Die Kolumne von Ruprecht Polenz | Straßennamen sind Stadtgeschichte

Porträt von Ruprecht Polenz
Mit Ruprecht Polenz

Guten Tag,

einen schönen Sonntag wünsche ich Ihnen.

Ich freue mich, dass ich Sie dank eines Computerprogramms, das Ihren Namen automatisch mit diesem Brief verknüpft, persönlich ansprechen kann. Denn Namen sind etwas ganz Besonderes. Deshalb soll es heute mal um Namen gehen. Sie merken schon, wir werden bei der Diskussion über Straßen-Umbenennungen landen.

Für jeden Menschen sei der eigene (Vor)name das allerschönste Wort, hat vor vielen Jahren Dale Carnegie gesagt. In seinem Bestseller „Wie man Freunde gewinnt“ hat er deshalb empfohlen, den Namen seines Gegenübers möglichst oft zu erwähnen.

Noch ehe ein Baby selbst sprechen kann, ist es mit dem eigenen Namen verbunden und weiß: Jetzt bin ich gemeint. Der Name wird zum Bestandteil der eigenen Identität.

Sehr früh bekommt man auch seine Adresse beigebracht. Für den Fall, dass ein kleines Kind verloren geht, soll es nicht nur seinen Namen sagen können, sondern auch, wo es wohnt, damit es nach Hause gebracht werden kann.

Straßennamen werden damit zwar nicht gleich zum Identitätsbestandteil, aber sie gehören zur eigenen Wohnung dazu – gewissermaßen als Außenanlagen. Auf jedem Brief oder Päckchen, das man bekommt, steht gleich unter dem eigenen Namen der Name der Straße, in der man wohnt. Wenn jemand zu Besuch kommen soll, braucht er Straßennamen und Hausnummer, um uns zu finden. Man hat sich an diese enge Verbindung mit dem eigenen Namen gewöhnt.

Deshalb braucht es gute und überzeugende Gründe dafür, wenn Straßen umbenannt werden sollen. Auch weil Straßennamen der Orientierung dienen sollen, liegt es nahe, sie nicht alle naselang zu ändern. Viele Straßen tragen seit Jahrhunderten denselben Namen. Der Alte Steinweg oder die Salzstraße hießen schon im Mittelalter so.

Tausende Unterschriften gegen die Umbenennung

Anderen Straßennamen war ein kürzeres Leben beschieden, obwohl die Namensgeber mit mindestens tausend Jahren gerechnet hatten: Aber nach 1945 wurde die Adolf-Hitler-Straße in Münster wieder zur Bahnhofstraße, die Horst-Wessel-Straße wieder zur Hafenstraße und die Hermann-Göring-Straße hieß wieder Nordstraße.

Ohne es miterlebt zu haben, gehe ich davon aus, dass diese Rückbenennungen nicht umstritten waren und ohne großes Aufsehen vollzogen wurden.

Das war mit dem Hindenburgplatz anders. Über viele Jahre wurde eine Umbenennung gefordert, schließlich auch vom Rat beschlossen. Gegen die Umbenennung in Schlossplatz wurden tausende Unterschriften gesammelt. Schließlich musste ein Bürgerentscheid bestätigen: Es bleibt beim Schlossplatz. Die erbittert und sehr emotional geführte Diskussion damals zeigt, wie eng auch Straßennamen mit Identitätsgefühlen verbunden sind.

Andere Länder haben eher keine Probleme mit dem Umbenennen von Straßen, denn die Straßen haben gar keine Namen. So verwendet man in vielen Städten der USA Buchstaben und Ziffern, um die Adresse anzugeben: 200 East 45th Street in New York oder 633 A Street SE in Washington. Allerdings setzt dieses System eher rechtwinklig zueinander verlaufende Straßen voraus. Und nimmt so ein nummeriertes Straßensystem einer Gemeinschaft nicht die Individualität, die benannte Straßen bieten?

Streit um Namen kann eine Stadt auch mit einem Zeisigweg oder einer Warendorfer Straße vermeiden. Die eine zeigt an, wohin sie führt. Und Fauna und Flora sind geschichtlich neutral.

