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Die Kolumne von Marion Lohoff-Börger | Hinterfragen wir die Münster-Liebe
Guten Tag,
ich sitze am Küchentisch eines feinen, kleinen Ferienhauses im Sauerland und schaue aus dem bodentiefen Küchenfenster auf die sanften, grünen Hügel. Die seien nach Kyrill vor zwölf Jahren mit Lärchen wieder aufgeforstet worden, erklärte uns gestern die Vermieterin.
Nachdem es in meiner letzten RUMS-Kolumne um Masematte und ihre spendable Großtante, das Jiddische, ging, will ich mir diesmal die zweite große Spendersprache der Masematte vornehmen – das Romanes oder auch Romani, wie manche sagen.
20 Prozent der Wörter aus der Masematte stammen aus dem Romanes der Sprache der Sinti:zze und Rom:nja. Sollte ich das verwandtschaftliche Verhältnis zur Masematte parallel zum Jiddischen beschreiben, so würde ich sagen, ist sie eher die kleine Schwester, die gelernt hat, still zu halten und nicht aufzubegehren, um friedlich existieren zu können.
Ein gemeinsames Merkmal mit der Masematte ist, dass beide Sprachen grundsätzlich nur mündlich gesprochen wurden und es demnach keine Verschriftlichung und damit auch keine im üblichen Sinne überprüfbaren Zeugnisse und Quellen gibt.
Das Romanes hat eine wechselvolle Geschichte, genauso wie die Menschen, die es sprechen. Sie stammten ursprünglich aus Indien und wanderten ab dem 8. bis 10. Jahrhundert über Persien nach Kleinasien und den Kaukasus (Armenien).
Eine Meltingpot-Sprache
Ab dem 13. und 14. Jahrhundert zogen sie über Griechenland und dem Balkan nach Mittel-, West- und Nordeuropa. Ihre erste und ursprüngliche Sprache, das Altindische, nahmen sie mit und reicherten diese mit Worten aus den ortsüblichen Sprachen an. Das sind unter anderem Farsi, Kurdisch und Türkisch bis hin zu Polnisch und Rumänisch. Romanes ist demnach ähnlich wie die Masematte eine Meltingpot-Sprache.
In religiöser Hinsicht haben sich die Rom:nja dem Glauben der Bevölkerung angepasst, mit der sie lebten. Also ganz anders als beim Jiddischen, deren Wörter am häufigsten in der Masematte Verwendung gefunden haben, ist das Romanes nicht durch die Spiritualität einer einzigen Weltreligion geprägt.
Aber jetzt mal konkret: Wie hört sich das denn an? Oder besser, wie liest es sich? Nehmen wir den von mir konstruierten Satz auf Masematte. Alle vier kursiv gedruckten Wörter kommen aus dem Romanes:
„Pichel lieber ‘nen Pani statt ‘ner Lowine, wenn du mit dem Wuddi fährst, sonst biste tacko deine Fleppe los und dein Lowi bleibt bei der Husche.“
Auf Hochdeutsch bedeutet das: Trinke lieber ein Wasser statt eines Biers, wenn du mit dem Wagen fährst, sonst bist du schnell deinen Führerschein los und dein Geld bleibt bei der Polizei.
Das Wort „pani“ für Wasser ist mein Lieblingsbeispiel für Romanes bei meinen Vorträgen und Lesungen. Es stammt aus dem Sanskrit, einer altindischen Sprache und wurde durch Migration von den Sinti:zze und Rom:nja nach Münster in die kleinen Viertel Pluggendorf, Klein Muffi, dem Sonnstraßen- und dem Kuhviertel gebracht. Ebenso das bekannte Wort „Lowine“. Es kommt aus dem Rumänischen und bezeichnet dort wie in Münster das Bier.
Seit zehn Jahren pflegen wir die Beete auf den Kreisverkehren in unserem Stadtteil und bekommen dafür viel Lob und Dank von unseren Mitmenschen. Dabei freuen wir uns über tatkräftige Mitarbeit. Wir treffen uns donnerstags von 10 bis 11 Uhr zur Arbeit an den Beeten und sind an den gelben Westen gut zu erkennen.
Interesse? Schreiben Sie uns gerne!
„Wuddi“ ist vielen bekannt, beispielsweise heißt ein Jugendzentrum in Kinderhaus im Kap 8 so und hat seine Herkunft aus dem Ossetischen, einer Sprache, die im Iran gesprochen wurde. Das „Lowi“, also das Geld, ist wiederum altindischen Ursprungs und bedeutete dort Gold, rotes Metall, Kupfer oder Eisen.
Diese Informationen finde ich in dem Wörterbuch von Siegmund Wolf. Der Buske-Verlag hat es 1993 neu aufgelegt (nach meinem Eindruck wäre es zu der Zeit durchaus schon möglich und angebracht gewesen, in der Überschrift auf das Z-Wort zu verzichten). Sehr interessant und viel weitreichender und differenzierter ist die Datenbank Romlex der Uni Graz, wo detailliert europaweit gesammelte Romaneswörter erforscht werden.
Als ich mich fragte, wie das Leben der Sinti:zze und Rom:nja in Münster seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, also mit dem Beginn der Masematte war, habe ich wenig gefunden. Es war niederschmetternd: Gab ich „Sinti und Roma“ in verschiedenen Suchportalen ein (die gegenderte Form ging gar nicht), war der Informationsfluss spärlich. Gab ich das Z-Wort ein, war der Ertrag größer.
