Die Kolumne von Juliane Ritter | Neue Hoffnung in Runde zwei

Müns­ter, 30. Janu­ar 2022

Guten Tag,

letz­te Woche hat mei­ne Kol­le­gin mir erzählt, dass sie den Beruf wech­seln wird. Wir arbei­ten seit sechs Jah­ren zusam­men, und so etwas kommt immer wie­der vor. Immer mehr Kolleg:innen redu­zie­ren ihre Stel­len, doch nur sehr sel­ten kom­men Kolleg:innen nach. 

Das hat dazu geführt, dass die Beleg­schaft jün­ger und uner­fah­re­ner wird, denn Zeit für aus­gie­bi­ge Ein­ar­bei­tun­gen haben wir nicht. Jun­ge Kolleg:innen schil­dern, dass sie Angst vor Not­fall­si­tua­tio­nen haben, weil sie ein­fach nicht gelernt haben, wie sie damit umge­hen sol­len, wenn sie allei­ne im Dienst sind.

Der Umgangs­ton erfah­re­ner Kolleg:innen wird immer rau­er. Sie sehen, dass all die Mühe, mit der sie ande­re ein­ar­bei­ten, für die Katz sind. Eini­ge gehen nach weni­gen Mona­ten sowie­so wie­der. Ande­re Kolleg:innen erzäh­len, dass sie alles leich­ter ertra­gen kön­nen, wenn sie mit weni­ger Emo­ti­on und Erwar­tung an den Dienst her­an­ge­hen, wenn sie also ein­fach abschal­ten. Das beun­ru­higt mich sehr.

Mit den Patient:innen ist es umge­kehrt. Es kom­men immer mehr. Sie ori­en­tie­ren sich nicht an unse­ren Dienst­plä­nen. Ich weiß, das habe ich schon ein­mal erzählt – aber es ist der Gedan­ke, der mich am häu­figs­ten beschäf­tigt: Wer soll die­se Patient:innen ver­sor­gen, wenn ich und mei­ne Kolleg:innen bald weg sind?

Immer öfter begin­ne ich den Dienst und bekom­me zu hören: Viel Erfolg heu­te, ihr seid nur zu zweit – statt zu viert.

Frist von einem Jahr

Ich war an einem Punkt, an dem hät­te ich gern alles an den Nagel gehängt. Ich war kurz davor, eine Kün­di­gung ein­zu­rei­chen, ohne zu wis­sen, wo es für mich hin­ge­hen wür­de. Doch dann wur­de ich auf­merk­sam gemacht auf das, was Beschäf­tig­te in über 17 Kli­ni­ken des Lan­des bereits voll­bracht haben.

Ich habe mir also eine Frist von einem Jahr gesetzt. In die­sem einen Jahr ist so viel pas­siert. Ich habe mit größ­ter Span­nung auf unse­re Haupt­stadt geschaut. Dort wur­de zuletzt der soge­nann­te Tarif­ver­trag Ent­las­tung abgeschlossen.

Tau­sen­de Beschäf­tig­te der Cha­ri­té und Vivan­tes-Kli­ni­ken in Ber­lin haben sich zusam­men­ge­schlos­sen und für bes­se­re Arbeits­be­din­gun­gen gekämpft. Das ist ein gro­ßes Wort – Kampf. Doch wenn Beschäf­tig­te in Ber­lin zuletzt für über einen Monat im Streik auf ihre Löh­ne ver­zich­tet haben, um bes­se­re Arbeits­be­din­gun­gen durch­zu­set­zen, um end­lich ihre Patient:innen so ver­sor­gen zu kön­nen, wie sie es für gut und rich­tig hal­ten, dann ist das ein Kampf.

Es gibt poli­ti­sche Wän­de, die sie ein­rei­ßen muss­ten, ver­al­te­te Struk­tu­ren, die sie gebro­chen haben – nur, um etwas in die­sem ver­korks­ten Gesund­heits­sys­tem zu ver­än­dern. Um in unse­rem so wich­ti­gen Beruf eine Zukunft zu sehen und ihre Patient:innen gut ver­sor­gen zu können.

Ich wuss­te nicht, dass so etwas mög­lich ist. Aber nach mona­te­lan­ger Vor­be­rei­tung und größ­ten Anstren­gun­gen sieg­ten die Kolleg:innen. Nun gibt es Per­so­nal­schlüs­sel, die von den Beschäf­tig­ten fest­ge­legt wur­den, also den Spezialist:innen der eige­nen Bereiche.

Freizeit oder Lohnzuschläge

Heb­am­men müs­sen künf­tig nicht mehr zwi­schen fünf gebä­ren­den Frau­en zeit­gleich hin- und her­sprin­gen, son­dern dür­fen sich auf eine wer­den­de Mut­ter und ihr Baby kon­zen­trie­ren. In Not­auf­nah­men hat man end­lich dafür gesorgt, dass es eine Rege­lung dazu gibt, wie vie­le Kolleg:innen anwe­send sein müs­sen, wenn eine bestimm­te Zahl von Men­schen mit Herz­in­fark­ten, Schlag­an­fäl­len und Unfäl­len ein­ge­lie­fert werden.

