Die Kolumne von Roudy Ali | Das Ehrenamt ehrt Menschen

Müns­ter, 19. Juni 2022

Guten Tag,

in mei­ner ers­ten deutsch­spra­chi­gen Kolum­ne möch­te ich mich Ihnen, lie­be Lese­rin­nen und Leser, vor­stel­len. Mein Name ist Rou­dy Ali. Ich bin 26 Jah­re alt, Kur­din und 2015 aus Afrin in Nord­sy­ri­en nach Deutsch­land geflo­hen. Ich habe einen acht­jäh­ri­gen Sohn, den ich allein groß­zie­he, und lebe hier in Müns­ter mit ihm und mei­nen bei­den jün­ge­ren Schwes­tern zusam­men. In die­ser Kolum­ne möch­te ich Ihnen über eine Grup­pe schrei­ben, die in der Öffent­lich­keit und in den Medi­en mei­ner Mei­nung nach zu wenig wahr­ge­nom­men wird: Men­schen, die wie ich eine Flucht- oder Migra­ti­ons­vor­ge­schich­te haben. Ich möch­te Ihnen erzäh­len, wie die „neu­en Müns­te­ra­ne­rin­nen und Müns­te­ra­ner“ die Stadt und ver­schie­dens­te Aspek­te des Zusam­men­le­bens sehen.

Ich habe an der Katho­li­schen Hoch­schu­le Sozia­le Arbeit stu­diert, inzwi­schen bin ich im zwei­ten Mas­ter-Semes­ter im Stu­di­en­gang Netz­werk­ma­nage­ment. Neben mei­nem Stu­di­um arbei­te ich als freie Jour­na­lis­tin, unter ande­rem bei der WDR-Lokal­zeit Müns­ter­land, und beleuch­te mit mei­nen Bei­trä­gen viel­fäl­ti­ge gesell­schaft­li­che Themen.

Die Ver­tei­di­gung von Frau­en­rech­ten und der Chan­cen­gleich­heit von Migran­tin­nen und Migran­ten ist mei­ne Lei­den­schaft und ich füh­le mich ver­pflich­tet, dafür ein­zu­tre­ten. Des­halb enga­gie­re ich mich neben mei­nem Stu­di­um und mei­ner Arbeit ehren­amt­lich: Ich set­ze mich als Mit­glied des Inte­gra­ti­ons­rats und als Mit­glied des Aus­schus­ses für Sozia­les und Woh­nen der Stadt Müns­ter für die Gleich­stel­lungs­po­li­tik ein.

Ein neuer Anfang in Münster

Nach einer müh­sa­men 28-tägi­gen Flucht bin ich 2015 gut und sicher in Deutsch­land ange­kom­men. Anfän­ge sind jedoch immer unge­wiss, anstren­gend und mit Her­aus­for­de­run­gen behaf­tet, beson­ders wenn man bei einem Punkt auf der Minus­ska­la anfängt. Eigent­lich woll­te ich mein Agrar­in­ge­nieur­stu­di­um, das ich in Syri­en begon­nen hat­te, in Deutsch­land fort­set­zen. Aber durch die neu­en Umstän­de änder­ten sich auch mei­ne Plä­ne. Wäh­rend mei­nes Auf­ent­halts in meh­re­ren Unter­künf­ten half ich ehren­amt­lich ande­ren geflüch­te­ten Men­schen, indem ich für sie über­setz­te und sie zu ihren Behör­den­ter­mi­nen beglei­te­te. So etwas woll­te ich pro­fes­sio­nell und beruf­lich machen, sobald ich die deut­sche Spra­che beherrsch­te. Denn durch mei­ne ehren­amt­li­che Tätig­keit in den Flücht­lings­un­ter­künf­ten war mir bewusst gewor­den, dass mei­ne Stär­ke dar­in liegt, Men­schen zu hel­fen. Men­schen ver­schie­de­ner Kul­tu­ren und Natio­na­li­tä­ten ken­nen­zu­ler­nen und die Mög­lich­keit, mit ihnen in ihrer Spra­che zu kom­mu­ni­zie­ren, eröff­ne­te mir Hori­zon­te, die ich vor­her nicht gese­hen hat­te. Die ehren­amt­li­che Arbeit mit Geflüch­te­ten hat mich nicht nur mensch­lich sehr beein­druckt und geprägt, son­dern auch mein Selbst­be­wusst­sein, mei­ne Auf­ge­schlos­sen­heit und mei­ne Tole­ranz erweitert.

