Die Kolumne von Carla Reemtsma | Gerichte werden das Problem nicht lösen

Müns­ter, 7. Novem­ber 2021

Guten Tag,

stel­len Sie sich mal 4.500 Bäu­me vor. 4500 Bäu­me sind eine gan­ze Men­ge. 4.500 Bäu­me brau­chen knapp 25 Hekt­ar und kos­ten zusam­men etwa 23.000 Euro. 4500 Bäu­me – so vie­le hat das Land NRW in einem Wald süd­lich von Hil­trup auf­ge­fors­tet, um einen Teil der Emis­sio­nen der lan­des­ei­ge­nen Dienst­rei­sen zu kom­pen­sie­ren. Klingt gut, nicht? 

Par­al­lel dazu kom­men die Push-Mit­tei­lun­gen zum Beschluss der UN-Kli­ma­kon­fe­renz, ab 2030 kei­ne Wäl­der mehr zu roden und einer Anti-Methan-Initia­ti­ve der EU. Methan, das ist ein um ein viel­fa­ches kli­ma­schäd­li­che­res Treib­haus­gas als CO2. Wäh­rend die inter­na­tio­na­le Poli­tik also han­delt, über­neh­men Pri­vat­per­so­nen wie der super­rei­che Ama­zon-Grün­der Jeff Bezos Ver­ant­wor­tung und finan­zie­ren mit Mil­li­ar­den aus ihrem Pri­vat­ver­mö­gen Kli­ma­schutz- und Bio­di­ver­si­täts­pro­jek­te. Und um dem Gan­zen noch eine Kro­ne auf­zu­set­zen, kommt selbst die ver­ru­fens­te aller Indus­trien lang­sam auf einen guten Weg: In Nie­der­sach­sen eröff­net die ers­te Indus­trie­an­la­ge zu mas­sen­haf­ten Her­stel­lung von CO2-neu­tra­lem Kero­sin, und auf dem Gelän­de des ehe­ma­li­gen Flug­ha­fen Tegels in Ber­lin soll ein kli­ma­neu­tra­ler Stadt­teil ent­ste­hen. Man könn­te als kli­ma­be­weg­ter Mensch glatt den­ken: „Kli­ma­kri­se? Gelöst. Ent­span­nung ange­sagt, es läuft doch.“

Überall wird das Klima verhandelt 

Die Aus­sich­ten dafür sehen gar nicht mal so schlecht aus: Im schot­ti­schen Glas­gow wird gera­de auf der angeb­lich ambi­tio­nier­tes­ten Kli­ma­kon­fe­renz, die es jemals gab, das Welt­kli­ma ver­han­delt, wäh­rend in Ber­lin die Ampel-Par­tei­en einen Plan für eine „Zukunfts­re­gie­rung“ unter einem „Kli­ma­kanz­ler“ Olaf Scholz ausbaldowern. 

Nach jah­re­lan­gen Kli­ma­pro­tes­ten ste­hen bei­de Ver­hand­lun­gen im maxi­ma­len Ram­pen­licht. Alle erwar­ten, dass nach vie­len Sonn­tags­re­den nun auch inhalt­lich gelie­fert wird. Dass mit Sven­ja Schul­ze im Kli­ma­team der SPD sowie mit dem Kli­ma­wis­sen­schaft­ler Ste­fan Lech­ten­böh­mer sowohl in Glas­gow als auch in Ber­lin Münsteraner:innen mit am Ver­hand­lungs­tisch sit­zen, ändert ver­mut­lich wenig an der kol­lek­ti­ven öffent­li­chen Auf­merk­sam­keit außer­halb von Müns­te­ra­ner Juso-Kneipen. 

Rea­lis­tisch betrach­tet wer­den Kli­ma­kon­fe­renz und Koali­ti­ons­ver­hand­lun­gen eine Emis­si­ons­re­duk­ti­on auf die ein oder ande­re Art errei­chen. Mit inter­na­tio­na­len Zusa­gen zum Koh­le­aus­stieg und dem Stopp der Finan­zie­rung fos­si­ler Pro­jek­te hat die Kon­fe­renz der Ver­trags­par­tei­en (COP) noch kei­nen Plan für eine 1,5-Grad-konforme Gesell­schaft vor­ge­legt, aber zumin­dest die dafür not­wen­di­gen Bedin­gun­gen ein klei­nes biss­chen mehr in Reich­wei­te gebracht. Und selbst NRW, das Braun­koh­le­land Num­mer eins, ist dem Koh­le­aus­stieg 2030 nicht mehr abgeneigt. 

