Die Kolumne von Ruprecht Polenz | Das Chancen-Aufenthaltsrecht verdient eine breite Mehrheit


Münster, 10. Juli 2022
Guten Tag,
ich wünsche Ihnen einen schönen Feriensonntag.
Vielleicht lesen Sie diesen Brief mit Blick aufs Meer oder auf die Alpen. Oder Sie überlegen, heute Nachmittag mal wieder in die Rieselfelder zu radeln.
Wer in den Ferien weiter weg will, muss sich an den Flughäfen auf einiges gefasst machen. Die langen Warteschlangen vor der Sicherheitsabfertigung hatten nicht nur mit dem Ansturm zu Ferienbeginn zu tun. Das Sicherheitspersonal wird auch während der nächsten Wochen noch fehlen. Selbst wenn es der Bundesregierung gelingen sollte, kurzfristig Fachpersonal aus der Türkei für den Dienst an deutschen Flughäfen zu gewinnen. Es wird nicht reichen, um alle Sicherheitsschleusen zu besetzen.
Überall sind die Stellenpläne auf Kante genäht
Personalmangel herrscht auch in der Gastronomie. Als die Restaurants wegen Corona geschlossen bleiben mussten, haben vor allem viele Teilzeitkräfte dem Gewerbe den Rücken gekehrt und sich einen anderen Job gesucht. Die Konsequenz: mancherorts reduzierte Öffnungszeiten, Abbau von gastronomischen Angeboten.
Auch das Handwerk klagt über Personalmangel. Vor allem Auszubildende fehlen. Nicht nur in den Berufen, die schon immer um den Nachwuchs kämpfen mussten, etwa Metzgereien oder das Bauhauptgewerbe. In diesen Tagen wird der sprichwörtliche rote Teppich so ziemlich vor jedem Handwerksbetrieb ausgerollt, um Auszubildende zu gewinnen.
Dazu kommt der schon chronische Mangel an Pflegepersonal und an Erzieher:innen. Wie sehr die Stellenpläne auf Kante genäht sind, zeigt sich jetzt, wo viele an Corona erkrankt sind und länger ausfallen.
Jedes Jahr fehlen mehr berufstätige Menschen
Sicher, es sind auch ungünstige Arbeitszeiten oder schlechte Bezahlung, die dazu führen, dass nicht genügend Mitarbeiter:innen gewonnen werden können. Aber eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen allein wird das grundsätzliche Problem nicht lösen. Denn Deutschland fehlen Menschen. Vor allem berufstätige Menschen. Und das jedes Jahr mehr.
Ab jetzt werden jedes Jahr viel mehr Menschen aus dem Erwerbsleben ausscheiden als neu eintreten. Der erwerbstätige Teil der Bevölkerung schrumpft. Es sind die geburtenstarken Jahrgänge (1955 bis 1969), die jetzt in Rente gehen.
Mit 1,36 Millionen Geburten hatte der Babyboom 1964 seinen Höhepunkt erreicht. Zum Vergleich: die niedrigste Geburtenzahl seit 1946 wurde 2011 mit 663.000 Neugeborenen registriert. Im Jahr 2020 gab es insgesamt 773.144 Neugeborene.
Allein 2022 werden über 300.000 Personen mehr in den Ruhestand gehen, als in den Arbeitsmarkt eintreten, wie eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zeigt. Bis zum Jahr 2030 könnten Deutschland deshalb rund fünf Millionen Fachkräfte fehlen.
Unsicherheit erschwert die Integration und die Jobsuche
Auch vor diesem Hintergrund sollten die Veränderungen diskutiert werden, die das Bundeskabinett jetzt für das Aufenthaltsrecht beschlossen hat. Ein sogenanntes Chancen-Aufenthaltsrecht soll langjährig Geduldeten die Möglichkeit verschaffen, ein langfristiges Bleiberecht in Deutschland zu erhalten. Wer zum Stichtag 1. Januar 2022 fünf Jahre in Deutschland gelebt hat, nicht straffällig geworden ist und sich zum Grundgesetz bekennt, soll ein Jahr lang einen Aufenthaltstitel bekommen. In dieser Zeit sollen sich die Betroffenen darum kümmern können, die Voraussetzungen für ein Bleiberecht zu erfüllen. Dazu gehören Deutschkenntnisse und die Sicherung des Lebensunterhalts. Außerdem muss die Identität geklärt sein.
Damit würde die Praxis der Kettenduldungen beendet, die abgelehnten Asylbewerber:innen jeweils für drei Monate gewährt werden, wenn tatsächliche Abschiebungshindernisse (zum Beispiel ein Krieg im Heimatland) vorliegen. Diese befristeten Duldungen werden zwar immer wieder um weitere drei Monate verlängert. Aber sie schaffen ein Klima der Unsicherheit für die Betroffenen und erschweren die Integration in Deutschland auch dann, wenn absehbar ist, dass die Abschiebungshindernisse noch lange fortdauern werden.
