„Unsere Vision für die Zukunft? Dass unser Verein überflüssig wird.“

Initiative Rock Your Life. Foto: Merle Trautwein

Die Bil­dungs­chan­cen in Deutsch­land sind immer noch sehr unge­recht ver­teilt, wäh­rend der Coro­na­pan­de­mie hat sich das Pro­blem wei­ter ver­schärft. Die Initia­ti­ve Rock Your Life will das ändern. Marie Weh­ning von der Grup­pe in Müns­ter erklärt im Inter­view, wel­ches Kon­zept dahin­ter­steckt und wie auch Schu­len es umset­zen könnten.

TEXT: ALICIA MERCHÁN LINEROS
REDAKTION: CONSTANZE BUSCH, SEBASTIAN FOBBE
TITELFOTO: MERLE TRAUTWEIN

Marie Wehring von Rock Your Life. Foto: Merle Trautwein

Frau Weh­ning, war­um ist Bil­dungs­ge­rech­tig­keit aus­ge­rech­net hier in Müns­ter ein Thema?

Müns­ter ist eine rei­che Stadt, in der vie­le gut aus­ge­bil­de­te Men­schen leben. Aber Bil­dungs­un­gleich­heit ist in ganz Deutsch­land ein Pro­blem, auch hier. Der Bil­dungs­weg der meis­ten Kin­der und Jugend­li­chen wird durch die Bil­dungs­ge­schich­te ihrer Eltern bestimmt. Und dar­aus kön­nen für eini­ge von ihnen gro­ße Nach­tei­le ent­ste­hen – in der Schu­le und auch danach, weil die jun­gen Men­schen gar nicht wis­sen, was sie gut kön­nen und was sie im Leben über­haupt errei­chen möchten.

Und Rock Your Life hilft ihnen dabei, das herauszufinden?

Ja, und natür­lich auch dabei, ihre Zie­le dann tat­säch­lich zu erreichen.

Wie funk­tio­niert das?

Wir ver­mit­teln Men­­to­ring-Bezie­hun­­gen zwi­schen Stu­die­ren­den und Schüler:innen. Die Stu­die­ren­den über­neh­men dabei die Rol­le einer gro­ßen Schwes­ter oder eines gro­ßen Bru­ders für die Schüler:innen und hel­fen ihnen in der Schu­le, dem ers­ten Job, der Berufs­aus­bil­dung oder auf dem wei­te­ren Bil­dungs­weg. Wir vom Ver­ein unter­stüt­zen die Mentor:innen und Men­tees auf ver­schie­de­nen Ebe­nen, zum Bei­spiel mit gemein­sa­men Workshops.

Wor­um geht es da?

Die­se Work­shops bil­den den Rah­men für das Men­to­ring. Im ers­ten Work­shop legen die Teams ihre Zie­le fest und auch die Regeln dafür, wie oft sie sich tref­fen und wie sie ihre Zusam­men­ar­beit gestal­ten wol­len. Die zwei­te Schu­lung heißt Job-Coach und soll den Schüler:innen dabei hel­fen, ihre Fähig­kei­ten und Stär­ken ken­nen­zu­ler­nen. Der drit­te Work­shop bil­det das Abschluss­tref­fen, bei dem die Teams das gemein­sam ver­brach­te Jahr reflek­tie­ren und über­le­gen, ob sie das Men­to­ring für ein wei­te­res Jahr fort­set­zen wollen.

Sie beglei­ten die Teams also sehr eng. Trotz­dem ist das Pro­gramm sicher eine sehr gro­ße Auf­ga­be für die Mentor:innen. Sie stu­die­ren ja noch, ste­hen also selbst noch nicht im Berufsleben.

Das stimmt, wir haben des­halb ein gro­ßes Netz­werk mit Kon­tak­ten zu Fir­men in ganz Deutsch­land auf­ge­baut. Haupt­säch­lich arbei­ten wir mit Betrie­ben und Ein­rich­tun­gen vor Ort zusam­men, zum Bei­spiel mit der Hand­werks­kam­mer Müns­ter. Wir haben aber auch Koope­ra­tio­nen mit grö­ße­ren Unter­neh­men wie etwa Star­bucks, bei denen die Schüler:innen bei Besich­ti­gun­gen oder Prak­ti­ka ver­schie­de­ne Beru­fe ken­nen­ler­nen können.

Wo in Müns­ter ist Rock Your Life aktiv?