Professionalität ist für das Ehrenamt ebenso wichtig wie meine eigenen Erfahrungen

Um mög­lichst vie­le Men­schen in Müns­ter zu errei­chen, habe ich bei meh­re­ren Orga­ni­sa­tio­nen wie der Arbei­ter­wohl­fahrt, dem Arbei­ter-Sama­ri­ter-Bund, dem Sozi­al­amt und dem Ver­ein AFAQ Prak­ti­ka absol­viert oder ehren­amt­lich mit­ge­ar­bei­tet. Spä­ter nutz­te ich auch sozia­le Medi­en, um mög­lichst vie­le gewalt­be­trof­fe­ne Mäd­chen und jun­ge Frau­en zu unter­stüt­zen, die in mei­ner Hei­mat unter ande­rem von Zwangs­hei­rat bedroht sind – ein The­ma, wel­ches mich auch selbst betraf. Für mich war es und ist es immer noch enorm wich­tig, dass Hil­fe­be­dürf­ti­ge in ihrer neu­en Hei­mat Hilfs­be­reit­schaft, Soli­da­ri­tät und Mit­ge­fühl erfah­ren. Genau­so wich­tig war und ist es mir aber auch, ihnen den Wert der Selbst­hil­fe bewusst zu machen, um ihr Selbst­ver­trau­en und ihre Eigen­stän­dig­keit zu stärken.

Als Frau of Color habe ich Flucht, Ras­sis­mus und Gewalt gegen Frau­en selbst erfah­ren und erlebt. Des­halb weiß ich als Betrof­fe­ne und durch mein Stu­di­um zugleich als Exper­tin, wor­un­ter die­se Grup­pe von Men­schen lei­det, und bin für vie­le eine wich­ti­ge Ansprech­part­ne­rin. Men­schen mit Migra­ti­ons­er­fah­run­gen kön­nen die Din­ge aus einem ande­ren Blick­win­kel betrach­ten, was eine wich­ti­ge Res­sour­ce für das gesell­schaft­li­che Zusam­men­le­ben ist. Gleich­zei­tig hat mir mein Stu­di­um dabei gehol­fen, Mit­ge­fühl und fach­li­che Distanz aus­zu­ba­lan­cie­ren. Pro­fes­sio­na­li­tät ist sehr wich­tig für alle, die sich ehren­amt­lich enga­gie­ren, nicht nur für trau­ma­ti­sier­te Men­schen, die zuvor gelit­ten haben und nun selbst ande­ren hel­fen möchten.

Wie Integration gelingen kann

Wenn Men­schen in ein für sie neu­es Land kom­men, müs­sen sie sich mit ihrer Inte­gra­ti­on in die Gesell­schaft, die sie auf­nimmt, aus­ein­an­der­set­zen. Es ist wich­tig, dass sie sich gesell­schaft­lich betei­li­gen, und dafür ist ehren­amt­li­ches Enga­ge­ment eine gute Mög­lich­keit. Die Sen­si­bi­li­sie­rung für die eige­nen Rech­te und Pflich­ten sind für mich zen­tra­le The­men. Die Inte­gra­ti­on ist mei­nes Erach­tens aber kei­ne Assi­mi­la­ti­on, son­dern ein wech­sel­sei­ti­ger Vor­gang. Denn Neu­an­kömm­lin­ge müs­sen sich nicht in den für sie neu­en Gepflo­gen­hei­ten auf­lö­sen und sich anpas­sen, um akzep­tiert und berück­sich­tigt zu wer­den. Sie sol­len sich in der neu­en Hei­mat wohl, sicher und zuge­hö­rig füh­len. Aber um die­ses Gefühl zu haben und akti­ve Mit­glie­der der Gesell­schaft zu sein, müs­sen sie auch etwas tun. Der Schlüs­sel zu einer erfolg­rei­chen Inte­gra­ti­on und eine rele­van­te Berei­che­rung ist es, die Spra­che zu ler­nen. Aber ich glau­be, das reicht nicht. Par­ti­zi­pa­ti­ves Ehren­amt eines Men­schen ist eine der wich­tigs­ten Vor­aus­set­zun­gen für eine gelun­ge­ne Inte­gra­ti­on und ein gesun­des Selbst­wert­ge­fühl, unab­hän­gig von der Her­kunft und egal, ob mit oder ohne Migrationshintergrund.

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Ehren­amt­li­che Arbeit ist wich­tig. Aber um poli­tisch etwas zu errei­chen, erschien sie mir nicht wir­kungs­voll genug. Daher habe ich mich ent­schie­den, mich um ein Man­dat zu bemü­hen, um selbst etwas ändern zu kön­nen. Im Jahr 2020 trat ich als Kan­di­da­tin für den Inte­gra­ti­ons­rat an und wur­de gewählt. Seit­dem ver­tre­te ich die­sen als sach­kun­di­ge Ein­woh­ne­rin im kom­mu­na­len Aus­schuss für Sozia­les, Woh­nen und Ver­brau­cher­schutz. Ich enga­gie­re mich also wei­ter ehren­amt­lich, indem ich Men­schen mit Migra­ti­ons­vor­ge­schich­te auf poli­ti­scher Ebe­ne ver­tre­te, um ihr Recht auf Chan­cen­gleich­heit zu verteidigen.

