Die Kolumne von Anna Stern | Auch Kinder brauchen Kunst und Räume

Müns­ter, 31. Juli 2022

Guten Tag,

viel­leicht erin­nern Sie sich noch an mei­ne ers­te Kolum­ne zum The­ma ‚Kunst braucht Räu­me‘. Ich möch­te das The­ma heu­te noch ein­mal auf­grei­fen, dies­mal aber aus der Per­spek­ti­ve jun­ger Men­schen. Haben Sie als Kind gern Buden gebaut, aus ein paar alten Kar­tons, und sich dazu eine Geschich­te aus­ge­dacht? Den Bür­ger­steig mit bun­ten Krei­den bemalt, wie Bert bei Mary Pop­pins, und in den eige­nen Bil­dern gelebt? Ich auch. In der Lam­mers­dor­fer Wald­sied­lung, einem klei­nen Ort in der Eifel, spiel­te eine gan­ze Hor­de von Kin­dern auf der Stra­ße und im angren­zen­den Wald. Zu der gehör­te auch ich, damals ein Kindergartenkind. 

Als Grund­schul­kind leb­te ich mit­ten in Aachen, und dort war das schon nicht mehr so ein­fach. Vor dem Miets­haus rausch­te der Ver­kehr auf dem Box­gra­ben vor­bei, einer Haupt­ver­kehrs­ader, ähn­lich befah­ren wie hier in Müns­ter der Ring. Aber hin­ter dem Haus gab es einen gro­ßen Hof. Der grü­ne Con­tai­ner für Gar­ten­ab­fäl­le war unser Raum­schiff Enter­pri­se, her­vor­ra­gend zum Drauf­klet­tern und Run­ter­rut­schen bei Alien-Angriffen. 

Kin­der­spiel ist dicht am Thea­ter, dicht an der Per­for­mance, dicht an der Kunst. Es geht ums Erfin­den, dar­um, sich aus­zu­pro­bie­ren und eige­ne zweck­freie Wel­ten zu schaf­fen. Aber wo bie­ten Innen­städ­te Platz für krea­ti­ves Spiel? Das freie, selbst­or­ga­ni­sier­te Kin­der­spiel scheint zumin­dest aus ihnen ver­schwun­den zu sein. Kin­der in der Müns­te­ra­ner Innen­stadt? Ja, aber bit­te an der Hand der Eltern und als klei­ne Konsument:innen. Oder brav im Maxisand, wäh­rend die Müt­ter oder Väter shop­pen. Ansons­ten: viel zu gefähr­lich. Oder zu lang­wei­lig. Und Jugend­li­che fin­den den Prin­zi­pal­markt auch nicht gera­de aufregend. 

Konsumfreier Raum im Erdgeschoss

Doch im Juni war das anders. Drei Wochen lang gab es auf ein­mal gegen­über dem Stadt­thea­ter, neben dem Kin­der­kauf­haus MUKK, einen für alle und ganz beson­ders für Kin­der und Jugend­li­che zugäng­li­chen, rie­si­gen kon­sum­frei­en Raum im Erd­ge­schoss. Hier konn­te gerannt und getobt, sogar mit klei­nen Fahr­zeu­gen her­um­ge­saust wer­den. Es stand ein Kicker da, an des­sen Spiel­fi­gu­ren Stif­te befes­tigt waren, sodass beim Kickern Bil­der ent­stan­den. Es gab gemüt­li­che Sitz­kis­sen­in­seln, Mal­sta­tio­nen, Mur­meln, selt­sa­me Spu­ren auf dem Boden, denen man fol­gen konn­te. Es gab einen Audio­walk, einen Hör­spa­zier­gang, von Kin­dern gemacht, den man sich aus­lei­hen konn­te, um damit Orte in der Stadt aus neu­er Per­spek­ti­ve zu sehen. Die Thea­ter­päd­ago­gin und Pro­jekt­lei­te­rin Corin­na Riesz – vol­ler Ener­gie und immer ansprech­bar – war jeden Tag prä­sent und so gewis­ser­ma­ßen die See­le des Projekts. 