Bis­her koope­rie­ren wir mit zwei Schu­len: der Pri­­mus-Schu­­le im Geist­vier­tel und der Wald­schu­le Kin­der­haus. Das klappt sehr gut, die Schul­lei­tun­gen, Lehrer:innen und Schulsozialarbeiter:innen unter­stüt­zen unse­re Arbeit, und wir wür­den unser Pro­gramm auch ger­ne noch wei­te­ren Schu­len anbie­ten. Aber es bewer­ben sich schon jetzt mehr Schüler:innen um die Teil­nah­me, als wir in das Pro­gramm auf­neh­men kön­nen. Wir bräuch­ten noch mehr Stu­die­ren­de, die sich als Mentor:innen enga­gie­ren wollen.

Konn­ten Sie wäh­rend der Coro­­na-Lock­­downs mit Ihrem Pro­gramm weitermachen?

Anfangs hat uns die Pan­de­mie schon aus­ge­bremst. Wir haben 2020 den Beginn des Men­to­rings vom Früh­jahr auf den Herbst ver­scho­ben. Und auch da muss­ten wir das übli­che Ken­nen­lern­tref­fen zwi­schen Stu­die­ren­den und Schüler:innen anders gestal­ten als gewohnt. Wir haben alle Teil­neh­men­den gebe­ten, einen klei­nen Steck­brief aus­zu­fül­len. In einer Zoom-Kon­­­fe­­renz hat das Orga­ni­sa­ti­ons­team die ver­schie­de­nen Pro­fi­le dann mit­ein­an­der abge­gli­chen, um so mög­lichst Mentor:innen und Men­tees zusam­men­zu­brin­gen, die etwas gemein­sam haben.

Und danach?

Manch­mal war es für die Schüler:innen und Stu­die­ren­den sehr schwie­rig, sich zu tref­fen, aber ich den­ke, alle haben das Bes­te dar­aus gemacht. Wir haben natür­lich auch die Work­shops in Video­kon­fe­ren­zen ver­legt. Die Dyna­mik ist anders, aber im Gro­ßen und Gan­zen hat es sehr gut funk­tio­niert. Wir haben uns auch ande­re digi­ta­le Akti­vi­tä­ten aus­ge­dacht, zum Bei­spiel ein Quiz für die Mentor:innen. Mein Lieb­lings­abend war ein gemein­sa­mer Koch­kurs per Zoom, das war sehr schön.

Wie sind Sie dazu gekom­men, sich bei Rock Your Life zu engagieren?

Ich fand das Kon­zept toll und woll­te mich für mehr Gerech­tig­keit ein­set­zen. Als ich zur Grup­pe in Müns­ter gesto­ßen bin, dau­er­te es noch ein paar Mona­te bis zum Start des neu­en Men­­to­ring-Jahr­­gangs. Ich habe mich dann direkt dem Orga­ni­sa­ti­ons­team ange­schlos­sen, bin spä­ter ins Men­to­ring ein­ge­stie­gen und habe mich zwi­schen­zeit­lich auch im Vor­stand engagiert.

Was hat Sie so begeistert?

Wir haben Ein­fluss auf das Leben der jun­gen Men­schen. Wir kön­nen sie dabei unter­stüt­zen, ihren Träu­men zu fol­gen. Das ist sehr erfüllend.

Kön­nen Sie an einem Bei­spiel erzäh­len, wie die­se Unter­stüt­zung kon­kret aussieht?

Ich erin­ne­re mich an eine Situa­ti­on aus einer Schu­lung, an der ich als Men­to­rin teil­ge­nom­men habe. Alle Schüler:innen soll­ten auf­schrei­ben, wor­in sie gut sind und was sie inter­es­siert, aber auch, wor­in sie sich noch ver­bes­sern wol­len. Danach haben wir uns gemein­sam die Pro­fi­le der ande­ren ange­schaut und ihnen Beru­fe vor­ge­schla­gen, die dazu pas­sen könn­ten. Ein Schü­ler war sehr glück­lich über die Ideen der ande­ren, weil sein Traum­job unter den Vor­schlä­gen war. Bis dahin hat­te er sich nicht getraut, die­sen Weg ein­zu­schla­gen, son­dern woll­te eine Aus­bil­dung begin­nen, die ihm siche­rer erschien. Nach dem Work­shop erzähl­te er, dass er nun ver­su­chen wol­le, sei­nen Wunsch­be­ruf zu ergreifen.

