Die Kolumne von Carla Reemtsma | Ohne Druck geht es nicht

Müns­ter, 5. Sep­tem­ber 2021

Lie­be Leser:innen,

drei Wochen vor der Bun­des­tags­wahl gibt es kaum einen Lebens­be­reich, in dem man nicht auf die anste­hen­de Wahl auf­merk­sam gemacht wird: In den Zei­tun­gen und im Radio über­tref­fen sich die Politikjournalist:innen mit ihren täg­li­chen Ana­ly­sen zu den neu­es­ten Umfra­ge­er­geb­nis­sen, am Aasee und Prin­zi­pal­markt sor­gen die Wahl­pla­ka­te für bun­te Spren­kel, und zwi­schen den Markt­stän­den ver­su­chen eif­ri­ge Wahlkämpfer:innen die sams­täg­li­chen Marktgänger:innen in Gesprä­che zu ver­wi­ckeln – oder zumin­dest Fly­er, Kugel­schrei­ber oder Trau­ben­zu­cker an die poten­ti­el­len Wähler:innen zu verteilen. 

Gera­de im Inter­net und bei jun­gen Wähler:innen war der Wahl­kampf bis­her von Auf­re­ger-Video-Schnip­seln, pola­ri­sie­ren­den Aus­sa­gen und per­sön­li­chen Angrif­fen auf die Kandidat:innen geprägt, wirk­te inhalts­leer und uninspiriert.

Die­se Aus­gangs­la­ge führ­te dazu, dass das Tri­ell der Kanzlerkandidat:innen, das ver­gan­ge­ne Woche von RTL pro­du­ziert und aus­ge­strahlt wur­de, von den Hauptstadtjournalist:innen als „Tri­ell der Inhal­te“, „poli­tisch span­nend“ und „auf den Punkt“ beschrie­ben wurde.

Mit jeweils knapp einer Woche Abstand zum ver­gan­ge­nen und zum kom­men­den, von den Öffent­lich-Recht­li­chen pro­du­zier­ten Tri­ell, kann man eher den Ein­druck bekom­men, dass die posi­ti­ven Kom­men­ta­re vor allem ein Pro­dukt der – auf­grund des unter­ir­di­schen Vor­wahl­kamp­fes – maxi­mal nied­rig ange­leg­ten Erwar­tun­gen war.

Skurrile Mischung an Behauptungen

Wäh­rend die Kandidat:innen von per­sön­li­chen Angrif­fen auf ihre Kontrahent:innen absa­hen, wur­de vor allem Kri­tik – und an der ein oder ande­ren Stel­le auch Eigen­lob – an der aktu­el­len Poli­tik geübt. Dass zwei von drei Diskutant:innen Teil der aktu­el­len Regie­rung sind, erschwer­te das glaub­haf­te Ver­mit­teln eines Fort­schritts­ge­dan­kens aller­dings ungemein.

Wenn alle augen­schein­lich das­sel­be wol­len – man den­ke an die The­men sozia­le Gerech­tig­keit, Bil­dung, Digi­ta­li­sie­rung und Kli­ma­schutz –, aber par­tout kein gutes Haar an ihren Mitstreiter:innen las­sen wol­len, kommt die­se skur­ri­le Mischung aus Behaup­tun­gen, Buz­zwords und Blö­de­lei­en bei gleich­zei­ti­gem Har­mo­nie­be­dürf­nis heraus.

Die Ein­däm­mung der Kli­ma­kri­se war (mit der obli­ga­to­ri­schen Fra­ge nach der Nut­zung gen­der­ge­rech­ter Spra­che in öffent­li­chen Ein­rich­tun­gen) das The­ma, bei dem die Diskutant:innen sich am vehe­men­tes­ten wider­spro­chen haben. Wäh­rend die Ideen der Grü­nen Olaf Scholz nicht sozi­al genug und Armin Laschet zu wenig wirt­schafts­ori­en­tiert sind, fin­den Anna­le­na Baer­bock und Olaf Scholz Armin Laschet unglaub­wür­dig. Die Debat­te war exem­pla­risch für den aktu­el­len Dis­kurs rund ums Kli­ma (und auch ande­re, grund­sätz­lich bei allen belieb­te The­men wie sozia­le Gerech­tig­keit): Anstatt über die offen­sicht­li­chen Ziel­kon­flik­te zwi­schen den ein­zel­nen Par­tei­en sowie zwi­schen den Par­tei­en, wis­sen­schaft­li­chen Expert:innen und Bürger:innen zu spre­chen, wird der Ein­druck ver­mit­telt, dass alle das­sel­be errei­chen woll­ten, und sich nun nur noch über das „Wie?“ gestrit­ten wer­den müsste.