Das Pro­blem: Die Kli­ma­kri­se lösen wir nicht mit Tip­pel­schrit­ten. Die 1,5-Grad-Grenze ist nicht ein will­kür­lich fest­ge­leg­ter poli­ti­scher Kom­pro­miss. Steigt die glo­ba­le Durch­schnitts­tem­pe­ra­tur um mehr als 1,5 Grad gegen­über dem vor­in­dus­tri­el­len Zeit­al­ter, steigt die Wahr­schein­lich­keit für das Über­schrei­ten exis­ten­zi­el­ler Kipp­punk­te expo­nen­ti­ell an: Gro­ße Tei­le des Ark­tis­ei­ses dro­hen zu schmel­zen, wor­auf­hin weni­ger Son­nen­licht reflek­tiert wer­den kann, was wie­der­um den Tem­pe­ra­tur­an­stieg dras­tisch beschleu­ni­gen wür­de. Die Ver­lang­sa­mung des Golf­stroms wür­de exis­ten­zi­el­le Funk­tio­nen von Öko­sys­te­men zer­stö­ren, Nah­rungs­mit­tel­knapp­heit ver­ur­sa­chen und Küs­ten­re­gio­nen über­schwem­men, und die Schmel­ze des Grön­län­di­schen Eis­schilds wür­de den sowie­so schon nicht mehr auf­zu­hal­ten­den Mee­res­spie­gel­an­stieg wei­ter befeuern. 

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Klimakrise eindämmen heißt Kipppunkte verhindern 

Wir kön­nen die Kli­ma­kri­se nicht „ein biss­chen“ ein­däm­men. Wir kön­nen ent­we­der alles Men­schen­mög­li­che unter­neh­men, um die Zer­stö­rung von Lebens­grund­la­gen und die absur­den Vor­ha­ben fos­si­ler Groß­kon­zer­ne zu stop­pen oder wir machen wei­ter wie bis­her, nur dass die Jah­res­ab­schluss­bi­lan­zen um Tabel­len mit CO2-Kom­pen­sa­ti­ons­maß­nah­men vol­ler Auf­fors­tungs­pro­jek­te und För­der­gel­der für die Anschaf­fung von Solar­pa­nels an einer Mosam­bi­ka­ni­schen Schu­le ergänzt wer­den. Die Erzäh­lung von bes­se­ren, wenn auch nicht aus­rei­chen­den Ambi­tio­nen ver­tei­digt schluss­end­lich genau den Sta­tus Quo, der uns erst in die­se Kri­se gebracht hat. 

Die am Anfang genann­ten ver­meint­lich guten Nach­rich­ten für das Kli­ma­sys­tem der Erde sind bei genaue­rem Hin­se­hen alles Bei­spie­le für genau die­se Logik:

  • Am Tag nach der Methan-Initia­ti­ve labelt die EU Inves­ti­tio­nen in Pipe­lines, Kraft­wer­ke und Anla­gen für fos­si­les Gas (was zu mehr als 90 Pro­zent aus Methan besteht) als „grü­ne Investition“
  • Die Idee vom kli­ma­neu­tra­len Flie­gen mit­hil­fe syn­the­ti­scher Kraft­stof­fe lenkt davon ab, dass der selbst 2030 maxi­mal 2 Pro­zent des Kero­sins kli­ma­neu­tral sein wer­den und rele­van­te Emis­si­ons­ein­spa­run­gen nur durch eine mas­si­ve Reduk­ti­on des Flug­ver­kehrs erreicht wer­den können
  • Bereits 2014 hat­ten dut­zen­de Staa­ten ange­kün­digt, die Zer­stö­rung von Wäl­dern bis 2020 zu brem­sen und bis 2030 zu stop­pen. Die Rodun­gen gin­gen trotz­dem die ver­gan­ge­nen Jah­re unge­bremst wei­ter, und für das gesam­te Jahr­zehnt der 2020er-Jah­re gibt es kei­nen Plan zum Stopp, obwohl Arten­ster­ben und Kli­ma­kri­se dut­zen­de Anläs­se böten

Den Gip­fel der Absur­di­tät lie­fert Jeff Bezos‘ Rede, in der er sei­nen Blick auf die Erde bei sei­nem Welt­raum­flug im Juli als Erwe­ckungs­mo­ment beschreibt, der ihn die Fra­gi­li­tät des Pla­ne­ten hat rea­li­sie­ren las­sen. Denn wäh­rend Super­rei­che wie der Ama­zon-Grün­der Bruch­tei­le ihres Ver­mö­gens in Kli­ma­schutz­maß­nah­men inves­tie­ren und sich als groß­zü­gi­ge und pro­blem­be­wuss­te Zeit­ge­nos­sen insze­nie­ren, sind es ihre Geschäfts­mo­del­le und Pro­duk­ti­ons­wei­sen, die die Kli­ma­kri­se immer wei­ter antrei­ben. Doch an denen wer­den sie aus Pro­fit­in­ter­es­se höchs­tens mini­ma­le Reförm­chen durch­füh­ren, um Pro­tes­te der Beschäf­tig­ten zu verhindern. 