Ich glau­be, vie­len Schüler:innen feh­len Men­schen an ihrer Sei­te, die ihnen Mut machen und sie dar­in bestär­ken, ihre Zie­le zu ver­fol­gen. Und an die­ser Stel­le set­zen wir an.

Apro­pos Zie­le. Was möch­ten Sie mit Rock Your Life noch erreichen?

Hier in Müns­ter star­ten wir im Som­mer­se­mes­ter mit dem nächs­ten Men­to­ring­pro­gramm. Dafür möch­ten wir wie in den letz­ten Jah­ren wie­der 25 Teams zwi­schen Stu­die­ren­den und Schüler:innen ver­mit­teln. Für unse­re Orga­ni­sa­ti­on hof­fe ich, dass sich wei­te­re Lokal­grup­pen grün­den, viel­leicht sogar in wei­te­ren Län­dern, damit sich die Idee wei­ter ver­brei­tet und wir noch mehr jun­gen Men­schen hel­fen kön­nen. Und wir möch­ten unser Netz­werk erwei­tern und mit noch mehr Unter­neh­men zusammenarbeiten.

Was brau­chen Sie, um das zu erreichen?

Die Uni­ver­si­tä­ten könn­ten uns unter­stüt­zen, indem sie zum Bei­spiel Leis­tungs­punk­te an Mentor:innen ver­ge­ben. In ande­ren Län­dern gibt es die­se Mög­lich­keit schon, und das hilft sehr dabei, mehr ehren­amt­li­che Mentor:innen zu fin­den. Und wir freu­en uns, wenn sich Unter­neh­men mel­den, die jun­ge, moti­vier­te Leu­te auf ihrem Weg unter­stüt­zen und ihnen viel­leicht sogar eine beruf­li­che Per­spek­ti­ve bie­ten möchten.

Sie haben viel vor.

Ja, es gibt noch viel zu tun. Aber das sind eigent­lich nur unse­re Zwi­schen­zie­le. Im Ide­al­fall soll­te unser Ver­ein über­flüs­sig werden.

Wann wer­den Sie nicht mehr gebraucht?

Wenn das, was wir Kin­dern und Jugend­li­chen bei­brin­gen, in der Schu­le ver­mit­telt wird. Aber ich den­ke, dass die Poli­tik noch nicht so weit ist. Des­halb wird unse­re Arbeit lei­der auch in den nächs­ten Jah­ren noch not­wen­dig sein.

Und was müss­te pas­sie­ren, damit sie über­flüs­sig wird?

Die Schu­len müss­ten offe­ner wer­den. Ich fin­de den Lehr­plan im deut­schen Schul­sys­tem in man­cher Hin­sicht sehr eng­stir­nig. Unser Dach­ver­band hat gera­de das neue Schu­lungs­pro­gramm „Reach“ begon­nen, in dem Lehrer:innen ler­nen kön­nen, das Fach „Poten­zi­al­ent­wick­lung“ zu unter­rich­ten. Damit möch­ten wir das Kon­zept unse­res Men­to­ring­pro­gramms in die Schu­len bringen.

Die Initiative Rock Your Life

Rock Your Life wur­de 2008 in Fried­richs­ha­fen von drei Stu­die­ren­den gegrün­det, die Bil­dungs­un­ge­rech­tig­keit in Deutsch­land kri­ti­sier­ten und etwas dage­gen tun woll­ten. Inzwi­schen gibt es mehr als fünf­zig Lokal­grup­pen in Deutsch­land, den Nie­der­lan­den, der Schweiz und Öster­reich, seit Kur­zem gibt es auch eine Initia­ti­ve in der spa­ni­schen Haupt­stadt Madrid. Die Lokal­grup­pe in Müns­ter wur­de 2011 gegründet.

Kooperation mit der Hochschule der Medien

Die­ser Text ist im Rah­men eines Aus­bil­dungs­pro­jek­tes in Koope­ra­ti­on mit der Hoch­schu­le der Medi­en in Stutt­gart ent­stan­den. Stu­die­ren­de eines inter­na­tio­na­len Kur­ses zum kon­struk­ti­ven und dia­log­ori­en­tier­ten Jour­na­lis­mus haben für RUMS Inter­views geführt und geschrie­ben. Die Redak­ti­on hat zusam­men mit den Dozent:innen die Stu­die­ren­den bei der The­men­fin­dung, Inter­view­vor­be­rei­tung und Text­be­ar­bei­tung unter­stützt. Die Inter­views ver­öf­fent­li­chen wir nun in unre­gel­mä­ßi­gen Abstän­den hier auf unse­rer Web­site.

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