Entscheidender Punkt fällt hinten rüber

Dabei ist offen­sicht­lich, dass es zwi­schen den Par­tei­en Unter­schie­de gibt: Kei­nes der Pro­gram­me ent­hält aus­rei­chen­de Maß­nah­men, um die 1,5-Grad-Grenze ein­zu­hal­ten; jedoch pla­nen die Grü­nen bei­spiels­wei­se mit Kli­ma­neu­tra­li­tät ab 2040, wohin­ge­gen Uni­on und SPD am regie­rungs­ei­ge­nen Kli­ma­neu­tra­li­täts­ziel 2045 festhalten.

Die­ser ent­schei­den­de Punkt fällt in der Debat­te über Tem­po­li­mits, Wind­rä­der und Las­ten­rä­der oft hin­ten rüber, da schließ­lich alle Par­tei­en behaup­ten, kon­se­quen­ten Kli­ma­schutz zu machen. Kaum anders sieht es aus, wenn man die kon­kre­ten Maß­nah­men betrach­tet: Trotz Blo­cka­de­hal­tung zu jeg­li­cher ord­nungs­recht­li­chen Vor­ga­be (etwa Tem­po­li­mit), jedem Ver­bot (etwa Ver­bren­ner­ver­bot), För­der­pro­gram­men (etwa bei Las­ten­rä­dern und ÖPNV-Tickets) und markt­wirt­schaft­li­chen Maß­nah­men (etwa dem CO2-Preis) kann sich ein Armin Laschet am Ende der Debat­te hin­stel­len und behaup­ten, er wür­de Kli­ma­schutz ernst­haft vor­an­trei­ben wollen.

Eine Über­prü­fung der von ihm vor­ge­schla­ge­nen Maß­nah­men – vor allem das Ver­trau­en auf tech­no­lo­gi­sche Inno­va­ti­on – auf die mög­li­chen Emis­si­ons­ein­spa­run­gen bleibt aus oder min­des­tens den infor­mier­ten Zuschauer:innen überlassen.

Ein ähn­li­ches Bild erge­ben regel­mä­ßig Debat­ten zu sozia­ler Gerech­tig­keit: Obwohl sich ins­be­son­de­re im Bereich des Steu­er­sys­tems genau­es­tens durch­rech­nen lässt, wel­chen Effekt wel­ches Wahl­pro­gramm auf Men­schen mit klei­nen oder gro­ßen Ein­kom­men hat, kön­nen sich die Vertreter:innen von FDP und CDU (deren Pro­gram­me vor allem ein­kom­mens- und ver­mö­gens­star­ke Men­schen pri­vi­le­gie­ren wür­den) oft recht unwi­der­spro­chen als Vorkämpfer:innen für sozia­le Gerech­tig­keit inszenieren.

Ohne Einordnung wird’s schwer

Gleich­zei­tig sind es ja nicht nur die Dif­fe­ren­zen zwi­schen den Par­tei­en, son­dern auch zwi­schen wis­sen­schaft­li­chen Erkennt­nis­sen und Poli­tik, die im Dis­kurs ins­be­son­de­re in Wahl­kampf­zei­ten schnell aus­ge­blen­det wer­den. In kaum einem Inter­view müs­sen sich Politiker:innen dafür recht­fer­ti­gen, dass ihre „Kli­ma­schutz­pro­gram­me“ nicht für die Ein­hal­tung der 1,5-Grad-Grenze ausreichen.

Auch bei den Fra­gen nach erfolg­rei­cher Bekämp­fung von Rechts­extre­mis­mus, Digi­ta­li­sie­rung oder Bil­dungs­ge­rech­tig­keit sind es sel­ten die Emp­feh­lun­gen von Expert:innen, die als Maß­stab her­an­ge­zo­gen wer­den, son­dern immer nur das, was der:die ambi­tio­nier­tes­te Politiker:in vorschlägt.

