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Die Kolumne von Anna Stern | Auch Kinder brauchen Kunst und Räume
Guten Tag,
vielleicht erinnern Sie sich noch an meine erste Kolumne zum Thema ‘Kunst braucht Räume’. Ich möchte das Thema heute noch einmal aufgreifen, diesmal aber aus der Perspektive junger Menschen. Haben Sie als Kind gern Buden gebaut, aus ein paar alten Kartons, und sich dazu eine Geschichte ausgedacht? Den Bürgersteig mit bunten Kreiden bemalt, wie Bert bei Mary Poppins, und in den eigenen Bildern gelebt? Ich auch. In der Lammersdorfer Waldsiedlung, einem kleinen Ort in der Eifel, spielte eine ganze Horde von Kindern auf der Straße und im angrenzenden Wald. Zu der gehörte auch ich, damals ein Kindergartenkind.
Als Grundschulkind lebte ich mitten in Aachen, und dort war das schon nicht mehr so einfach. Vor dem Mietshaus rauschte der Verkehr auf dem Boxgraben vorbei, einer Hauptverkehrsader, ähnlich befahren wie hier in Münster der Ring. Aber hinter dem Haus gab es einen großen Hof. Der grüne Container für Gartenabfälle war unser Raumschiff Enterprise, hervorragend zum Draufklettern und Runterrutschen bei Alien-Angriffen.
Kinderspiel ist dicht am Theater, dicht an der Performance, dicht an der Kunst. Es geht ums Erfinden, darum, sich auszuprobieren und eigene zweckfreie Welten zu schaffen. Aber wo bieten Innenstädte Platz für kreatives Spiel? Das freie, selbstorganisierte Kinderspiel scheint zumindest aus ihnen verschwunden zu sein. Kinder in der Münsteraner Innenstadt? Ja, aber bitte an der Hand der Eltern und als kleine Konsument:innen. Oder brav im Maxisand, während die Mütter oder Väter shoppen. Ansonsten: viel zu gefährlich. Oder zu langweilig. Und Jugendliche finden den Prinzipalmarkt auch nicht gerade aufregend.
Konsumfreier Raum im Erdgeschoss
Doch im Juni war das anders. Drei Wochen lang gab es auf einmal gegenüber dem Stadttheater, neben dem Kinderkaufhaus MUKK, einen für alle und ganz besonders für Kinder und Jugendliche zugänglichen, riesigen konsumfreien Raum im Erdgeschoss. Hier konnte gerannt und getobt, sogar mit kleinen Fahrzeugen herumgesaust werden. Es stand ein Kicker da, an dessen Spielfiguren Stifte befestigt waren, sodass beim Kickern Bilder entstanden. Es gab gemütliche Sitzkisseninseln, Malstationen, Murmeln, seltsame Spuren auf dem Boden, denen man folgen konnte. Es gab einen Audiowalk, einen Hörspaziergang, von Kindern gemacht, den man sich ausleihen konnte, um damit Orte in der Stadt aus neuer Perspektive zu sehen. Die Theaterpädagogin und Projektleiterin Corinna Riesz – voller Energie und immer ansprechbar – war jeden Tag präsent und so gewissermaßen die Seele des Projekts.
Es waren Künstler:innen da, die sich mit den Kindern und ihren Eltern unterhielten, bei einer spontanen Kissenschlacht mitmachten, aber auch Workshops anboten: Tanz, Performance, Theater, DJing, Graffiti, Bauen und Gestalten im digitalen Raum. Schreibwerkstätten fanden statt, Flashmobs wurden entwickelt, öffentliche Proben abgehalten. Ergebnisse und Kommentare wurden einfach an die vielen weißen Wände geschrieben und gepinnt, und so entwickelte und verwandelte sich der Raum von Tag zu Tag.
Mittendrin stand ein weißer Container, betitelt mit „Kinder-Jugend-Kulturamt“. Drinnen durften die Kinder auf Sticker oder direkt auf die Wände schreiben, was ihnen in ihren Vierteln fehlt. Hier wurden Malateliers gewünscht, Kinderdiskotheken, Schwimmbäder, mehr Fahrradwege, große Trampoline, Parks und sogar Naturschutzgebiete. Größter gemeinsamer Nenner der Wünsche: Raum. Zum gemeinsamen Spielen, zum Kreativsein. Und gleich mehrmals stand auf einer Wand zur Frage „Wo fühlst Du Dich am wohlsten?“ die knappe, aber berührende Antwort: „Hier!“
Ein niedrigschwelliger Wohlfühlort
„Voll geflashed – Pop-Up-Kinderjugendkulturhaus“ hieß diese Aktion. Seit mehr als zwei Jahren arbeitet ein äußerst engagiertes vielköpfiges Team am Konzept eines Kinderjugendkulturhauses für Münster. Mit dabei sind unter anderem Cornelia Kupferschmid, David Gruschka und Jospehine Kronfli, die für die Label Fetter Fisch, Echtzeit-Theater und Karibuni stehen. Das Haus soll interdisziplinär und interkulturell ausgerichtet sein und gleich zwei wichtige Funktionen erfüllen: Es soll ein niedrigschwelliger Wohlfühlort für Kinder und Jugendliche in der Innenstadt sein, um die Künste als eigene Ausdrucksform erleben zu können, und zugleich auch Arbeitsplatz für Künstler:innen, die Projekte für und mit Kindern und Jugendlichen schaffen.
