Die Kolumne von Juliane Ritter | Zeit zum Umdenken

Müns­ter, 21. Novem­ber 2021

Guten Tag,

die Pfle­ge streikt.

Und das wäh­rend einer Pan­de­mie. Darf das denn sein?

Die­se Fra­ge wur­de Pfle­gen­den in die­sen Wochen immer wie­der gestellt. 

Hun­der­te Pfle­ge­kräf­te und ande­re Beschäf­tig­te des Lan­des zie­hen der­zeit in vie­len Städ­ten auf die Stra­ßen, um sich für ihre Belan­ge ein­zu­set­zen. Auch mei­ne Kolleg:innen und ich haben für eine bes­se­re Ver­gü­tung unse­re Stim­men ein­ge­setzt, ob im Streik oder nur solidarisch.

Der­zeit lau­fen die Ver­hand­lun­gen der Tarif­run­de der Län­der. Das bedeu­tet, unse­re Gehäl­ter wer­den neu ver­han­delt. Den Zeit­punkt haben wir uns nicht aus­ge­sucht. Der Tarif­ver­trag ist aus­ge­lau­fen. Daher die Verhandlungen.

Die Fra­ge ist damit nicht: War­um jetzt? Sie lau­tet eher: War­um streikt die Pfle­ge, wenn sie doch eigent­lich die Ver­sor­gung der Gesell­schaft sicher­stel­len müss­te? Darf die Pfle­ge strei­ken, wäh­rend ande­re Shop­pen gehen und in den Urlaub fliegen?

Mei­ne Mei­nung ist: Sie darf. Denn war­um soll­te ein kon­trol­lier­ter Streik, bei dem wir selbst in Abspra­che mit Kli­nik­vor­stän­den die Bedin­gun­gen fest­le­gen, mehr Scha­den anrich­ten als die Tat­sa­che, dass stän­dig Diens­te nicht besetzt wer­den kön­nen? War­um soll­ten Pfle­ge­kräf­te auf die Chan­ce eines fai­ren Gehal­tes ver­zich­ten, nur weil sie sich nicht den Flug­ha­fen als Arbeits­platz aus­ge­sucht haben, son­dern das Krankenhaus. 

Es ist ja nicht so, als wür­de man am Streik­tag alles lie­gen las­sen und vor der Kli­nik demons­trie­ren, wäh­rend drin­nen die Men­schen sterben. 

Nicht die Streiks gefährden die Versorgung

Mei­ne Kolleg:innen und ich sind sau­er, wenn wir Schlag­zei­len wie die­se lesen: „Uni­kli­nik Essen warnt: Streik gefähr­det die Pati­en­ten massiv.“ 

In sol­chen Arti­keln fällt immer wie­der eines unter den Tisch: Nicht Streiks gefähr­den Patient:innen, son­dern die Nor­mal­be­set­zung. Im All­tag ver­las­sen Kli­ni­ken sich auf unse­re Gut­mü­tig­keit und unser aus­ge­präg­tes Ver­ant­wor­tungs­be­wusst­sein, indem sie lan­ge im Vor­aus mit unse­rer Frei­zeit kal­ku­lie­ren. Sie pla­nen damit, dass wir ein­sprin­gen wer­den, um Lücken zu fül­len. Sie pla­nen damit, dass wir län­ger blei­ben wer­den, dass wir aus dem Urlaub zurück­kom­men, um für unse­re Patient:innen da zu sein, die am Pfle­ge­not­stand eben­so wenig Schuld tra­gen wie wir. 

Die Chef­eta­gen seg­nen Dienst­plä­ne mit Hun­der­ten Lücken ab. Sie neh­men soge­nann­te Schau­kel­diens­te in Kauf. Das bedeu­tet: Nach dem Früh­dienst geht es ohne Pau­se direkt mit dem Spät­dienst wei­ter oder umge­kehrt. Unse­re Hil­fe­ru­fe und Gefähr­dungs­an­zei­gen wer­den seit Jah­ren sys­te­ma­tisch ignoriert. 