Mit Personen ist das eine andere Sache. Da ändert sich die historische Bewertung öfter. Wenn es zur Zeit der Benennung dem allgemeinen Empfinden entsprach, dieser oder jener Person durch einen Straßennamen ehrend zu gedenken, muss das Jahrzehnte oder Jahrhunderte später nicht mehr so gesehen werden. Deshalb müssen Umbenennungen grundsätzlich möglich sein. Eine Stadtgesellschaft ist bei der Namensgebung frei. Das gilt nicht nur für neugebaute Straßen und Plätze, sondern auch für Umbenennungen.

Der öffentliche Gebrauch von Geschichte

In Münster sind die Bezirksvertretungen für die Straßennamen zuständig. Im Dezember 2020 hatte die BV Mitte ein Gutachten in Auftrag gegeben, die zwischen 1933 und 1945 im Bezirk Mitte vergebenen Straßennamen zu überprüfen, „ob und inwieweit diese Namen die Funktion hatten, die NS-Ideologie, nationalsozialistische Erinnerungsabsichten oder die Ziele der NS-Politik zu veröffentlichen“.

Dr. Alexander J. Schwitanski hat daraufhin mit Hanna K. Ruff 66 Straßennamen untersucht und „auf die Dichte ihrer Bezüge zur NS-Ideologie“ geprüft.

In Straßennamen drücke sich „der öffentliche Gebrauch von Geschichte durch die handlungsmächtigen Deutungseliten aus.“ Deshalb seien „alle zwischen 1933 und 1945 vergebenen Straßennamen in ‘nationalsozialistische(n) Erinnerungsabsichten’ vergeben worden“, so sein Gutachten.

Außerdem habe der Nationalsozialismus „ältere, besonders innerhalb eines nationalistischen und konservativen Milieus vorhandene Erinnerungsbestände genutzt und zu eigenen Geschichtsdeutungen weiterentwickelt.“ Das habe eine Verbindung zu breiteren Teilen der deutschen Gesellschaft hergestellt und „konnte zu deren Integration in den neuen NS-Staat beitragen.“

Mit anderen Worten: Auch eine Barbarossa-Straße wäre bis heute kontaminiert, wenn die Nazis einer Straße in Münster diesen Namen gegeben hätten.

Vor allem dieser zweite Teil der Untersuchungsprämisse hat seine Probleme, wie wir gleich sehen werden.

Auf Antrag von Grünen, SPD und Volt hat die Bezirksvertretung Münster-Mitte im Januar mehrheitlich beschlossen, eine ganze Reihe von Straßen umzubenennen, unter anderem die Prinz-Eugen-Straße. Zur Begründung wird auch auf die Kontaminierungsthese hingewiesen:

„Prinz Eugen erhielt 1697 den Oberbefehl über die österreichischen Truppen im Kampf gegen das Osmanische Reich. Diese Kriege wurden später als sog. ‘Türkenkriege’ und Prinz Eugen als ‘Türkenkrieger/-sieger’ bezeichnet. Damit sollte an den Kriegsgegner nur als ‘den Anderen’ gedacht werden, der aus dem Kreis der zivilisierten Völker ausgegrenzt ist.

Was folgt aus den Motiven von damals?

Das NS-Regime nutzte diese Vereinnahmung Eugens, um Hitler mit Prinz Eugen gleichzusetzen und die Verbindung von Rassenideologie und Geopolitik zu verbinden. Hitlers Anschlussrede Österreichs fand auf der Wiener Hofburg direkt über dem Reiterstandbild Eugens statt.“

Aus letzterem lässt sich sicherlich keine besondere Nähe zu Hitler konstruieren. Die Anschlussrede hielt Hitler in der Hofburg, weil dort die Residenz der Habsburger gewesen war. Das Reiterstandbild stand seit langem davor, weil die österreichischen Truppen unter Prinz Eugen die Türken vor Wien zurückgeschlagen haben. Aber sei’s drum.

Die Prinz-Eugen-Straße erhielt ihren Namen 1936. Heutzutage würde man wahrscheinlich keine Straße mehr nach Prinz Eugen benennen. Aber folgt aus den Motiven, die 1936 zu der Namensgebung geführt haben, dass man sie fast 90 Jahre später umbenennen muss?