Wenn die­se neu­en Regeln nicht ein­ge­hal­ten wer­den und Beschäf­tig­te dadurch Diens­te leis­ten müs­sen, die Patient:innen gefähr­den, bekom­men sie eine Ent­schä­di­gung – zusätz­li­che Frei­zeit oder Lohn­zu­schlä­ge. So nimmt man Kli­nik­lei­tun­gen die Mög­lich­keit, Beschäf­tig­te aus­zu­beu­ten und sie so in die wach­sen­de Per­so­nal­flucht zu treiben.

Man gibt Patient:innen das, was ihnen zusteht: eine men­schen­wür­di­ge Ver­sor­gung. Es besteht Hoff­nung, dass Entscheidungsträger:innen mit den neu­en Regeln umden­ken, statt nur Frei­schich­ten zu ver­ge­ben und Zuschlä­ge zu bezahlen.

Wir müs­sen wohl nicht bewei­sen, dass wir nicht wegen des Gel­des in der Pfle­ge, in der Phy­sio­the­ra­pie, in der Küche oder in der Rei­ni­gung arbei­ten. Wir erhof­fen uns eine gemein­wohl­ori­en­tier­te Gesundheitsversorgung.

Ein­gangs wehr­ten sich Kli­nik­lei­tun­gen noch. Sie zogen vor Gericht, um Streiks ver­bie­ten zu las­sen. Sie sag­ten, über einen sol­chen Tarif­ver­trag Ent­las­tung wür­den sie nicht ver­han­deln. Doch sie schei­ter­ten. Mitt­ler­wei­le begin­nen umlie­gen­de Kli­ni­ken, Zuschlä­ge anzu­pas­sen, um ihre Mitarbeiter:innen zu halten.

Seit die­sem Erfolg mei­ner Ber­li­ner Kolleg:innen habe ich wie­der Hoffnung.

Ein eigener Tarifvertrag

In der ver­gan­ge­nen Woche ging es end­lich für uns los. Die ers­te Tarif­run­de der Län­der war ernüch­ternd ver­lau­fen. Die ver­ein­bar­ten Gehalts­er­hö­hun­gen gli­chen nicht ein­mal die Stei­ge­run­gen durch die Infla­ti­on aus. Jetzt geht es in Run­de zwei.

Beschäf­tig­te aller Uni­ver­si­täts­kli­ni­ken des Bun­des­lan­des Nord­rhein-West­fa­len haben sich zusam­men­ge­schlos­sen und der Poli­tik die Pis­to­le auf die Brust gesetzt. Was wir for­dern? Einen eige­nen Tarif­ver­trag Entlastung.

Hun­der­te von uns haben ein Ulti­ma­tum gestellt: 100 Tage. Poli­tik und Arbeit­ge­ber­ver­bän­de sind auf­ge­for­dert, bis dahin mit uns einen sol­chen Tarif­ver­trag zu ver­han­deln. Sonst tre­ten wir in den Streik. Tau­sen­de Beschäf­tig­te wer­den sich für ihre Rech­te und die Ver­sor­gung ihrer Patient:innen einsetzen.

Ich bin stolz auf mei­ne Berufs­grup­pe – dar­auf, dass wir es schaf­fen, uns trotz der bedrü­cken­den Zustän­de nun zu begeis­tern, aktiv zu wer­den und uns stark zu machen.

So ein Tarif­ver­trag ist nicht die Lösung all unse­rer Pro­ble­me, doch er gibt uns ein gro­ßes Stück wie­der von dem, was uns seit Jah­ren fehlt. Frei­zeit. Erho­lungs­zeit. Und Mut, in die­sem Beruf blei­ben zu kön­nen. Wir möch­ten ein Exem­pel set­zen für Kli­ni­ken in der Umge­bung und in ande­ren Bun­de­län­dern – damit Beschäf­tig­te im Gesund­heits­we­sen zukünf­tig die Wert­schät­zung erfah­ren, die ihnen zusteht. Es lohnt sich, dafür zu kämp­fen, und wir star­ten nun.

Ich bin hoff­nungs­voll. Denn ich habe nichts ande­res gelernt als den Beruf der Gesund­heits- und Kran­ken­pfle­ge­rin. Und ich will auch nichts ande­res machen.

Herz­li­che Grüße

Ihre Julia­ne Ritter


Über die Autorin

Unse­re Kolum­nis­tin arbei­tet als Pfle­ge­kraft in einem Kran­ken­haus in Müns­ter. Sie schreibt in die­ser Kolum­ne dar­über, war­um sie ihren Beruf liebt. Und dar­über, wo es hakt und was in der Pfle­ge bes­ser lau­fen müss­te – grund­sätz­lich und in Müns­ter. Julia­ne Rit­ter ist nicht ihr rich­ti­ger Name. Sie schreibt unter einem Pseud­onym, damit sie frei über Schwie­rig­kei­ten und Miss­stän­de erzäh­len kann.

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