Die Kolumne von Ruprecht Polenz | Wir brauchen einen starken Staat

Müns­ter, 8. Janu­ar 2023

Guten Tag,

einen schö­nen Sonn­tag wün­sche ich Ihnen.

„Wenn die stil­le Zeit vor­bei ist, dann wird es auch end­lich wie­der ruhi­ger“, hat Karl Valen­tin gesagt. Fami­li­en­tref­fen über Weih­nach­ten berei­ten nicht nur Freu­de, son­dern kön­nen auch ganz schön anstren­gend sein. Der fami­liä­re Aus­nah­me­zu­stand ist auf­ge­ho­ben. Das Büro hat uns wieder.

Aller­dings bebt die Sil­ves­ter­nacht wegen der gewalt­sa­men Aus­ein­an­der­set­zun­gen noch nach. Sanitäter:innen, Feu­er­wehr­leu­te, Poli­zis­tin­nen und Poli­zis­ten wur­den mit Feu­er­werks­ra­ke­ten beschos­sen und mit Böl­lern atta­ckiert, in Hin­ter­hal­te gelockt und mit Fla­schen und Stei­nen bewor­fen. Es gab Stra­ßen­bar­ri­ka­den und bren­nen­de Autos.

Beson­ders hef­tig waren die Aus­schrei­tun­gen in Ber­lin. Aber auch in Hagen, Essen, Gel­sen­kir­chen, Duis­burg und Bonn kam es zu mas­si­ver Gewalt auf den Stra­ßen. Dage­gen gab es „kei­ne Tumultla­gen in Pader­born, Müns­ter, im Sau­er­land oder in Süd­west­fa­len, dafür aber in oft schon ein­schlä­gig bekann­ten Vier­teln, nicht nur von Städ­ten im Ruhr­ge­biet“, berich­te­te die FAZ aus Sicher­heits­krei­sen in Nordrhein-Westfalen.

Wäh­rend sie in ihrer Über­schrift noch frag­te: „Hängt die Gewalt mit geschei­ter­ter Inte­gra­ti­on zusam­men?“, war sich die Neue Zür­cher Zei­tung schon sicher.

„Sil­ves­ter in Deutsch­land – Die Gewalt hat einen Migra­ti­ons­hin­ter­grund“ über­schrieb sie einen Kom­men­tar und spie­gel­te damit eine poli­ti­sche Dis­kus­si­on wider, die seit Neu­jahr in Deutsch­land geführt wird. 

Kulturpolitisch kurzgeschlossen

Im Hand­um­dre­hen ist aus einer über­fäl­li­gen Debat­te über Gewalt und Staats­ver­ach­tung eine Migra­ti­ons­de­bat­te gewor­den. Ganz so, als wür­den Ret­tungs­kräf­te nicht auch beim All­tags­ein­satz belei­digt und ange­grif­fen. Als gäbe es kei­ne Gewalt von Hoo­li­gans und kei­ne soge­nann­ten Hoch­ri­si­ko­spie­le im Fuß­ball. Als hät­te es kei­ne Angrif­fe gegen Medi­en­schaf­fen­de oder Poli­zei­kräf­te bei den Auf­mär­schen von Impfgegner:innen und Querdenker:innen gege­ben. Die regel­mä­ßi­gen Aus­schrei­tun­gen soge­nann­ter Auto­no­mer am 1. Mai wer­den eben­so aus­ge­blen­det wie Angrif­fe auf Geflüch­te­ten­un­ter­künf­te durch Rechtsextremisten. 

Die Dis­kus­si­on wird kul­tur­po­li­tisch kurz­ge­schlos­sen. Die sozia­len Grün­de für die gewalt­tä­ti­gen Aus­schrei­tun­gen blei­ben ausgeschlossen. 

Statt die Sil­ves­ter­nacht zum Anlass zu neh­men, sich umfas­send mit Gewalt­prä­ven­ti­on zu beschäf­ti­gen, fixie­ren wir uns auf eine Grup­pe, stel­len sie mehr oder weni­ger unter Gene­ral­ver­dacht – und wun­dern uns, war­um vie­le Ein­ge­wan­der­te und Ein­ge­bür­ger­te sich in Deutsch­land nicht so rich­tig zu Hau­se fühlen. 

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Chris­toph de Vries, Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ter und stell­ver­tre­ten­der Lan­des­vor­sit­zen­der der CDU Ham­burg, twit­ter­te:

„Wenn wir Kra­wal­le in unse­ren Groß­städ­ten, Ver­ach­tung gegen­über dem Staat und Über­grif­fe gegen #Poli­zis­ten und #Feu­er­wehr­leu­te wirk­lich bekämp­fen wol­len, müs­sen wir auch über die Rol­le von Per­so­nen, Phä­no­ty­pus: west­asia­tisch, dunk­le­rer Haut­typ, spre­chen. Um es kor­rekt zu sagen.“

War­um ist es so schwie­rig, über die Aus­schrei­tun­gen so zu spre­chen, dass ohne fal­sche Rück­sicht alles benannt wird, ohne gleich­zei­tig Res­sen­ti­ments zu schüren? 

