Der Kultur-Brief von Christoph Tiemann | Das Zeitalter des Rezessionzäns

Portrait von Christoph Tiemann
Mit Christoph Tiemann

Guten Tag,

es ist kein Geheimnis: Auch losgelöst von den Strukturen etablierter Theaterhäuser wird in Münster und darüber hinaus gespielt, getanzt, gesungen und erzählt. Diese Freie und vogelfreie Szene ist von Natur aus vielfältig, bunt, kreativ – vor allem aber: flexibel.

Mit weniger sind die Planerinnen und Akteure so gut vertraut wie mit der blitzgescheiten Reaktion auf neue, mitunter auch widrige Umstände. Bei der Anpassung des gewohnten Programms an einen völlig neuen Spielort oder in der kurzfristigen Umbesetzung für erkrankte Kolleg:innen zeigt die Freie Szene ein Maß an Adaptionskraft, das Evolutionsbiologen begeistern sollte.

Außerordentliche Anpassungsanstrengungen unternehmen die Akteur:innen der Freien Szene regelmäßig, wenn sie die eigenen Ideen anpassen an die Vorstellungen der Gralshüter der Fördertöpfe. So ist in den vergangenen Jahren eine völlig neue Kunstform entstanden, die der Fachjargon „Antragslyrik“ nennt: Kraftvolle Verse, die vollblumig und formvollendet das bedienen, was Förderer gern lesen möchten. „Wes‘ Brot ich ess, dessen Förderleitlinien ich einhalt“, sagt der Volksmund.

Dabei überlebte bislang derjenige, der am besten angepasst war an eine Kulturlandschaft, in der von jeher harte Verteilungskämpfe herrschten. Doch selbst diejenigen, die sich im kultur-darwinistischen Dickicht des Förderdschungels eine Nische geschaffen hatten, aus deren Schutz heraus sie wirken konnten, sind nun vom Aussterben bedroht.

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Im angebrochenen Zeitalter des Rezessionzäns rast ein Asteroid milliardenfachen Ausmaßes auf uns zu – auf seinem Weg hat er bereits ein gigantisches Loch in den Landeshaushalt gerissen; jetzt droht sein Einschlag, die Atmosphäre zu vergiften – und in diesem Klima müssen (wie immer) zuallererst die Paradiesvögel dran glauben.

Das nordrhein-westfälische Ministerium für Kultur und Wissenschaft setzt gerade Art-Genoss:innen, die (noch) fester Bestandteil unserer Kulturlandschaft sind, auf die Rotstiftliste. Aber die sind ja – Darwin sei Dank! – sehr genügsam und, wie eingangs erwähnt, extrem anpassungsfähig. So unfassbar flexibel, dass sie sicherlich auch damit klarkommen, wenn man sie auf eine Null-Diät setzt, kalkuliert man wohl in Düsseldorf.

Bevor wir jetzt ins unreflektierte Politik-Bashing abgleiten, hier kurz die lobenswerte Erwähnung eines echten Schutzgebietes der Freien Szene: Münsters Politik ist es gelungen, den großen Kultur-Kahlschlag abzuwenden, denn hier hat man sich dafür entschieden, nicht bei denen zu sparen, die ohnehin schon in prekären Verhältnissen Kunst machen und vom Projekt in den Mund leben.

Das derzeitige Verhalten beziehungsweise Nicht-Verhalten des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft bedroht allerdings genau diese Gruppe: Da erfährt ein lange gefördertes Künstlerkollektiv im November, dass ab Januar kein Geld mehr für seine Arbeit zur Verfügung stehen wird. Da bekommt eine Filmwerkstatt erst im März die Mitteilung, die ungeklärt lässt, ob es für das schon laufende Jahr überhaupt Fördergelder geben wird, sodass erstmal der Vorstand in Vorkasse geht, um den Betrieb am Laufen zu halten.

Diese Liste ließe sich noch um etliche Beispiele ergänzen und ich bitte vielmals um Entschuldigung, dass diese letzten Sätze so gar keine Vergleiche aus dem Tierreich enthielten, aber so langsam gehen mir die biologischen Bilder aus, so sauer bin ich über dieses – im Wortsinn – unerhörte Hineinrufen der Freien Szene in den Wald (Ah, doch noch eins gefunden!). Denn auf das Rufen kommt keine Antwort. Auch an Düsseldorf ist die Evolution nicht spurlos vorbeigegangen. Das Ministerium ist in der Lage, bei Anfragen nach Fördergeldern den Gehörgang auf Durchzug zu schalten.

