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Gastbeitrag von Yannic Werremeier | Kleiner fahren, größer denken?
Guten Tag,
„Papa, kannst du für mich gucken? Ich kann nichts sehen. Die Autos sind zu groß“, sagt meine Tochter. Wir stehen auf dem Gehweg an einer zugeparkten Kreuzung, und ich muss helfen.
Seit ich mit meinen Kindern unterwegs bin, erlebe ich die Stadt aus einer ganz anderen Perspektive. Erst war es die Perspektive mit Kinderwagen, jetzt ist es die mit dem Fahrrad.
Gleichzeitig bin ich auch Autofahrer und froh, wenn der Weg von der Autotür zur Wohnungstür möglichst kurz ist – vor allem, wenn ich nicht nur meine eigene Tasche tragen muss, sondern auch ein Kind auf dem Arm habe und ein anderes davon abhalten muss, auf die Straße zu laufen.
Das Problem wird – im wahrsten Sinne des Wortes – immer größer. Auf Münsters Straßen sind zunehmend große Fahrzeuge wie SUVs, Bullis und Vans unterwegs. Deutschlandweit ist inzwischen jedes dritte neu zugelassene Auto ein SUV. Während die Fahrzeuge immer größer werden, bleiben Parkplätze, Parkhäuser und Straßen unverändert.
Ein Beispiel: Der VW Golf ist von der ersten Generation (Golf I) bis zur siebten (Golf VII) fast einen Meter länger und rund 700 Kilogramm schwerer geworden. Ähnliche Entwicklungen sind bei vielen anderen Modellen zu beobachten.
Mehr Platz auf den Straßen
Woran liegt das? Dafür gibt es mehrere Gründe: Moderne Fahrzeuge sind mit immer mehr Technik ausgestattet – von Airbags und Klimaanlagen bis hin zu Fahrerassistenzsystemen.
Diese Komponenten brauchen Platz und machen die Autos schwerer. Ein Golf I hatte weder einen Airbag noch einen Einparkassistenten. Auch der Wunsch nach mehr Komfort, größerem Kofferraum und höherer Sicherheit treibt das Wachstum voran. Letztlich bauen die Hersteller das, was sie glauben, dass die Kunden kaufen wollen – oder wofür es bereits eine Nachfrage gibt.
Die einfachste Lösung für mehr Platz auf den Straßen wäre, wieder kleinere Autos zu bauen. Dass sich dieser Trend umkehren wird, ist aber unwahrscheinlich. Die Straßenverkehrsordnung erlaubt Fahrzeuge ohne Spiegel bis zu einer Breite von 2,50 Metern. Ein aktueller Golf misst „nur“ knapp 1,80 Meter – es gäbe also noch Spielraum nach oben, solange der Gesetzgeber nicht eingreift.
Stattdessen gibt es Forderungen, die Infrastruktur anzupassen, etwa durch den Bau größerer Parkhäuser und Parkplätze oder die Anpassung technischer Regelwerke. Denkbar wären aber auch alternative Ansätze, wie höhere Parkgebühren für große Fahrzeuge – ein Modell, das in Städten wie Paris bereits umgesetzt wird. Konkrete Schritte in diese Richtung sind jedoch derzeit nicht erkennbar.
Weniger Autos auf den Straßen
Der zweite Ansatz: weniger Autos auf den Straßen. Auch das zeigen die Zulassungsstatistiken: Fahrzeuge werden nicht nur immer größer und schwerer, ihre Anzahl steigt ebenfalls.
Einige Ideen, um gegenzusteuern: Zulassungen könnten an den Nachweis eines Stellplatzes gekoppelt werden. Eine City-Maut könnte eingeführt werden. Oder man reduziert einfach die öffentlichen Parkplätze, wie es zuletzt auf dem Domplatz oder in manchen Fahrradstraßen umgesetzt wurde.
Das Problem dabei ist: Es sorgt für viel Frust, viele Diskussionen und wirft die zentrale Frage auf: Wie bleibt Mobilität für alle Menschen gewährleistet? Denn eines ist klar: Ganz ohne Auto wird es schwierig. Ein neues Sofa abholen oder die Oma auf dem Bauernhof besuchen – das ist ohne Auto kaum machbar.
Es braucht eine Lösung, in der das Auto nicht zum Luxusgut wird. Eine Lösung nach dem Motto „Auto für alle“. Aber wie lässt sich das mit dem Umwelt- und Klimaschutz verbinden? Die Antwort könnte lauten: Mieten statt Kaufen. Laut dem Bundesverband Carsharing ersetzt ein Carsharing-Fahrzeug bis zu 20 private Autos.
Das klingt plausibel: Wenn in Münster Schnee fällt, bleibt er oft tagelang auf parkenden Autos liegen – ein Zeichen dafür, dass viele Fahrzeuge nicht täglich genutzt werden. Ähnlich sieht es bei Wohnmobilen und Vans aus, die in der Regel nicht für den täglichen Arbeitsweg oder den Einkauf gedacht sind. Dafür sind die Parkplätze vieler Supermärkte schlichtweg zu klein.