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Ende vergangenen Jahres lebten 242.029 Geduldete in Deutschland, davon 136.605 seit mehr als fünf Jahren. Ihre Kinder gehen in die Schule. Die Eltern dürfen arbeiten, wenn sie einige bürokratische Hürden überwinden und trotz der Befristung einen Arbeitsplatz finden. Manche Arbeitgeber:innen schrecken allerdings davor zurück, jemanden einzustellen, wenn nicht klar ist, ob das Aufenthaltsrecht in ein paar Monaten wieder verlängert wird.
Widerstand von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
In meiner Zeit als Bundestagsabgeordneter hatte ich immer wieder mit Menschen zu tun, die auf einmal abgeschoben werden sollten, obwohl sie seit vielen Jahren in Deutschland gelebt hatten, ihre Kinder gute Schüler:innen waren und die ganze Familie auf eigenen Füßen stand. Manchmal kam sogar ihr Chef mit in meine Sprechstunde, aus Sorge, eine gute Mitarbeiterin oder einen guten Mitarbeiter zu verlieren. Ich habe nie verstanden, wo das öffentliche Interesse an diesen Abschiebungen gelegen haben soll.
Das soll jetzt mit dem neuen Aufenthaltsrecht geändert werden. Noch gibt es Widerstand von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Die Ampel schaffe mit dem Gesetzentwurf massive zusätzliche Anreize, illegal nach Deutschland einzuwandern, hat die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Andrea Lindholz gesagt.
Dem hat der neugewählte hessische Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) widersprochen. Er unterstützt die Bleiberechtsinitiative der Bundesregierung. „Es ist totaler Unsinn, solche Leute abzuschieben und es nachher zu bereuen.“ Wenn die Menschen sich integrieren, die Sprache sprechen, sich an die Regeln des Landes halten und zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen, könne man sagen: „Ja, ihr seid uns hier willkommen, wir brauchen Euch, wir wollen gern mit euch zusammenleben.“
Wenn jetzt auch die neugewählten CDU-Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein, Hendrik Wüst und Daniel Günther sich in gleicher Weise äußern, dürfte auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ihre Meinung überprüfen und das Gesetz bekäme die breite Mehrheit, die es verdient.
Ich wünsche Ihnen frohe und erholsame Ferien- und Urlaubstage. Kommen Sie gut und gesund wieder heim.
Herzliche Grüße
Ihr Ruprecht Polenz
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Über den Autor
Viele Jahre lang war Ruprecht Polenz Mitglied des Rats der Stadt Münster, zuletzt als CDU-Fraktionsvorsitzender. Im Jahr 1994 ging er als Bundestagsabgeordneter nach Berlin. Er war unter anderem CDU-Generalsekretär, zwischen 2005 und 2013 Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags. Von 2000 bis 2016 war Ruprecht Polenz Mitglied des ZDF-Fernsehrats, ab 2002 hatte er den Vorsitz. Der gebürtige Bautzener lebt seit seinem Jura-Studium in Münster. 2020 erhielt Polenz die Auszeichnung „Goldener Blogger“.
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Die Veränderung des Bleiberechts ist eine wichtige Maßnahme zur Verbesserung der Situation im Handwerk, Gastronomie usw.
Auf der anderen Seite spielt aber die Abiturientenquote eine gewaltige Rolle für den Arbeitskräftemangel gerade im Handwerk, obwohl das Handwerk in der jetzigen Zeit goldenen Boden hat. Die Abiturientenquote lag in Bayern vor noch gar nicht allzu langer Zeit bei ca. 25%. Die Hauptschulen dort legten die Grundlage für gut ausgebildete Handwerker in allen Bereichen. Im Handwerk kann man sich weiter qualifizieren und es ist trotz aller Anstrengungen eine Arbeit, die Befriedigung schafft, weil man am Ende des Arbeitstages sieht und vielleicht auch merkt, was man geleistet hat. Das Verhältnis von Akademikern und im Handwerk Tätigen hat sich ins Ungute verkehrt. Das Abitur wird zu Unrecht in den Bildungshimmel gehoben. Es müssten tatsächlich wieder verbindliche Empfehlungen für den Besuch von weiterführenden Schulen geben. Das würde auch dazu führen, dass Eltern nicht aus falsch verstandenem Ehrgeiz ihr Kind aufs Gymnasium schicken, wo es dann möglicherweise nicht richtig aufgehoben ist. Das Bildungssystem in Deutschland ist sehr durchlässig und wenn man will und den nötigen Ehrgeiz hat, kann man nach der beruflichen Ausbildung weitere Bildungsabschlüsse erwerben.
Danke Herr Polenz über Ihre Stellungnahme zu CDU/CSU und dem Bleiberecht.
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