Es waren Künstler:innen da, die sich mit den Kin­dern und ihren Eltern unter­hiel­ten, bei einer spon­ta­nen Kis­sen­schlacht mit­mach­ten, aber auch Work­shops anbo­ten: Tanz, Per­for­mance, Thea­ter, DJing, Graf­fi­ti, Bau­en und Gestal­ten im digi­ta­len Raum. Schreib­werk­stät­ten fan­den statt, Flash­mobs wur­den ent­wi­ckelt, öffent­li­che Pro­ben abge­hal­ten. Ergeb­nis­se und Kom­men­ta­re wur­den ein­fach an die vie­len wei­ßen Wän­de geschrie­ben und gepinnt, und so ent­wi­ckel­te und ver­wan­del­te sich der Raum von Tag zu Tag. 

Mit­ten­drin stand ein wei­ßer Con­tai­ner, beti­telt mit „Kin­der-Jugend-Kul­tur­amt“. Drin­nen durf­ten die Kin­der auf Sti­cker oder direkt auf die Wän­de schrei­ben, was ihnen in ihren Vier­teln fehlt. Hier wur­den Mal­ate­liers gewünscht, Kin­der­dis­ko­the­ken, Schwimm­bä­der, mehr Fahr­rad­we­ge, gro­ße Tram­po­li­ne, Parks und sogar Natur­schutz­ge­bie­te. Größ­ter gemein­sa­mer Nen­ner der Wün­sche: Raum. Zum gemein­sa­men Spie­len, zum Krea­tiv­sein. Und gleich mehr­mals stand auf einer Wand zur Fra­ge „Wo fühlst Du Dich am wohls­ten?“ die knap­pe, aber berüh­ren­de Ant­wort: „Hier!“

Ein niedrigschwelliger Wohlfühlort

„Voll geflas­hed – Pop-Up-Kin­der­ju­gend­kul­tur­haus“ hieß die­se Akti­on. Seit mehr als zwei Jah­ren arbei­tet ein äußerst enga­gier­tes viel­köp­fi­ges Team am Kon­zept eines Kin­der­ju­gend­kul­tur­hau­ses für Müns­ter. Mit dabei sind unter ande­rem Cor­ne­lia Kup­fer­schmid, David Grusch­ka und Jos­pe­hi­ne Kron­f­li, die für die Label Fet­ter Fisch, Echt­zeit-Thea­ter und Kari­bu­ni ste­hen. Das Haus soll inter­dis­zi­pli­när und inter­kul­tu­rell aus­ge­rich­tet sein und gleich zwei wich­ti­ge Funk­tio­nen erfül­len: Es soll ein nied­rig­schwel­li­ger Wohl­fühlort für Kin­der und Jugend­li­che in der Innen­stadt sein, um die Küns­te als eige­ne Aus­drucks­form erle­ben zu kön­nen, und zugleich auch Arbeits­platz für Künstler:innen, die Pro­jek­te für und mit Kin­dern und Jugend­li­chen schaffen. 

So einen Ort gibt es bis­her nicht. Frau­ke Schnell, die Lei­te­rin des Kul­tur­amts, bestä­tigt, dass es mit Pro­be­räu­men für die über Müns­ter hin­aus bekann­te und erfolg­rei­che Kin­der- und Jugend­thea­ter­sze­ne nicht gut aus­se­he. Bis­he­ri­ge Pro­be­räu­me in Schu­len wur­den abge­ris­sen, um Wohn­raum zu schaf­fen oder für den Schul­aus­bau umge­nutzt, denn Müns­ters Bevöl­ke­rung wächst stetig. 

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Bei stei­gen­dem Bedarf und einem Leer­stand von nur 0,3 Pro­zent hat eine Stadt wie Müns­ter wenig Spiel­raum. Das ist bei Kom­mu­nen im Ruhr­ge­biet anders, die Gebäu­de auf brach­lie­gen­den Indus­trie­area­len güns­tig an Künstler:innen ver­mie­ten kön­nen. Cor­ne­lia Kup­fer­schmid beschreibt Ist-Zustand und Visi­on wei­ter: Das Begeg­nungs­zen­trum Meer­wie­se in Coer­de sei zwar ein wich­ti­ger Auf­füh­rungs­ort für die Sze­ne, aber kein Thea­ter, in dem Stü­cke pro­du­ziert wer­den kön­nen. Räum­li­che Kapa­zi­tä­ten für regel­mä­ßi­ge Pro­ben oder die Lage­rung von Requi­si­ten fehl­ten. Das Pro­be­zen­trum Hop­pen­gar­ten wie­der­um sei vor­be­hal­ten für Pro­duk­tio­nen, die im Thea­ter im Pum­pen­haus gezeigt werden. 