Anonymer Briefkasten
Haben Sie eine Information für uns, von der Sie denken, sie sollte öffentlich werden? Und möchten Sie, dass sich nicht zurückverfolgen lässt, woher die Information stammt? Dann nutzen Sie unseren anonymen Briefkasten. Sie können uns über diesen Weg auch anonym Fotos oder Dokumente schicken.
Das Konzept des Mietens zeigt sich bereits erfolgreich in anderen Bereichen der Mobilität – zum Beispiel bei Swapfiets, einem niederländischen Fahrradverleih.
Falls Sie das noch nicht kennen: Für einen festen monatlichen Betrag bekommt man ein eigenes Fahrrad und muss sich um nichts mehr kümmern.
Geht das Rad kaputt oder wird es gestohlen, gibt es schnell ein Ersatzrad. Will man das Fahrrad irgendwann nicht mehr oder lieber ein anderes Modell, etwa mit Elektroantrieb, lässt sich das mit ein paar Klicks regeln.
Übertragen auf Autos würde dieses Prinzip vieles einfacher machen: keine lästigen Werkstatt- oder TÜV-Termine, schnelle Ersatzfahrzeuge bei Schäden und keine unvorhergesehenen Kosten. Dazu kommt: Man fährt immer ein aktuelles, spritsparendes Modell, auf Wunsch auch elektrisch.
Multitool auf Rädern
Ein weiteres Beispiel, in dem Mieten selbstverständlich ist, ist das Wohnen. Es gibt viele gute Gründe, eine Wohnung oder ein Haus zu mieten statt zu kaufen.
Hohe Anschaffungskosten und die oft jahrzehntelange Abzahlung eines Kredits entfallen. Auch die Instandhaltung ist ein Vorteil: Geht etwas kaputt oder muss eine neue Heizung her, kümmert sich der Vermieter. Außerdem bleibt man flexibel.
Wird die Wohnung zu klein, weil ein Kinderzimmer oder ein Homeoffice nötig wird, die Nachbarn unerträglich sind oder der Verkehrslärm stört, ist es einfacher, den Mietvertrag zu kündigen, als ein Haus zu verkaufen. Unterm Strich bedeutet Mieten im besten Fall weniger Aufwand, geringere finanzielle Belastung und mehr Flexibilität.
Diese Vorteile lassen sich auch auf Mietfahrzeuge übertragen – besonders die Flexibilität. Statt sich mit einem einzigen Fahrzeug abfinden zu müssen, wählt man je nach Bedarf: einen Kleinwagen für den Alltag, einen Bulli für den Familienausflug oder einen Transporter für den Umzug.
Immer das passende Fahrzeug für den jeweiligen Zweck. Beim Kauf eines Autos versucht man dagegen, ein möglichst vielseitiges Modell zu finden.
Das führt oft zu immer größeren Fahrzeugen, die alle Eventualitäten abdecken sollen – vom Familienurlaub bis zur Fahrt über holprige Feldwege. Dabei nutzt man das Auto im Alltag meist allein und auf gut ausgebauten Straßen.
Das Ergebnis ist ein Multitool auf Rädern, das vieles können soll, aber selten wirklich effizient ist. Und spätestens bei der Parkplatzsuche zeigt sich: Ein großes Auto ist oft mehr Last als Nutzen – auch wenn nicht immer für den Besitzer selbst.
Trotz aller Vorteile entscheiden sich viele Menschen irgendwann doch für ein eigenes Auto – so auch wir.
Der Grund ist naheliegend: Ein eigenes Auto vermittelt das Gefühl von Freiheit. Einfach einsteigen und losfahren, ohne Planung oder Einschränkungen. Carsharing hingegen wirkt kompliziert und erfordert Planung: Wo finde ich ein Auto? Wie lange brauche ich es? Wann muss ich es zurückgeben? Damit Carsharing eine echte Alternative wird, muss es einfacher oder günstiger sein, ein Auto zu leihen, als das eigene zu nutzen. Oder sogar beides. Oder es muss andere Vorteile bieten.
Und dann ist da noch die Sache mit den Carsharing-Parkplätzen. Ein paar hundert Meter mögen nicht weit sein, aber mit Kindern und Kindersitzen werden sie schnell zur Herausforderung. Im Idealfall steht das Auto vor der Tür – Kindersitze inklusive.
Der Weg zu einfachem und attraktivem Carsharing
Um Carsharing attraktiver zu machen, müssen Politik und Verwaltung mutig sein. Der erste Schritt wäre die Umwandlung öffentlicher Parkflächen in Carsharing-Stellplätze, Kurzzeitparkplätze und Lade- und Lieferzonen. Das schafft nicht nur Platz für mehr Grün und breitere Radwege, sondern macht das Teilen von Autos auch bequemer als den Privatbesitz.