Aber Moment, bashe ich die Politik nun wieder, ohne auch auf die positiven Entscheidungen zu schauen? Hat nicht die Landesregierung ein Art(en)schutzprogramm beschlossen, das prekär beschäftigten Künstler:innen künftig mehr Geld in die Taschen spülen soll? Richtig, Kulturministerin Ina Brandes hat sich angeschaut, für wie wenig Geld Künstler:innen in diesem Land bereit sind zu arbeiten, war geschockt – schließlich war die Ministerin mal Unternehmensberaterin – und hat dann Folgendes diktiert:

„Künstlerinnen und Künstler leisten für unsere Gesellschaft einen wertvollen Beitrag. Diese Arbeit hat einen Preis – und es soll ein fairer Preis sein. Wer Vollzeit arbeitet, muss von dieser Arbeit seinen Lebensunterhalt bestreiten können.“

Die Landesregierung hat daher sogenannte Honoraruntergrenzen abgesteckt, um die bedrohten Künstler:innen vor Ausbeutung zu schützen, also so eine Art Mindestlohn für Kulturschaffende. Schon seit dem 1. August 2024 gelten diese in der Kulturellen Bildung, wenn die Projekte allein vom Land gefördert werden.

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Honoraruntergrenzen für weitere Sparten sollen im Januar 2026 folgen. Diese gelten dann auch, wenn das Land nur mit einem Cent an der Förderung beteiligt ist. Das ist eine wahnsinnig gute Idee, die endlich mal anerkennt, wie prekär die Verhältnisse unter den Kulturschaffenden sein können. Es schafft noch dazu eine Orientierung für Veranstalter:innen, welchen Preis Kunst haben sollte.

Keine Sorge, jetzt kommen wieder Tiere: In der jetzigen Form sind diese Honoraruntergrenzen ein Bärendienst für die Freie Szene. Das „Bär“ in „Bärendienst“ steht dabei nicht für „besonders groß“ wie in „Bärenhunger“, sondern kommt von „bar“ wie in „barfuß“: ein Dienst, der bar jeder Hilfe ist. Möglich ist auch, dass es von „bahr“ kommt, was immer eine Last bedeutet, so wie in „Bahre“ oder „gebären“.

Denn woher das Geld kommen soll, um diese Honoraruntergrenzen einzuhalten, davon steht nichts in dem Papier. Vom Land jedenfalls nicht, das muss ja sparen. Schon geht der zynische Rat um, man solle eben keine Förderung mehr vom Land beantragen, wenn man sich nicht in der Lage sähe, die Honoraruntergrenzen einzuhalten.

Aber, denkt sich die Landesregierung, die freien Künstler:innen werden schon einen kreativen Weg finden, damit umzugehen – ist ja schließlich ihr Beruf! Das Forellen-Quintett, das wird man doch auch als Trio spielen können, oder? Und statt sechs geplanter Vorstellungen werden dann eben nur zwei gespielt – die sind dafür aber fair bezahlt.

Es klingt, als würde man uns aus Düsseldorf zurufen, wir sollen mutig weniger Kultur wagen: innovative Projekte mit weniger Auftritten, an denen weniger Künstler:innen beteiligt sind. Schrumpfungsprozesse haben in der Evolution ja schon mal das Überleben gesichert. Die Dinosaurier sind ja auch nicht verschwunden, sondern haben sich zu kleinen Vögelchen weiterentwickelt – und die singen doch auch ganz ohne Landesförderung schön, oder nicht?

Herzliche Grüße
Ihr Christoph Tiemann

Portrait von Christoph Tiemann

Christoph Tiemann

ist Schauspieler, Kabarettist, Autor und Moderator. Aufgewachsen ist er in Selm. Zum Studium kam er 1998 nach Münster. Seit über 20 Jahren arbeitet er regelmäßig als Autor und Sprecher für den WDR. 2010 gründete er das Ensemble Theater „ex libris“, mit dem er Literaturklassiker wie „Die drei ???“, Sherlock Holmes und Dracula als multimediale Live-Hörspiele auf die Bühne bringt. Für seine Arbeit hat er viele Preise bekommen.

Der Donnerstags-Brief

Jeden zweiten Donnerstag schicken wir Ihnen im Wechsel den Preußen-Brief von Carsten Schulte und den Kultur-Brief von Christoph Tiemann.

Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir im RUMS-Brief.

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