Brief von Ruprecht Polenz | Jetzt brauchen wir Alltagsverstand


Münster. 17.05.2020
Einen schönen Sonntag wünsche ich Ihnen,
langsam erwacht das öffentliche Leben in Münster aus der Zwangsnarkose der Corona-Beschränkungen. Geschäfte haben wieder geöffnet. Seit Montag auch die Restaurants. Die Innenstadt belebt sich wieder. Kitas und Schulen tasten sich schrittweise vor, damit die Kinder wenigstens an einem oder zwei Tagen in der Woche wieder kommen können.
Damit es auf diesem Weg weitergehen kann, müssen wir freilich die Hygieneregeln weiter beachten, die uns vor einer Ansteckung mit dem Virus schützen: Händewaschen und Abstand halten.
Diese 1,50 Meter müssen uns in Fleisch und Blut übergehen. Auch wenn wir uns demnächst wieder mit allen Menschen treffen dürfen, sollten wir uns so lange physisch nicht näher kommen, bis ein Impfstoff gefunden ist. Denn das Virus ist ja nicht schwächer geworden oder weniger gefährlich. Die Ansteckungszahlen sind vor allem deshalb zurückgegangen, weil wir uns physisch nicht so nahe gekommen sind, dass das Virus den Abstand hätte überwinden können.
Wir schauen jetzt auf eine neue Kennziffer: Wenn es innerhalb der letzten sieben Tage in einem Landkreis mehr als 50 Neuinfizierte je 100.000 Einwohner gibt, müssen Lockerungen rückgängig gemacht werden. Dann muss die Stadt alle notwendigen Maßnahmen treffen, um zu verhindern, dass die Epidemie wieder aufflammt und sich über die Stadtgrenzen hinaus ausbreitet. Für Münster liegt diese Grenze also bei 150 Neuinfizierten pro Woche, die nicht überschritten werden darf. Im Augenblick gibt es 5,1 Neuinfizierte in dieser Zeit (Stand 14.05.).
Weil wir immer noch am Anfang der Epidemie stehen, wird die Stadt auch in den kommenden Wochen und Monaten intensiv mit der Corona-Krise beschäftigt sein, nachjustieren, vorsichtig lockern und kontrollieren, damit Münster möglichst weit unter 150 Neuinfizierten pro Woche bleibt.
Aber der Staat kann nicht alles kontrollieren. Es steht keiner vom Ordnungsamt hinter uns, um uns an das Händewaschen zu erinnern. Staatliche Vorgaben für Restaurants oder Geschäfte sollen zwar gewährleisten, dass wir den notwendigen Abstand voneinander halten können. Daran halten müssen wir uns schon selbst.
Deutschland ist als demokratischer Staat auf Vertrauen aufgebaut, hat Bundeskanzlerin Angela Merkel richtig gesagt. Wir vertrauen uns gegenseitig, dass wir uns vernünftig verhalten und andere nicht leichtsinnig in Gefahr bringen. Auf diese Vernunft wird es entscheidend ankommen, damit wir die Epidemie weiter unter Kontrolle behalten und den Weg in eine verantwortungsvolle Normalität weiter gehen können. Es komme jetzt auf unseren „Alltagsverstand“ an, hat Deutschlands bekanntester Virologe Christian Drosten gesagt.
Dieser Alltagsverstand sollte uns auch davon abhalten, den Verschwörungs-Mystikern hinterherzulaufen, die jetzt landauf landab zu Corona-Demos aufrufen, weil ihnen die Lockerungen nicht schnell genug gehen. Manche von ihnen glauben auch an eine große Corona-Verschwörung, die irgendwelche finsteren Mächte angezettelt hätten, um uns zu schaden. Auch in Münster hat so eine Demonstration stattgefunden. Weitere sollen geplant sein. In Stuttgart wurde für dieses Wochenende eine Demonstration mit 500.000 Teilnehmern angemeldet.