Vie­le Pfle­gen­de berich­ten, und ich kann das nur bestä­ti­gen: Wäh­rend des Streiks mit selbst fest­ge­leg­ten Regeln ist die Ver­sor­gung bes­ser als in manch einem geplan­ten Dienst.

Wie­so strei­ken wir also, wenn wir sowie­so schon zu weni­ge sind? Es gibt ver­schie­de­ne Kon­zep­te. In Müns­ter läuft es der­zeit so, dass Bet­ten sowie Sta­ti­ons­schlie­ßun­gen ange­mel­det wer­den. Dafür redu­ziert man plan­ba­re Ope­ra­tio­nen und Ter­mi­ne vor und am Streik­tag, um so mög­lichst vie­len Kolleg:innen das Grund­recht zum Streik zu gewähren. 

Not­fäl­le, Covidpatient:innen, Krebspatient:innen und Kin­der betrifft das nicht. Wäh­rend des Streiks gibt es einen direk­ten Draht zwi­schen Vor­stand und Gewerk­schaft. So kön­nen, falls nötig, Kolleg:innen direkt in den Dienst zurückkehren. 

Die Zei­tung Die Welt schreibt: Streiks an Uni­kli­ni­ken? „Das zeugt nicht von Nächs­ten­lie­be für die Patienten“ 

Ver­steht mich nicht falsch – Patient:innen und Pfle­ge­kräf­te haben häu­fig ein beson­de­res Ver­hält­nis. Wir ver­brin­gen sehr viel Zeit mit­ein­an­der, oft sind es inti­me Momen­te. Wir erle­ben Hoch­zei­ten am Kran­ken­haus­bett, wir hören uns Lebens­ge­schich­ten und Geheim­nis­se an. Ich bin gern für mei­ne Patient:innen da. Nächs­ten­lie­be ist Teil mei­ner Arbeit, aber nicht Teil mei­ner Berufs­be­schrei­bung. Man kann sich nicht auf Nächs­ten­lie­be beru­fen, wäh­rend die Belas­tung uns zeit­gleich in den Burn­out treibt.

Als Dankeschön für Ihre Unterstützung: Journalistisches Arbeiten mit Jugendlichen

Foto: Niko­laus Urban

Im Juni 2021 haben wir mit Ihrer Hil­fe ein wich­ti­ges Etap­pen­ziel erreicht, um unser Ange­bot auf­recht­erhal­ten und im bes­ten Fall wei­ter­ent­wi­ckeln zu kön­nen: 1.750 RUMS-Abonnent:innen.

Als Dank für Ihre Hil­fe hat­ten wir Ihnen ver­spro­chen, einen ganz­tä­gi­gen Medi­en-Work­­shop für eine Jugend­ein­rich­tung zu veranstalten.
Die­ses Ver­spre­chen haben wir nun – wegen der Coro­­na-Pan­­de­­mie etwas spä­ter, als es eigent­lich geplant war – ein­ge­löst. Anfang Novem­ber waren wir im Jugend­zen­trum Black Bull in Müns­­ter-Amels­­bü­­ren zu Gast. Mit dabei waren unser Redak­ti­ons­lei­ter Ralf Heimann, unser Mit­grün­der Marc-Ste­­fan And­res und unser Foto­graf und Bild­re­dak­teur Niko­laus Urban. Sie haben sich gemein­sam mit den Jugend­li­chen an die Grund­re­geln des jour­na­lis­ti­schen Arbei­tens her­an­ge­tas­tet und ers­te The­men mit ihnen zusam­men ent­wi­ckelt. Details und Fotos fin­den Sie hier.

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Ich habe mich nicht ver­pflich­tet, Nächs­ten­lie­be über mein eige­nes Wohl zu stel­len. Wenn mei­ne Kolleg:innen und ich aus­ge­brannt sind, bleibt uns nichts mehr, mit dem wir unse­re Patient:innen ver­sor­gen können.

Im Flug­zeug soll man zuerst sich selbst und dann hil­fe­be­dürf­ti­gen Men­schen die Sau­er­stoff­mas­ke auf­set­zen. Genau so sehe ich das auch: Wir brau­chen stei­gen­de Löh­ne und vor allem ver­bes­ser­te Arbeits­be­din­gun­gen, sonst wer­den wir ersti­cken, wäh­rend wir ver­su­chen, unse­ren Patient:innen zu helfen.