So einen Ort gibt es bisher nicht. Frauke Schnell, die Leiterin des Kulturamts, bestätigt, dass es mit Proberäumen für die über Münster hinaus bekannte und erfolgreiche Kinder- und Jugendtheaterszene nicht gut aussehe. Bisherige Proberäume in Schulen wurden abgerissen, um Wohnraum zu schaffen oder für den Schulausbau umgenutzt, denn Münsters Bevölkerung wächst stetig.
Bei steigendem Bedarf und einem Leerstand von nur 0,3 Prozent hat eine Stadt wie Münster wenig Spielraum. Das ist bei Kommunen im Ruhrgebiet anders, die Gebäude auf brachliegenden Industriearealen günstig an Künstler:innen vermieten können. Cornelia Kupferschmid beschreibt Ist-Zustand und Vision weiter: Das Begegnungszentrum Meerwiese in Coerde sei zwar ein wichtiger Aufführungsort für die Szene, aber kein Theater, in dem Stücke produziert werden können. Räumliche Kapazitäten für regelmäßige Proben oder die Lagerung von Requisiten fehlten. Das Probezentrum Hoppengarten wiederum sei vorbehalten für Produktionen, die im Theater im Pumpenhaus gezeigt werden.
Und es geht eben nicht nur um Proberäume. Es geht darum, Kinder und Jugendliche mitten in der Stadt sichtbar zu machen. Schulklassen zu Workshops einladen zu können. Einen Ort zu haben, an dem sich Künstler:innen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, vernetzen können. Miteinander, mit Lehrer:innen, mit Eltern.
Da war der Raum an der Voßgasse ein Glücksgriff für den ersten Live-Versuch, die Volksbank stellte ihn kostenfrei zur Verfügung, lokale und internationale Förderer unterstützten das Projekt. Jetzt konnte das Team nach zwei Jahren Recherche und Planung endlich ausprobieren, wie ein Kinderjugendkulturhaus funktionieren könnte, zumindest temporär, als Pop-Up-Version.
So leicht kann der Zugang zu Kunst sein
Vieles, von dem die Macher:innen geträumt hatten, ging auf: Der Raum strahlte eine einladende Offenheit aus. Eltern aus unterschiedlichsten Milieus saßen beim Kaffee zusammen, während die Kinder auf dem Tanzboden tobten. Der wurde nahezu selbstverständlich als besonderer Raum im Raum angenommen, für den man auch unaufgefordert die Schuhe auszog.
Bei den Proben des Echtzeit-Theaters setzten sich Jugendliche einfach dazu, schauten, lauschten. Scheren, Kleber, Malkreiden, Farben wurden ausgiebig genutzt – und ganz ohne pädagogischen Zeigefinger zurückgebracht. Ein Kind erzählte von einem Theaterstück, das es gesehen hatte, andere wollten die Geschichte nachspielen. Schon war mit Unterstützung von Theaterpädagog:innen eine spontane Inszenierung im Gange. So spielerisch und leicht kann der Zugang zu Kunst sein.
Anderes ging nicht auf: Künstler:innen nutzten den Raum bisher nur sporadisch als Arbeitsplatz. Ihnen fehlten Möglichkeiten, sich zurückzuziehen oder Materialien zu deponieren. Und: Es kamen insgesamt zu wenig Kinder und Jugendliche. Das Team plant, sich noch stärker mit Multiplikator:innen aus Schulen, Kitas und sozialpädagogischer Arbeit zu vernetzen, die junge Menschen direkt ansprechen können.
Letztlich ist jedoch die Abwesenheit von Kindern und Jugendlichen auch auf eine generell zu beobachtende Kinderfeindlichkeit städtischer Räume zurückzuführen. Und um diese zu überwinden, braucht es politischen und gesamtgesellschaftlichen Willen. Das Kinderjugendkulturhaus in zentraler Lage könnte ein Schritt in diese Richtung sein. So viel steht schon fest: Im November wird es ein zweites Pop-Up geben. Am gleichen Ort, konzentriert auf eine Woche und aufbauend aus den Erkenntnissen des ersten Versuchs. Die Volksbank stellt den Raum wieder zur Verfügung, das neue Budget steht. Und wer weiß, vielleicht wird aus dem Pop-Up bald ein Dauerbrenner.
Herzliche Grüße
Ihre Anna Stern
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Anna Stern
… ist unter anderem Performance-Künstlerin. Sie lebt und arbeitet seit 30 Jahren in Münster. Sie studierte an der Kunstakademie Münster, später an der Berliner Universität der Künste, wo sie aktuell Vertretungsprofessorin am Institut für Ästhetische Bildung und Kunstdidaktik ist.
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