend mög­lich. Über 5.370 Per­so­nen haben sie bis­her aus­ge­flo­gen. Dafür gebührt ihnen Dank und gro­ße Anerkennung.

Neben den Orts­kräf­ten und ihren Fami­li­en sind die­je­ni­gen Afghan:innen beson­ders gefähr­det, die sich für die Demo­kra­ti­sie­rung ihres Lan­des ein­ge­setzt haben: als Menschenrechtsaktivist:innen, Lehrer:innen, Richter:innen, Künstler:innen. Frau­en, die sich am öffent­li­chen Leben betei­ligt haben, müs­sen Schlim­mes von den Tali­ban fürchten.

In weni­gen Tagen wird zunich­te gemacht, was über 20 Jah­re auf­ge­baut wur­de. Das Ziel der 53 Natio­nen, die an dem Ein­satz in Afgha­ni­stan betei­ligt waren, wur­de nicht erreicht: ein sta­bi­les Land, in dem alle Afghan:innen sicher und in Frie­den leben können.

Aber aus dem Ver­such, die­ses Ziel zu errei­chen, erwächst auch eine Ver­ant­wor­tung gegen­über den Afghan:innen, die sich mit uns dafür enga­giert haben. Sie haben etwas ris­kiert nach dem Sturz der Tali­ban im Jahr 2001. Denn die Tali­ban waren ja nie völ­lig von der Bild­flä­che ver­schwun­den, son­dern woll­ten durch unzäh­li­ge Ter­ror- und Selbst­mord­an­schlä­ge, die tau­sen­de unschul­di­ger Opfer for­der­ten, einen demo­kra­ti­schen Staats­auf­bau verhindern.

Vie­le, die nicht unter einer Schre­ckens­herr­schaft der Tali­ban leben wol­len, wer­den in den nächs­ten Mona­ten und Jah­ren irgend­wie ver­su­chen, aus Afgha­ni­stan zu flie­hen. Deutsch­land soll­te sich mit ande­ren auf­nah­me­be­rei­ten Staa­ten wie Kana­da, Groß­bri­tan­ni­en und den USA zusam­men­tun, um ein groß ange­leg­tes, inter­na­tio­na­les Pro­gramm zur Neu­an­sied­lung von Geflüch­te­ten (Resett­le­ment) auf die Bei­ne zu stel­len, koor­di­niert vom Flücht­lings­hilfs­werk der Ver­ein­ten Natio­nen, der UNHCR. So wie einst im Fall der Vietnam-Flüchtlinge.

Vol­ker Maria Hügel hat die GGUA 1979 gegrün­det. Etwa zur glei­chen Zeit star­te­te Rupert Neu­deck damals mit dem Ret­tungs­schiff Cap Ana­mur ins süd­chi­ne­si­sche Meer. Hun­dert­tau­sen­de Vietnames:innen hat­ten sich nach dem Ende des Viet­nam-Krie­ges auf die Flucht vor den Kommunist:innen des Nor­dens gemacht. 840.000 von ihnen erreich­ten in Boo­ten die Flücht­lings­la­ger in der Regi­on. Vie­le, die es auch ver­sucht hat­ten, ertran­ken im Meer oder wur­den von Pirat:innen über­fal­len. Rupert Neu­deck gelang es, mit sei­ner Cap Ana­mur mehr als 11.000 viet­na­me­si­sche Boots­flücht­lin­ge zu ret­ten. (Er hat­te übri­gens in Müns­ter stu­diert und war von 1969 bis 1971 Redak­teur des Semesterspiegels.)

Die Hilfsbereitschaft ist groß

Nach anfäng­li­chem Zögern der dama­li­gen Bun­des­re­gie­rung unter Hel­mut Schmidt hat­te sich auch Deutsch­land bereit erklärt, zehn­tau­sen­de Flüch­ten­de aus Asi­en auf­zu­neh­men. Den Durch­bruch brach­te damals der nie­der­säch­si­sche Minis­ter­prä­si­dent Ernst Albrecht (CDU), der ange­sichts der Bil­der von ver­zwei­fel­ten Men­schen erklärt hat­te, Nie­der­sach­sen sei bereit, not­falls im Allein­gang 1.000 Flüch­ten­de aus Viet­nam auf­zu­neh­men. So kamen 1978 die ers­ten Boots­flücht­lin­ge direkt aus Malay­sia, wohin sie sich zunächst geret­tet hat­ten, nach Han­no­ver. Die Jun­ge Uni­on schlug vor, 50.000 viet­na­me­si­sche Geflüch­te­te aufzunehmen.

Der Rat der Stadt Müns­ter beschloss auf Antrag der CDU ein­stim­mig, über das zuge­wie­se­ne Kon­tin­gent hin­aus wei­te­re hun­dert Viet­na­me­sen auf­zu­neh­men. Die Stadt stell­te zwei Sozialarbeiter:innen ein, um die Inte­gra­ti­on zu erleichtern.

Die Auf­nah­me der viet­na­me­si­schen Geflüch­te­ten ist eine huma­ni­tä­re Erfolgs­ge­schich­te. Das soll­te uns jetzt ermu­ti­gen, wenn es um afgha­ni­sche Geflüch­te­te geht.

Die Bereit­schaft, auch jetzt wie­der zu hel­fen, ist groß. Als ers­tes Bun­des­land hat Nord­rhein-West­fa­len zusätz­lich zu den 800 Plät­zen für Orts­kräf­te aus dem Kri­sen­ge­biet wei­te­re 1.000 Plät­ze für Frau­en aus Afgha­ni­stan zur Ver­fü­gung gestellt.

Damit wol­le man, so Minis­ter­prä­si­dent Armin Laschet, schnellst­mög­lich beson­ders bedroh­ten Bür­ger­recht­le­rin­nen, Men­schen­rechts­ak­ti­vis­tin­nen, Künst­le­rin­nen, Jour­na­lis­tin­nen und ande­ren mit ihren Fami­li­en in Deutsch­land eine siche­re Unter­kunft bieten.

Wei­te­re Geflüch­te­te aus Afgha­ni­stan wer­den fol­gen. Wir soll­ten sie auch in Müns­ter gut auf­neh­men. So, wie vor vier­zig Jah­ren die Boots­flücht­lin­ge aus Vietnam.

Ich wün­sche Ihnen eine gute Woche.

Herz­lich

Ihr Ruprecht Polenz


Über den Autor

Vie­le Jah­re lang war Ruprecht Polenz Mit­glied des Rats der Stadt Müns­ter, zuletzt als CDU-Frak­ti­ons­vor­sit­zen­der. Im Jahr 1994 ging er als Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ter nach Ber­lin. Er war unter ande­rem CDU-Gene­ral­se­kre­tär, zwi­schen 2005 und 2013 Vor­sit­zen­der des Aus­wär­ti­gen Aus­schus­ses des Bun­des­tags. Von 2000 bis 2016 war Ruprecht Polenz Mit­glied des ZDF-Fern­seh­rats, ab 2002 hat­te er den Vor­sitz. Der gebür­ti­ge Bautz­e­ner lebt seit sei­nem Jura-Stu­di­um in Müns­ter. 2020 erhielt Polenz die Aus­zeich­nung „Gol­de­ner Blogger“.

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