Die Aner­ken­nung, die unse­re Gesell­schaft für uns übrig hat, ist erschre­ckend schwan­kend. Vor Coro­na waren wir da, aber eigent­lich war das, was wir machen, doch ein biss­chen eklig. Ich hör­te oft Sät­ze wie: „Oh wow, also ich könn­te das ja nicht.“ 

Mit Coro­na stieg das Inter­es­se an mei­ner Berufs­grup­pe ins gefühlt Uner­mess­li­che. Jetzt kamen ande­re Fra­gen: „Wie ist das denn so im Kran­ken­haus?“ – „Hast du schon mal einen Toten gese­hen?“ – „Ist es wirk­lich so schlimm? Oder über­trei­ben die im Fernsehen?“ 

Wir wur­den zu Held:innen gemacht, gefei­ert von den Bal­ko­nen. In der media­len Bericht­erstat­tung ging es nur noch um die Ver­sor­gung von Covidpatient:innen. Im Som­mer, als Coro­na schon fast in Ver­ges­sen­heit gera­ten war, wur­den wir wie­der irrele­vant. Ver­spre­chun­gen der Poli­tik waren ver­ges­sen. Dabei spitz­te sich die Situa­ti­on im All­tag zu. Immer mehr Kolleg:innen ent­schie­den sich, zu gehen. 

Warum kamen die Testangebote so spät?

Immer wie­der war von einem Bonus die Rede. Man hat ihn uns oft ver­spro­chen. Mei­ne Kolleg:innen und ich haben davon bis heu­te nichts gese­hen. Und Tes­tun­gen? Gab es für uns anfäng­lich nicht. Wir muss­te anse­hen, wie um uns her­um Men­schen getes­tet wur­den. Fürs Shop­pen, für den Urlaub, für das Büro, gefühlt für alles Mögliche.

Mei­nen Kolleg:innen und mir wur­den Din­ge gesagt wie: „Wenn es nur leich­te Erkäl­tungs­sym­pto­me sind, arbei­ten Sie halt mit einer FFP2-Mas­ke. Ansons­ten legen sie sich für zwei, drei Tage ins Bett und kom­men dann wieder.“ 

Wir haben Begrif­fe gelernt wie Arbeits­qua­ran­tä­ne. Das bedeu­tet: Men­schen, die sich eigent­lich in häus­li­che Qua­ran­tä­ne bege­ben müss­ten, dür­fen in Aus­nah­me­fäl­len doch zur Arbeit kom­men – weil sonst alles zusam­men­bre­chen würde. 

Ob wir über­haupt bereit waren, uns die­ser Gefahr aus­zu­set­zen, oder ob es in unse­rem Haus­halt Risikopatient:innen gab, das hat nie­mand gefragt. Wir muss­ten Urlau­be abbre­chen. Wir wur­den zurück in den Dienst gerufen. 

Mitt­ler­wei­le bekom­men auch wir regel­mä­ßi­ge Test­an­ge­bo­te. War­um, fra­ge ich mich, hat man damit so lan­ge gewar­tet? Ich kann nur ver­mu­ten, dass man die hohen Kos­ten und einen Kol­laps des bekann­ter­ma­ßen insta­bi­len Gesund­heits­sys­tems ver­mei­den woll­te. Ver­ständ­lich. Aber auch auf Kos­ten unse­rer Gesundheit. 

Nun wird eine Impf­pflicht für Pfle­gen­de und Ärzt:innen dis­ku­tiert. Ich bin mitt­ler­wei­le drei­fach geimpft und habe Schwie­rig­kei­ten, eini­ge der Argu­men­te gegen eine Imp­fung ernst zu neh­men. Doch es gibt Kolleg:innen mit Vor­er­kran­kun­gen oder schlicht­weg Angst. 