Wenn typisieren, dann richtig

Man kann Merk­ma­le ange­ben, die auf die aller­meis­ten zutref­fen, die in der Sil­ves­ter­nacht Straf­ta­ten began­gen haben. Aber wenn man typi­sie­ren will, soll­te man eben nicht mit der Ein­wan­de­rungs­ge­schich­te anfan­gen, so, als wäre Gewalt nicht auch ein Pro­blem bei Einheimischen.

Was trifft auf die Straf­tä­ter der Sil­ves­ter­nacht zu?

  1. Män­ner
  2. jung
  3. alko­ho­li­siert
  4. aus sozia­len Brennpunkten
  5. schwa­che Bildung
  6. pro­ble­ma­ti­sche Familien
  7. pre­kä­re Beschäftigung
  8. schlech­te Wohnsituation
  9. Ein­wan­de­rungs­ge­schich­te

„Dass Sil­ves­ter so gewalt­tä­tig war, reiht sich ein in einen Anstieg der Gewalt in der gesam­ten Gesell­schaft“, sagt Andre­as Zick, Lei­ter des Insti­tuts für Kon­flikt- und Gewalt­for­schung an der Uni­ver­si­tät Bielefeld.

Mehr oder weni­ger ver­klau­su­lier­te pau­scha­le Schuld­zu­wei­sun­gen an Men­schen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund „belei­di­gen Mil­lio­nen von Men­schen, die sich als Ein­wan­de­rer ver­ste­hen.“ Außer­dem wer­de aus­ge­blen­det, „wie vie­le Men­schen mit Migra­ti­ons­ge­schich­te selbst in den Ret­tungs­dienst- und Poli­zei­dienst­stel­len arbei­ten und eben­falls Opfer sind.“ Es gibt kei­ne Kul­tur, in der es dazu gehört, Feu­er­wehr oder Ret­tungs­kräf­te anzugreifen.

Die Gesetze sind ausreichend

Wir brau­chen einen star­ken Staat. Straf­ba­re Gewalt bekämpft und äch­tet man nicht dadurch, dass man nach tat­säch­li­chen oder ver­meint­li­chen Grup­pen­zu­ge­hö­rig­kei­ten oder den Moti­ven der Täter:innen dif­fe­ren­ziert, son­dern indem man sie fest­nimmt, vor Gericht stellt und die Geset­ze anwendet. 

Die Geset­ze sind völ­lig aus­rei­chend, um gegen sol­che Kra­wal­le wie in der Sil­ves­ter­nacht wirk­sam vor­zu­ge­hen. Man muss sie nur anwen­den. Es hapert beim Voll­zug. Dafür müs­sen Poli­zei und Jus­tiz ent­spre­chend aus­ge­stat­tet wer­den. Zustän­dig dafür sind die Bundesländer.

Gleich­zei­tig brau­chen wir eine umfas­sen­de Stra­te­gie für sozia­le Brenn­punk­te, um der Gewalt vor­beu­gend ent­ge­gen­zu­wir­ken: auf­su­chen­de Sozi­al­ar­beit, unter­stüt­zen­de Jugend­hil­fe, För­der­un­ter­richt, Sport­an­ge­bo­te. Eine Stadt­pla­nung, die für sozia­le Durch­mi­schung sorgt und Schu­len, die nicht nur Kennt­nis­se, son­dern auch Hal­tun­gen und Ein­stel­lun­gen ver­mit­teln, gehö­ren auch dazu. 

Für 2023 wün­sche ich Ihnen Gesund­heit, Freu­de und alles Gute.

Ihr Ruprecht Polenz

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Über den Autor

Vie­le Jah­re lang war Ruprecht Polenz Mit­glied des Rats der Stadt Müns­ter, zuletzt als CDU-Frak­ti­ons­vor­sit­zen­der. Im Jahr 1994 ging er als Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ter nach Ber­lin. Er war unter ande­rem CDU-Gene­ral­se­kre­tär, zwi­schen 2005 und 2013 Vor­sit­zen­der des Aus­wär­ti­gen Aus­schus­ses des Bun­des­tags. Von 2000 bis 2016 war Ruprecht Polenz Mit­glied des ZDF-Fern­seh­rats, ab 2002 hat­te er den Vor­sitz. Der gebür­ti­ge Bautz­e­ner lebt seit sei­nem Jura-Stu­di­um in Müns­ter. 2020 erhielt Polenz die Aus­zeich­nung „Gol­de­ner Blogger“.

Die Kolumne

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