Und es geht eben nicht nur um Pro­be­räu­me. Es geht dar­um, Kin­der und Jugend­li­che mit­ten in der Stadt sicht­bar zu machen. Schul­klas­sen zu Work­shops ein­la­den zu kön­nen. Einen Ort zu haben, an dem sich Künstler:innen, die mit Kin­dern und Jugend­li­chen arbei­ten, ver­net­zen kön­nen. Mit­ein­an­der, mit Lehrer:innen, mit Eltern.

Da war der Raum an der Voß­gas­se ein Glücks­griff für den ers­ten Live-Ver­such, die Volks­bank stell­te ihn kos­ten­frei zur Ver­fü­gung, loka­le und inter­na­tio­na­le För­de­rer unter­stütz­ten das Pro­jekt. Jetzt konn­te das Team nach zwei Jah­ren Recher­che und Pla­nung end­lich aus­pro­bie­ren, wie ein Kin­der­ju­gend­kul­tur­haus funk­tio­nie­ren könn­te, zumin­dest tem­po­rär, als Pop-Up-Version. 

So leicht kann der Zugang zu Kunst sein

Vie­les, von dem die Macher:innen geträumt hat­ten, ging auf: Der Raum strahl­te eine ein­la­den­de Offen­heit aus. Eltern aus unter­schied­lichs­ten Milieus saßen beim Kaf­fee zusam­men, wäh­rend die Kin­der auf dem Tanz­bo­den tob­ten. Der wur­de nahe­zu selbst­ver­ständ­lich als beson­de­rer Raum im Raum ange­nom­men, für den man auch unauf­ge­for­dert die Schu­he auszog. 

Bei den Pro­ben des Echt­zeit-Thea­ters setz­ten sich Jugend­li­che ein­fach dazu, schau­ten, lausch­ten. Sche­ren, Kle­ber, Mal­krei­den, Far­ben wur­den aus­gie­big genutzt – und ganz ohne päd­ago­gi­schen Zei­ge­fin­ger zurück­ge­bracht. Ein Kind erzähl­te von einem Thea­ter­stück, das es gese­hen hat­te, ande­re woll­ten die Geschich­te nach­spie­len. Schon war mit Unter­stüt­zung von Theaterpädagog:innen eine spon­ta­ne Insze­nie­rung im Gan­ge. So spie­le­risch und leicht kann der Zugang zu Kunst sein.

Ande­res ging nicht auf: Künstler:innen nutz­ten den Raum bis­her nur spo­ra­disch als Arbeits­platz. Ihnen fehl­ten Mög­lich­kei­ten, sich zurück­zu­zie­hen oder Mate­ria­li­en zu depo­nie­ren. Und: Es kamen ins­ge­samt zu wenig Kin­der und Jugend­li­che. Das Team plant, sich noch stär­ker mit Multiplikator:innen aus Schu­len, Kitas und sozi­al­päd­ago­gi­scher Arbeit zu ver­net­zen, die jun­ge Men­schen direkt anspre­chen können. 

Letzt­lich ist jedoch die Abwe­sen­heit von Kin­dern und Jugend­li­chen auch auf eine gene­rell zu beob­ach­ten­de Kin­der­feind­lich­keit städ­ti­scher Räu­me zurück­zu­füh­ren. Und um die­se zu über­win­den, braucht es poli­ti­schen und gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Wil­len. Das Kin­der­ju­gend­kul­tur­haus in zen­tra­ler Lage könn­te ein Schritt in die­se Rich­tung sein. So viel steht schon fest: Im Novem­ber wird es ein zwei­tes Pop-Up geben. Am glei­chen Ort, kon­zen­triert auf eine Woche und auf­bau­end aus den Erkennt­nis­sen des ers­ten Ver­suchs. Die Volks­bank stellt den Raum wie­der zur Ver­fü­gung, das neue Bud­get steht. Und wer weiß, viel­leicht wird aus dem Pop-Up bald ein Dauerbrenner. 

Herz­li­che Grü­ße
Ihre Anna Stern

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Über die Autorin

Anna Stern ist unter ande­rem Per­for­mance-Künst­le­rin. Sie lebt und arbei­tet seit 30 Jah­ren in Müns­ter. Sie stu­dier­te an der Kunst­aka­de­mie Müns­ter, spä­ter an der Ber­li­ner Uni­ver­si­tät der Küns­te, wo sie aktu­ell Ver­tre­tungs­pro­fes­so­rin am Insti­tut für Ästhe­ti­sche Bil­dung und Kunst­di­dak­tik ist.

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