Kurz vor der Wahl ist es nur logisch, dass Vertreter:innen mög­lichst vie­ler Par­tei­en Platz fin­den müs­sen in den Talk-, Inter­view- und Nach­rich­ten­for­ma­ten, um den Wähler:innen eine infor­mier­te Mei­nungs­bil­dung zu ver­ein­fa­chen. Wenn aber ein­ord­nen­de Stim­men feh­len, wird die­se Mei­nungs­bil­dung erheb­lich erschwert. Es bleibt zwar für die Leser:innen, Hörer:innen und Zuschauer:innen wei­ter mög­lich, auf Basis der Dis­kus­si­on die Par­tei­en mit­ein­an­der zu ver­glei­chen, lässt aber rele­van­te Aspek­te der Dis­kus­si­on ein­fach aus. Die­se Mecha­nis­men füh­ren die Debat­ten ad absurdum.

Wozu es führt, wenn nur bereits eta­blier­te Grup­pen an poli­ti­schen Dis­kus­sio­nen teil­neh­men kön­nen, haben Frau­en genau­so wie BIPoC (Black, Indi­ge­nious and Peo­p­le of Color) erlebt, die bevor sie poli­ti­sche For­de­run­gen stel­len konn­ten, sich zunächst den Raum erkämp­fen muss­ten, um in poli­ti­schen Insti­tu­tio­nen wir­ken zu kön­nen. Natür­lich sind Pro­tes­te für Gleich­be­rech­ti­gung nicht ein­fach ver­gleich­bar mit Debat­ten um Kli­ma und sozia­le Gerech­tig­keit. Der Mecha­nis­mus, der sich ein­stellt, wenn nur eta­blier­te par­tei­po­li­ti­sche Posi­tio­nen in der Debat­te ver­tre­ten sind, ist aller­dings ein ähnlicher.

Es braucht gesellschaftlichen Rückhalt

Doch was tun, schließ­lich leben wir doch in einer Par­tei­en­de­mo­kra­tie? Debat­ten fin­den – auch wenn es manch­mal so wirkt – ja nicht in einem luft­lee­ren Raum statt. Sie wer­den geführt für die Gesell­schaft und leben von der Dis­kus­si­on mit die­ser und in ihr. Was gesell­schaft­lich dis­ku­tiert wird, wird frü­her oder spä­ter auch bei den Podi­ums­dis­kus­sio­nen auf den Büh­nen die­ses Lan­des bespro­chen wer­den müssen.

Des­we­gen braucht es infor­mier­te, kri­ti­sche Journalist:innen und Moderator:innen genau­so wie ein fra­ge­lus­ti­ges Publi­kum und eine akti­ve Zivil­ge­sell­schaft, die die bren­nen­den The­men nicht nur in Mei­nungs­um­fra­gen ankreuzt, son­dern auf die Stra­ßen, in die Wahl­kreis­bü­ros, Gewerk­schafts­zen­tra­len und Schu­len die­ses Lan­des trägt.

Des­we­gen streikt Fri­days For Future am 24. Sep­tem­ber, zwei Tage vor der Bun­des­tags­wahl, auch wie­der fürs Kli­ma. Denn es ist klar: Ohne gesell­schaft­li­chen Druck, ohne das außer­par­la­men­ta­ri­sche Kor­rek­tiv, wird die Ein­däm­mung der Kli­ma­kri­se nicht gelin­gen. Dafür reicht weder ein Kanzlerkandidat:innen-Triell noch das eine Kreuz auf dem Wahl­zet­tel. Dafür braucht es einen gesell­schaft­li­chen Rück­halt für Kli­ma­schutz, der sich in poli­ti­sche Hand­lungs­be­reit­schaft über­set­zen lässt.

Dazwi­schen lie­gen natür­lich noch eini­ge Schrit­te. Die nächs­te Poli­tik­de­bat­te wird ein klei­ner sein, genau­so wie der Kli­ma­streik und die Bun­des­tags­wahl. Ich hof­fe, Sie sind mit dabei. 

Ich wün­sche Ihnen einen schö­nen Sonntag

Ihre Car­la Reemtsma


Über die Autorin

Im Janu­ar 2019 hat Car­la Reemts­ma den ers­ten Kli­ma­streik in Müns­ter orga­ni­siert. Es war eine klei­ne Kund­ge­bung im Nie­sel­re­geln vor dem his­to­ri­schen Rat­haus am Prin­zi­pal­markt. Weni­ge Wochen spä­ter sprach das gan­ze Land über die Kli­ma-Pro­tes­te der „Fri­days For Future“-Bewegung. Der Rat der Stadt Müns­ter beschloss das Ziel Kli­ma­neu­tra­li­tät 2030. Inzwi­schen ist Car­la Reemts­ma eine der bekann­tes­ten deut­schen Kli­ma­ak­ti­vis­tin­nen. Gebo­ren wur­de sie in Berlin.

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