Der Kohleausstieg in NRW ist erst der Anfang

Dass die Kli­ma­kri­se trotz öffent­li­cher Auf­merk­sam­keit und aus­ufern­der Wil­lens­be­kun­dun­gen nicht die Gren­zen poli­ti­schen Han­delns setzt, die sie eigent­lich dar­stel­len müss­te, zeigt sich zuletzt wie­der in Nord­rhein-West­fa­len. Kurz nach sei­nem Amts­an­tritt als Minis­ter­prä­si­dent und Nach­fol­ger von dem als Kum­pel der Koh­le­indus­trie bekann­ten Armin Laschet ver­kün­det Hen­drik Wüst sei­ne Bereit­schaft dazu, den Koh­le­aus­stieg bis 2030 umzu­set­zen. Die­se Aus­sa­ge ist in sich schon eine Sen­sa­ti­on und sowohl auf die sich ver­än­dern­den Bedin­gun­gen in der Ener­gie­wirt­schaft als auch die Pro­tes­te der Kli­ma­be­we­gung zurückzuführen. 

Ver­rä­te­ri­scher ist jedoch, was Wüst nicht sagt: Er spricht vom Erhalt der fünf Dör­fer, die am Tage­bau Garz­wei­ler noch abge­bag­gert wer­den soll­ten, lässt dabei jedoch Lüt­zer­ath außer Acht – das Dorf, das als Nächs­tes ent­eig­net und abge­bag­gert wer­den soll­te. Wird jedoch die Koh­le unter Lüt­zer­ath ver­brannt, dann kön­nen die Kli­ma­zie­le in Deutsch­land nicht ein­ge­hal­ten wer­den oder, wie die Aktivist:innen vor Ort sagen: Die 1,5-Grad-Grenze ver­läuft vor Lützerath. 

In Lüt­zer­ath zeigt sich ganz kon­kret, wie poli­ti­sche Maß­nah­men ohne den Wider­stand aus der Zivil­ge­sell­schaft zwar Emis­sio­nen ein­spa­ren kön­nen, aber nicht ein­fach aus­rei­chen, um die kli­ma­zer­stö­re­ri­schen Ver­hält­nis­se ernst­haft zu ver­än­dern. Aktu­ell liegt der Fall vor dem Ober­ver­wal­tungs­ge­richt Müns­ter. Das muss nun ent­schei­den, ob im Jahr 2021 noch Men­schen wie der Bau­er Eck­hardt Heu­kamp für den dre­ckigs­ten Ener­gie­trä­ger der Welt ent­eig­net wer­den dür­fen. Das Gericht in Müns­ter hat­te 2018 bereits den vor­läu­fi­gen Rodungs­stopp im Ham­ba­cher Forst angeordnet.

Doch Gerich­te allein wer­den die kli­ma­zer­stö­re­ri­schen Ver­hält­nis­se nicht auf­bre­chen kön­nen, die es zu hin­ter­fra­gen und über­win­den gilt. Wenn die Ant­wort auf kli­ma­schäd­li­che Dienst­rei­sen im Auto und Flug­zeug lie­ber das Pflan­zen von 4.500 Bäu­men süd­lich von Müns­ter mit frag­wür­di­ger Kli­ma­bi­lanz als der Umstieg auf die für Amtsträger:innen kos­ten­lo­se Deut­sche Bahn ist, dann sind wir davon aller­dings noch mei­len­weit ent­fernt – selbst wenn die Nach­richt mit hüb­schem Spa­ten­stich­fo­to uns ein Gefühl der Kli­ma-Behag­lich­keit ver­mit­teln mag. Es bleibt also mal wie­der der Zivil­ge­sell­schaft überlassen.

Ich wün­sche Ihnen einen schö­nen Sonn­tag mit einem kri­ti­schen Blick auf alle „Durch­bruchs­nach­rich­ten“ von der Kli­ma­kon­fe­renz und viel­leicht einem Spa­zier­gang in einem natur­be­las­se­nen Wald im Umland von Münster. 

Ihre Car­la Reemtsma

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Über die Autorin

Im Janu­ar 2019 hat Car­la Reemts­ma den ers­ten Kli­ma­streik in Müns­ter orga­ni­siert. Es war eine klei­ne Kund­ge­bung im Nie­sel­re­geln vor dem his­to­ri­schen Rat­haus am Prin­zi­pal­markt. Weni­ge Wochen spä­ter sprach das gan­ze Land über die Kli­ma-Pro­tes­te der „Fri­days For Future“-Bewegung. Der Rat der Stadt Müns­ter beschloss das Ziel Kli­ma­neu­tra­li­tät 2030. Inzwi­schen ist Car­la Reemts­ma eine der bekann­tes­ten deut­schen Kli­ma­ak­ti­vis­tin­nen. Gebo­ren wur­de sie in Berlin.

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