Wir spre­chen über die Ver­ant­wor­tung gegen­über gefähr­de­ten Bevöl­ke­rungs­grup­pen. Doch nir­gend­wo wird die Ver­ant­wor­tung der Gesell­schaft uns gegen­über erwähnt. Ich behand­le immer wie­der unge­impf­te Patient:innen, wer­de immer wie­der in Dis­kus­sio­nen ver­wi­ckelt, des Betrugs beschul­digt und belo­gen, wenn es um Test­ergeb­nis­se geht. Mei­ne Kol­le­gin ist bespuckt und geschla­gen wor­den, weil sie sich an die Regeln hal­ten woll­te – zu ihrem eige­nen Schutz. Kon­se­quen­zen gab es keine.

Es ist Zeit umzudenken

Wir sind also die Held:innen der Nati­on, mas­siv unter­be­zahlt, immer wie­der selbst schutz­los gegen Coro­na, und nun gemein­sam mit Ärzt:innen als ein­zi­ge kör­per­na­he Berufs­grup­pen für die Impf­pflicht vor­ge­se­hen. Was ist mit der Ver­ant­wor­tung der Gesellschaft?

Auch an ande­rer Stel­le bemü­hen sich Wirt­schaft und Poli­tik seit Jah­ren, auf jeg­li­che Gesund­heits­för­de­rung für mich und mei­ne Berufs­grup­pe zu ver­zich­ten. Leicht zugäng­li­che Fit­ness­an­ge­bo­te wie Rücken­schu­le? Fehl­an­zei­ge. Psy­cho­so­zia­le Unter­stüt­zung für tag­täg­li­che trau­ma­ti­sie­ren­de Situa­tio­nen? Gibt es bei der Feu­er­wehr und der Poli­zei. Doch bei uns heißt es: „Wei­ter geht’s. Du hast dir den Job ja selbst ausgesucht.“

Es ist für die Gesell­schaft und die Poli­tik Zeit umzu­den­ken, wenn es um die Pfle­ge geht. Auch wir selbst müs­sen ler­nen umzu­den­ken. Wir sind der Kle­ber, der die­ses Gesund­heits­sys­tem zusam­men­hält. Doch der Kle­ber droht sich auf­zu­lö­sen. Wir kön­nen und wir wol­len auch nicht mehr. Neu­lich sag­te eine Kol­le­gin zu mir: „Wir sind doch nicht der Fuß­ab­tre­ter der Nation!“

Inzwi­schen beginnt die Pfle­ge, sich zu weh­ren. Pfle­ge­kräf­te strei­ken in der gesam­ten Bun­des­re­pu­blik. Und es zei­gen sich ers­te Erfol­ge, auch wenn der Kampf jedes Mal wie­der hart ist. Immer wie­der fal­len Medi­en und die Poli­tik uns in den Rücken. So emp­fin­den wir es. Eine Reform des Sys­tems, so wie es nötig wäre, ist ein teu­res Bestre­ben. Doch es ist unvermeidlich.

Wir strei­ken für stei­gen­de Gehäl­ter, für bes­se­re Arbeits­be­din­gun­gen, für mehr Per­so­nal und für spür­ba­re Ent­las­tung. Nicht nur für uns, son­dern um unse­re Patient:innen gut und mensch­lich ver­sor­gen zu kön­nen. Und das sind Ihre Freun­de, Ihre Eltern, Ihre Kin­der und viel­leicht auch Sie selbst. 

Alles, was wir dafür ver­lan­gen, ist Solidarität.

Herz­li­che Grüße

Ihre Julia­ne Ritter

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Über die Autorin

Unse­re Kolum­nis­tin arbei­tet als Pfle­ge­kraft in einem Kran­ken­haus in Müns­ter. Sie schreibt in die­ser Kolum­ne dar­über, war­um sie ihren Beruf liebt. Und dar­über, wo es hakt und was in der Pfle­ge bes­ser lau­fen müss­te – grund­sätz­lich und in Müns­ter. Julia­ne Rit­ter ist nicht ihr rich­ti­ger Name. Sie schreibt unter einem Pseud­onym, damit sie frei über Schwie­rig­kei­ten und Miss­stän­de erzäh­len kann.

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