Wer würde heute Prinz Eugen mit Hitler gleichsetzen? Wer käme beim Blick auf das Schild Prinz-Eugen-Straße überhaupt auf die Idee, an Hitler oder die Nazis zu denken?

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Grüne, SPD und Volt scheinen ihren Argumenten für eine Umbenennung selbst nicht zu trauen. In Bürgerversammlungen soll lediglich über die Entscheidung, die Straße umzubenennen, informiert werden. Das „Ob-überhaupt-Umbenennen“ wird nicht mehr in Frage gestellt.

Sehr apodiktisch behaupten die drei Parteien, der Name Prinz-Eugen-Straße „stehe im Widerspruch zu den Werten unserer freiheitlichen Demokratie, die sich gegen nationalsozialistische, antisemitische, militaristische, misogyne, rassistische und imperialistische Ansichten zur Wehr setzt, sowie den Schutz ihrer Minderheiten anstrebt. Ein Erklärungsschild unter den Straßennamen ist daher keine ausreichende Maßnahme“.

Die Bürger sind deshalb nur dazu eingeladen, Vorschläge für einen neuen Straßennamen zu machen. Diese Vorgehensweise ist unnötig konfrontativ.

Straßennamen dokumentieren Stadtgeschichte

Zu hinterfragen wäre nämlich auch die Ausgangsprämisse des Gutachtens, wonach die Bedeutung, die die Nazis einem Straßennamen beigemessen haben, diesen auf Dauer kontaminiert. Als hätte der Nationalsozialismus größere Deutungsmacht als unsere Demokratie. Und das bis heute.

Das Geistviertel wurde nach dem Ersten Weltkrieg zwischen 1921 und 1931 bebaut. Deutschland hatte 1919 Elsaß-Lothringen (wieder) an Frankreich verloren. Was mögen die Motive für die gewählten Straßennamen im Geistviertel gewesen sein: Metzer Straße, Kolmarstraße, Straßburger Weg, Weißenburgstraße, Wörthstrasse, Elsässer Straße? Wehmütige Erinnerung oder Hoffnung auf Revanche?

Text wird aus Kontext verstanden. Was auch immer in den Zwanzigerjahren die Beweggründe für die Straßenbenennungen gewesen sein mögen: Heute stellt niemand in Frage, dass Elsaß-Lothringen zu Frankreich gehört. Die Straßennamen erinnern an deutsch-französische Geschichte. Die damalige „Erbfeindschaft“ ist zu enger nachbarschaftlicher Freundschaft geworden. Niemand fühlt sich beim Besuch des Geistviertels dazu aufgefordert, das anders zu sehen.

Das Beispiel zeigt, dass auch geschichtliche Klitterungen und Deutungen durch die Nationalsozialisten durch den heutigen demokratischen Kontext eine andere Bedeutung erhalten können. Dieser Gedanke spielt weder in dem Schwitanski-Gutachten eine Rolle, noch in den Beschlüssen von Grünen, SPD und Volt.

Straßennamen dokumentieren Stadtgeschichte. Dazu sollte eine Stadtgesellschaft stehen und nicht nachträglich daran herumradieren – es sei denn, es sprechen wirklich zwingende Gründe dafür.

Ich grüße Sie aus dem Geistviertel und wünsche Ihnen eine gute Woche.

Ihr
Ruprecht Polenz

Porträt von Ruprecht Polenz

Ruprecht Polenz

Viele Jahre lang war Ruprecht Polenz Mitglied des Rats der Stadt Münster, zuletzt als CDU-Fraktionsvorsitzender. Im Jahr 1994 ging er als Bundestagsabgeordneter nach Berlin. Er war unter anderem CDU-Generalsekretär, zwischen 2005 und 2013 Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags. Von 2000 bis 2016 war Ruprecht Polenz Mitglied des ZDF-Fernsehrats, ab 2002 hatte er den Vorsitz. Der gebürtige Bautzener lebt seit seinem Jura-Studium in Münster. 2020 erhielt Polenz die Auszeichnung „Goldener Blogger“.

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