Neue Studie weist den Weg
Solche Geisterzahlen sollen eine Massenbewegung suggerieren und darüber hinwegtäuschen, dass nach wie vor der übergroße Teil der Bevölkerung mit den bisherigen Maßnahmen der Epidemiebekämpfung einverstanden ist. Dem Corona-Krisenmanagement der Bundesregierung stellt weiterhin eine Mehrheit der Deutschen ein positives Zeugnis aus. Zwei Drittel (67 Prozent) sind damit sehr zufrieden beziehungsweise zufrieden (-5 im Vergleich zu April); ein Drittel (32 Prozent) ist damit weniger beziehungsweise gar nicht zufrieden (+5).
Olaf Sundermeyer, ein Journalist, der sich wie kaum ein anderer in der rechtspopulistischen und rechtsradikalen Szene auskennt, hat recherchiert, wer sich durch diese Proteste Aufwind verspricht. Sein Fazit: „Die AfD versucht, den Straßenprotest in der Corona-Krise zu steuern und in die Parlamente zu tragen. Sie setzt auf organisierten Widerstand, Kooperation mit Hooligans und Gegenöffentlichkeit im Netz. Sie professionalisiert das bewährte Pegida-Konzept aus der Flüchtlingskrise.“
Was die weiteren Lockerungsschritte angeht, so dürfte auch für Münster eine neue Studie den Weg weisen. Erstmals haben sich Virologen und Wirtschaftswissenschaftler gemeinsam zu Wort gemeldet. Das Helmholtz-Institut für Infektionsforschung (HZI) und das Ifo-Institut in München (ifo) haben sich mit der Frage beschäftigt, wie sich die Corona-Beschränkungen auf Wirtschaft und Gesundheit auswirken. Titel der Studie: „Das gemeinsame Interesse von Gesundheit und Wirtschaft: Eine Szenarienrechung zur Eindämmung zur Eindämmung der Corona-Pandemie“ In der öffentlichen Diskussion über den weiteren Kurs in der Bekämpfung der Corona-Pandemie würden die Interessen des Gesundheitsschutzes oft als Gegensatz zu den Interessen der Wirtschaft dargestellt, heißt es in der Einleitung. Aber das werde der Problemlage nicht gerecht. Denn vorzeitige Lockerungen könnten zu einer zweiten Infektionswelle führen. Dadurch würde das Vertrauen von Konsumenten und Investoren beschädigt. Viele Unternehmen müssten dann unabhängig von staatlichen Vorgaben ihre Geschäftstätigkeit wieder herunterfahren. Die Kosten wären erheblich.
Umgekehrt führe eine Verlängerung der Beschränkungen jedoch auch zu gesundheitlichen Belastungen in anderen Bereichen. Es gehe deshalb darum, die gesundheitlichen mit den ökonomischen Zielen bestmöglich in Einklang zu bringen.
Als Messzahl dafür dient der Reproduktionswert, der sogenannte R-Wert. Der R-Wert misst, wie viele Personen ein infizierter Mensch ansteckt. Bei einem R-Wert von 1 steckt ein Infizierter insgesamt einen anderen Menschen an.
Das wäre für die Wissenschaftler zu viel. Die Virologen, Epidemiologen und Wirtschaftswissenschaftler empfehlen so etwas wie einen goldenen Mittelweg: „Die qualitative Aussage, dass eine leichte und schrittweise Lockerung der Beschränkungen sowohl wirtschaftlich als auch gesundheitspolitisch einer schnellen Aufhebung vorzuziehen ist, halten wir für robust.“ Der R-Wert sollte bei 0,75 gehalten werden. Zehn Infizierte würden dann nur sieben bis acht andere anstecken. Die Gesamtzahl der Infizierten ginge weiter zurück.
Mit unserem Alltagsverstand sollten wir mithelfen, dass Münster diesen Wert von 0,75 nicht überschreitet. Dann können wir uns auf weitere, vorsichtige Lockerungen und eine schrittweise Erholung der Wirtschaft freuen.
Ihnen noch einen schönen Sonntag und eine gute Woche.
Bleiben wir Demokraten und bleiben Sie gesund.
Ihr
Ruprecht Polenz
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