Die Lösung könnte ein einheitliches System sein, das Carsharing nahtlos mit Bus und Bahn verbindet. Über eine einzige App könnten Nutzer dann ihre gesamte Mobilität organisieren – vom Arbeitsweg bis zum Wochenendausflug. Wie das funktioniert, zeigt das Beispiel aus Helsinki. Das Stichwort lautet Mobility as a Service.
Gleichzeitig könnten verbrauchsarme Fahrzeuge und Elektroautos durch passende Infrastruktur und Fördermaßnahmen unterstützt werden. Außerdem könnten mehr Kleinwagen zur Verfügung gestellt werden, die dem Nutzerverhalten besser entsprechen und weniger Platz benötigen.
Das Ziel: Eine Stadt, in der Menschen flexibel mobil sein können, ohne ein eigenes Auto besitzen zu müssen.
Schritt zwei: Ein attraktives und unkompliziertes Angebot
Zurzeit gibt es in Münster nur stationsbasierte Systeme: Die Autos werden an festen Stationen abgeholt und müssen dorthin zurückgebracht werden. Der Vorteil ist: Bei der Rückgabe steht immer ein Platz zur Verfügung.
Das Gegenmodell ist das Free-Floating-Carsharing, bei dem Fahrzeuge wie Elektroroller frei in der Stadt verteilt sind und dort abgestellt werden, wo Platz ist. Das Problem: Es ist ungewiss, wo sich das nächste Fahrzeug befindet oder ob man es problemlos abstellen kann – besonders bei Parkplatzmangel.
Eine Kombination beider Systeme wäre sinnvoll, um die jeweiligen Vorteile zu vereinen. Einige Beispiele könnten das verdeutlichen:
Beispiel 1: Mit dem Leihwagen zur Arbeit
An einer nahegelegenen Station hole ich morgens ein Auto ab und fahre damit zur Arbeit. Während der Arbeitszeit steht das Fahrzeug anderen Nutzern zur Verfügung – ich zahle in dieser Zeit nichts. Nach Feierabend ist das Auto dank Vorabreservierung wieder für mich da, und ich fahre zurück zur Ausgangsstation an meinen Wohnort.
Beispiel 2: Ein Carsharing-Auto für zu Hause
Wer nicht in der Nähe einer Station wohnt, kann das Auto abends mit nach Hause nehmen und es dort zur Nutzung freigeben. Am nächsten Morgen wird es wieder zur Station gebracht, wo es tagsüber anderen zur Verfügung steht. Ein zusätzlicher Vorteil: An der Station ist immer ein Parkplatz garantiert, und Elektrofahrzeuge können dort geladen werden.
Beispiel 3: Eine Kombination
Das System erlaubt auch Einwegfahrten zwischen verschiedenen Stationen – ideal etwa für den Weg zum Bahnhof. Anders als beim klassischen Free-Floating-System sind die Parkplätze garantiert und können vorab reserviert werden. So verbindet sich die Flexibilität des Free-Floating mit der Verlässlichkeit des stationsbasierten Carsharings. Wie das funktioniert, zeigt das Beispiel mit den Leihfahrrädern in Paris. Dort können Fahrräder an festen Stationen ausgeliehen werden und müssen nicht an derselben Station zurückgegeben werden.
Es gibt sicherlich noch viele weitere Beispiele. Entscheidend ist, dass Carsharing den Nutzern ermöglicht, auch alltägliche Fahrten wie den Weg zur Arbeit bequem und flexibel zu gestalten. Denn nicht jeder Arbeitsplatz ist mit Bus und Bahn oder – noch besser – mit dem Fahrrad erreichbar. Ein gut durchdachtes Carsharing-System kann hier eine echte Alternative bieten.
Zurück zur Kreuzung vom Anfang: Auch ich sehe nichts. Die Autos sind einfach zu groß. Ich erinnere mich an den Tipp eines Polizisten, den ich an einem Infostand auf dem Wochenmarkt bekommen habe: „Steigen Sie ab und schieben Sie Ihr Rad vorsichtig über die Straße.“
Genau das machen wir – und kommen sicher auf die andere Seite. Eigentlich wollen wir doch Rad fahren und nicht Rad schieben.
Und dann gibt es da noch ein anderes Problem: Mülltonnen, abgestellte E-Scooter und Fahrräder, die die Gehwege blockieren. Aber das ist wieder ein anderes Thema.
Herzliche Grüße
Ihr Yannic Werremeier
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Yannic Werremeier
Yannic Werremeier, Jahrgang 1991, ist zum Studium nach Münster gekommen und geblieben. An der Fachhochschule hat er Bauingenieurwesen studiert und als Verkehrsplaner für die Stadt Münster, unter anderem an der Planung und Umsetzung der Velorouten gearbeitet. Derzeit ist er beim Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt Westdeutsche Kanäle beschäftigt und betreut den Ausbau des Dortmund-Ems-Kanals in Münster. Er ist Vater von zwei Kindern. In Münster ist er als Fußgänger, Radfahrer und Autofahrer unterwegs.
Die Kolumne
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