Der Kulturbrief von Christoph Tiemann | Auslegungssache

Portrait von Christoph Tiemann
Mit Christoph Tiemann

Guten Tag,

mein Freund Thomas Nufer hat sie nicht mehr alle, wie man in Westfalen so schön sagt. Das macht aber nichts. Denn Thomas Nufer leitet nicht den Landesrechnungshof oder den TÜV, sondern ist ein „parandeh rangarang“, wie man im Persischen sagen würde, wenn man dort denn von bunten Vögeln spräche.

Tatsächlich sagt man auf Farsi wohl eher divaneh“, was verrückt heißt – und man muss schon ein bisschen divaneh sein um eine Veranstaltung zu planen wie den West-Östlichen Diwan. Der findet nach vier Jahren Pause nun endlich wieder am 30. und 31. August auf dem Domplatz statt – eine Kulturbegegnung mit Musik, Tanz und Poesie, die trotz dieser hochtrabenden Ankündigung im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Teppich bleibt. 

Die Veranstaltung hat ihren Namen nicht von ihrer Verrücktheit (divanegi), sondern von etwas, das man verrücken kann – nämlich von dem Möbelstück (divan), der orientalischen Polsterbank beziehungsweise Goethes Gedichtsammlung gleichen Namens. Johann Wolfgang hatte sich vom Diwan des persischen Dichters Hafis inspirieren lassen, der im 14. Jahrhundert Gedichte voll von Lebenslust schrieb: 

„Die Süßigkeit des Rausches kommt aus des Weines Herbe.“ (Hafis)

Lassen Sie sich bloß nicht erzählen, Diwan mit w wäre die Gedichtsammlung, Divan mit v aber das Möbelstück. Das Wort, um das es geht, kann alles Mögliche bedeuten, nämlich auch noch Büro, Versammlung oder Register und wird so geschrieben: „دیوان“ – ob man das in lateinischer Darstellung jetzt mit v oder w umsetzt, ist „wie ein Hund, der bellt, während die Karawane weiterzieht“ (das arabische Äquivalent zum umfallenden Reissack in China). 

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Möbelstücke kommen bei Thomas Nufers Happening im öffentlichen Raum allerdings kaum zum Einsatz, denn beim West-Östlichen Diwan bleibt man wie gesagt auf dem Teppich: Der halbe Domplatz ist an zwei Abenden von feinster persischer Auslegeware bedeckt – und eben die hatte Thomas nicht mehr alle: Nach dem letzten Diwan hatte man die rund 500 Teppiche und 200 Kissen, die Look und Feeling des Diwans ausmachten, in einer Halle der ehemaligen York-Kaserne eingelagert.

Doch was bei Künstlern wie Thomas unverzichtbar ist – der Dachschaden – ist bei Lagerhallen verheerend. Das unentdeckte Loch im Dach sorgte für einen Wasserschaden und die gesamte orientalische Ausstattung des Diwan war dahin. 

Vielen Helferinnen und Helfern gebührt Dank dafür, dass in diesem Jahr dennoch der West-Östliche Diwan auf dem Domplatz stattfinden kann; allen voran die Flohmarkthalle am Daimlerweg, die Thomas Nufer schlicht ihren gesamten Bestand an Teppichen für die Veranstaltung zur Verfügung gestellt hat, ergänzt durch die Teppiche von Privatpersonen, die bei der Flohmarkthalle abgegeben werden, um den Weg auf den Domplatz zu finden, wo sie die Grundlage bieten für die Performance der fast 30 Gruppen, die am letzten Wochenende im August darauf tanzen und musizieren werden.

Wer den West-Östlichen Diwan bisher nicht kannte und mutmaßt, das multi-kulturelle Label auf der Rückseite des Teppichs sei Etikettenschwindel, weil der Diwan in gehöriger Schieflage sich vor allem nach Osten neige, der irrt.

Die fast 30 Gruppen, die an zwei Tagen für Programm sorgen, sind tatsächlich arabisch-persisch-westfälisch: Die Künstlerinnen und Künstler kommen aus Afghanistan und Kattenvenne, aus Gronau und aus der Türkei. Da gibt es jesidische Folklore aus Wesel und Alphornbläser aus den Baumbergen, beim West-Östlichen Diwan treffen niederdeutsche Chöre und westfälischer Volkstanz auf die Klänge von Qud und Quanun.

Unser scheidender Oberbürgermeister Markus Lewe ist völlig zurecht stolz auf die Veranstaltung und hat als Präsident des Städtetages ordentlich damit angegeben: Das gemeinsame Eintauchen in die Kultur des jeweils anderen schaffe ein Gefühl der Gleichrangigkeit. Ein Gefühl, das wir gerade gut gebrauchen können.

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In einer Zeit, in der unser Verhältnis zu Kulturen, die zu uns kommen, vor allem problematisiert wird, ist es gut, mal auf dem Teppich zu bleiben und sich entspannt daran zu erinnern, dass wir alle das Leben lieben. 

Stress von rechts hat Thomas Nufer bisher übrigens noch nicht bekommen für seinen Diwan. Das könnte daran liegen, dass die Veranstaltung ein wenig zu schlau ist: ein wirklich multi-kulturelles Fest, bei dem sich westfälische und persisch-arabische Kultur auf Augenhöhe begegnen – fröhlich, unverkrampft und das in seinem Kern auf den deutschesten aller Dichterfürsten zurückgeht – da ist es schon schwierig den Überfremdungs- und Umvolkungsmythos reinkotzen zu wollen. Blöd für Rechtsaußen, wenn schon Goethe einst schrieb:

„Wer sich selbst und andre kennt
Wird auch hier erkennen:
Orient und Okzident
Sind nicht mehr zu trennen.“ 

Mein persönliches Highlight beim West-Östlichen Diwan: Syrische Kiepenkerle schenken Schnaps aus. Jawohl, richtig gelesen. Es wird Schnaps ausgeschenkt. Denn der Vater des Diwans, der Dichter Hafis, schätzte den Rausch und prangerte in seinen Gedichten die Scheinheiligkeit an. Denn mit den religiösen Vorschriften ist es im Orient und im Okzident eben wie mit den Teppichen – es ist alles Auslegungssache.

Herzliche Grüße

Ihr Christoph Tiemann

Portrait von Christoph Tiemann

Christoph Tiemann

ist Schauspieler, Kabarettist, Autor und Moderator. Aufgewachsen ist er in Selm. Zum Studium kam er 1998 nach Münster. Seit über 20 Jahren arbeitet er regelmäßig als Autor und Sprecher für den WDR. 2010 gründete er das Ensemble Theater „ex libris“, mit dem er Literaturklassiker wie „Die drei ???“, Sherlock Holmes und Dracula als multimediale Live-Hörspiele auf die Bühne bringt. Für seine Arbeit hat er viele Preise bekommen.

Der Donnerstags-Brief

Jeden zweiten Donnerstag schicken wir Ihnen im Wechsel den Preußen-Brief von Carsten Schulte und den Kultur-Brief von Christoph Tiemann.

Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir im RUMS-Brief.

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