Eine Quelle, die tatsächlich sehr hilfreich war, war eine Aufarbeitung der Gesamtschule Münster-Mitte, die über die Familie Wagner im Kuhviertel recherchiert hat. Familie Wagner wohnte auf der Brinkstraße, also im heutigen Kuhviertel und muss mit Sicherheit zu den Masemattesprecher:innen gehört haben. Die Aufarbeitung der Oberstufenschüler:innen aus dem Jahr 2021 ist lesenswert und gut gemacht.
Die zweite Quelle, die einen Blick auf die Masemattesprecher:innen im Kuhviertel während der NS-Zeit wirft, ist der Bericht „Margot Krause muss gemeldet werden“ aus dem Buch: Z***verfolgung im Rheinland und Westfalen 1933 – 1945. Geschichte, Aufarbeitung und Erinnerung“ herausgegeben von Karola Frings und Ulrich Opfermann aus dem Jahr 2012 (sic!).
Hier wird das Kuhviertel erwähnt, so wie wir es aus dem allseits bekannten Spruch kennen, der eine ganze Menschengruppe kriminalisiert: „Tasche, Brink und Ribbergasse – Messerstecher erster Klasse“. Margot Krause lebte in Greven, wurde von den Behörden ihrer Pflegemutter weggenommen und nach Hamm in das katholische Kinderheim Vorsterhausen gebraucht. Sie wurde am 24. Februar 1944 in Auschwitz ermordet. In Greven gibt es heute einen Margot-Krause-Weg.
Gedenktag für den Völkermord
Schaute ich auf die Seiten der Stadt Münster, so las ich dort das, was allgemein über das Leben der Sinti:zze und Rom:nja in Deutschland bekannt ist, aber nichts Spezifisches über ihr Leben in Münster. Überschrieben ist die Seite mit „Forschungs- und Gedenkprojekt“. Die Schicksale der Menschen jüdischen Glaubens sind wesentlich besser aufgearbeitet. Mit einer App des WDR kann man übrigens seit kurzem in jeder Stadt nach Stolpersteinen suchen, so eben auch in Münster.
Wussten Sie, dass es parallel zum Holocaustgedenktag am 27. Januar auch einen eigenen Gedenktag für den Völkermord an den Sinti:zze und Rom:nja gibt? Das ist der 2. August eines jeden Jahres.
„Am 2. August gedenken wir der letzten 4.300 Sinti und Roma des Deutschen NS-Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau, die in dieser Nacht des Jahres 1944 trotz erbittertem Widerstand von der SS ermordet wurden.
In Erinnerung an die insgesamt 500.000 Sinti und Roma, die im nationalsozialistisch besetzten Europa ermordet wurden, erklärte das Europäische Parlament 2015 diesen Tag zum Europäischen Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma.“ So liest man auf der Seite.
Erst Anfang der Achtzigerjahre wurden Sinti:zze und Rom:nja als Holocaustopfer anerkannt und auch der Begriff Antiziganismus ist nur wenigen Menschen in der heutigen Rassismusdebatte bekannt.
Und wussten Sie, dass ein anderer Ausdruck für den Genozid an Sinti:zze und Rom:nja als „Holocaust“ existiert? Er lautet „Porajmos“ und bedeutet auf Deutsch „das Verschlingen“. Holocaust bedeutet „vollständig verbrannt“ und kommt aus dem Englischen beziehungsweise dem Griechischen.
Menschen jüdischen Glaubens bezeichnen den Völkermord der Nazis mit dem Hebräischen Wort „Shoa“, was „große Katastrophe“ bedeutet. Das sind keine sprachlichen Spitzfindigkeiten, sondern die Begriffe zeigen, wie der Sprachgebrauch unser Denken und unsere Wahrnehmung widerspiegelt.
An dieser Stelle betone ich erneut, dass die Beschäftigung mit Münsters Kulturform Masematte, dazu führt, sich kritisch mit Münsters Stadtgeschichte auseinanderzusetzen. Masematte fordert uns heraus, die große Münster-Liebe – und den kommerziellen Hype darum schon zweimal – zu hinterfragen.
Mich macht der Umgang mit der Geschichte der Sinti:zze und Rom:nja traurig und nachdenklich. Und wenn ich jetzt meinen Blick hebe und auf die sanfte Hügellandschaft des Sauerlands blicke, so glaube ich, dass wir in Münster nach dem zerstörerischen Sturm des Völkermords durch die Nationalsozialisten auch noch symbolisch eine Menge Bäume aufzuforsten haben. Aber Lärchen reichen da sicher nicht. Es sollten Blutbuchen sein. Ja, genau, jede Menge Blutbuchen.
Herzliche Grüße
Ihre Marion Lohoff-Börger
Korrekturhinweis:
In einer früheren Version hatten wir geschrieben, Margot Krause sei nach dem Krieg wieder nach Greven zurückgekehrt. Das stimmte nicht. Sie wurde im Februar 1944 in Auschwitz ermordet. Wir haben das korrigiert.
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Marion Lohoff-Börger
… ist die Frau mit der Masematte und den alten Schreibmaschinen. Auf letzteren schreibt sie Gedichte und verkauft diese in ihrem Atelier an der Wolbecker Straße 105 als Postkarten. Die Masematte möchte die freie Autorin in Münster zu einem lebendigen Sprachdenkmal machen und versucht, dieses mit Kursen, Vorträgen, Lesungen, Büchern und Artikeln für Zeitungen und Onlinemagazine umzusetzen. 2021 stellte sie beim Land Nordrhein-Westfalen den Antrag „Masematte als Immaterielles Kulturerbe“, der abgelehnt wurde mit dem Hinweis, die Stadtgesellschaft Münster müsse sich noch mehr für dieses Kulturgut engagieren.
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