Durch ehrenamtliche Arbeit gewinnen alle

Mehr Men­schen in Müns­ter soll­ten sich ehren­amt­lich in ver­schie­de­nen gesell­schaft­li­chen Berei­chen enga­gie­ren, nicht nur für Geflüch­te­te. Vie­le Men­schen arbei­ten aber nicht dau­er­haft ehren­amt­lich. Das hat ver­schie­de­ne Grün­de, unter ande­rem finan­zi­el­le. Vie­le konn­ten es sich gera­de wäh­rend der Coro­na­pan­de­mie nicht leis­ten, weil sie ihren Job ver­lo­ren haben und einen neu­en fin­den muss­ten. Ande­re enga­gie­ren sich nicht, weil das Ehren­amt von der Gesell­schaft zu wenig wert­ge­schätzt wird. In vie­len Bera­tungs­ge­sprä­chen, die ich füh­re, fra­ge ich auch nach frei­wil­li­gem Enga­ge­ment. Bedau­er­li­cher­wei­se höre ich dann oft, dass ehren­amt­li­che Arbeit sich nicht lohnt, um beruf­lich wei­ter­zu­kom­men. Ich ver­su­che dann, zu erklä­ren, wel­che Bedeu­tung das Ehren­amt auch für das Bil­dungs- und Berufs­le­ben hat. Dar­über hin­aus fin­de ich es für die Per­sön­lich­keits­ent­wick­lung wich­tig, und Men­schen ler­nen durch ein Ehren­amt neue sozia­le Kom­pe­ten­zen und stär­ken ihre Kom­mu­ni­ka­ti­ons­fä­hig­keit. Nicht jeder Gewinn zeigt sich in Form von Geld. Wenn Men­schen Frei­wil­li­gen­ar­beit leis­ten, geben sie etwas, ohne auf eine finan­zi­el­le Ent­schä­di­gung zu war­ten. Statt­des­sen stär­ken sie ande­re, sich selbst und ihre Fähigkeiten.

Die Welt positiv verändern

Ich selbst habe für mein ehren­amt­li­ches Enga­ge­ment zwei schö­ne Aus­zeich­nun­gen bekom­men: den „Dia­na Award 2021“ und den „Lega­cy Award 2021“, die Prin­zes­sin Dia­nas Bru­der Lord Earl Charles Spen­cer und ihr Sohn Prinz Har­ry mir via Zoom ver­lie­hen haben. Mit dem Dia­na Award wer­den jedes Jahr jun­ge Enga­gier­te welt­weit aus­ge­zeich­net, die sich in beson­de­re Wei­se für ande­re Men­schen ein­ge­setzt haben. Prin­zes­sin Dia­na, nach der die­ser Preis benannt ist, war davon über­zeugt, dass jun­ge Men­schen die Welt durch das Ehren­amt posi­tiv ver­än­dern kön­nen. Der Lega­cy Award wie­der­um wird alle zwei Jah­re an 20 aus­ge­wähl­te Gewin­ne­rin­nen und Gewin­ner des Dia­na Awards ver­lie­hen. Unter den zehn inter­na­tio­na­len Preisträger:innen war ich die ein­zi­ge aus Deutschland.

Ich wer­de wei­ter­hin ver­su­chen, auch ande­re Men­schen zu einer ehren­amt­li­chen Tätig­keit zu moti­vie­ren. Und ich möch­te für ande­re Men­schen kämp­fen, damit sie ihre Rech­te selbst ver­tei­di­gen kön­nen. Genau wie ich es getan habe.

Herz­li­che Grü­ße
Ihre Rou­dy Ali

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Über die Autorin

Die Kur­din Rou­dy Ali ist aus Syri­en geflo­hen. In Müns­ter hat sie Sozia­le Arbeit stu­diert und inzwi­schen den Mas­ter­stu­di­en­gang Netz­werk­ma­nage­ment begon­nen, neben ihrem Stu­di­um arbei­tet sie als freie Jour­na­lis­tin. Für ihr ehren­amt­li­ches Enga­ge­ment ist sie mit dem renom­mier­ten Dia­na Lega­cy Award aus­ge­zeich­net wor­den. In ihrer Kolum­ne wird sie über The­men schrei­ben, die die inter­na­tio­na­le Com­mu­ni­ty in Müns­ter bewegen.

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