Die Kolumne von Carla Reemtsma | Die Möglichkeit großer Fortschritte

Müns­ter, 10. Okto­ber 2021

Lie­be Leser:innen,

wäh­rend im Ber­li­ner Regie­rungs­vier­tel die poli­tisch bri­san­ten Gesprä­che der­zeit meist hin­ter ver­schlos­se­nen Türen statt­fin­den, hat der Stadt­rat in Müns­ter mit dem neu ein­ge­führ­ten Live-Stream sei­ner Sit­zun­gen einen ers­ten Schritt in Rich­tung glä­ser­ne Ver­wal­tung gemacht.

Wer am spä­ten Mitt­woch­nach­mit­tag noch nicht ander­wei­tig ver­plant ist, kann nun also alle paar Wochen sein Image als gut informierte:r Bürger:in auf­po­lie­ren und die Sit­zun­gen live ver­fol­gen. Wer auf­ge­passt hat, weiß, dass das bereits seit Juni mög­lich ist – nichts­des­to­trotz scha­det es ja nicht, auf die Kon­troll­mög­lich­kei­ten, die die Zivil­ge­sell­schaft für ihre demo­kra­tisch gewähl­ten Vertreter:innen hat, auf­merk­sam zu machen.

Eines der in den ver­gan­ge­nen Rats­sit­zun­gen am häu­figs­ten dis­ku­tier­ten The­men ist das Kli­ma – oder eher gesagt die Umset­zung kon­se­quen­ter Kli­ma­schutz­kon­zep­te in Müns­ter (hier der RUMS-Brief dazu). Müns­ter ist hier­bei eines der Para­de­bei­spie­le dafür, wie eine laut­star­ke Zivil­ge­sell­schaft mas­sen­haft in den poli­ti­schen Betrieb ein­grei­fen kann.

Wer die rele­van­ten kli­ma­po­li­ti­schen Ereig­nis­se in der Müns­te­ra­ner Poli­tik in den ver­gan­ge­nen Jah­ren reka­pi­tu­liert, kann schnell ein Mus­ter zwi­schen Pro­tes­ten und poli­ti­schem Han­deln erken­nen. Vor fast zehn Jah­ren star­te­te die Dive­st­ment-Grup­pe Fos­sil Free ihre ers­ten Aktio­nen, um die städ­ti­schen Ein­rich­tun­gen dazu zu brin­gen, ihre bei RWE und ande­ren kli­ma­schäd­li­chen Kon­zer­nen ange­leg­ten Gel­der umzuschichten.

2015 war Müns­ter die ers­te Stadt, die ihr Geld die­sen Anla­gen voll­stän­dig ent­zo­gen hat­te. In der Fol­ge adres­sier­te Fos­sil Free zumin­dest teil­erfolg­reich die Uni und den Land­schafts­ver­band West­fa­len-Lip­pe (LWL). Im Som­mer 2019 rief der Rat den Kli­ma­not­stand aus – nach­dem Fri­days for Future und ande­re Kli­ma­grup­pen die größ­ten Pro­tes­te seit meh­re­ren Jahr­zehn­ten in Müns­ter orga­ni­siert hat­ten. Ein Jahr spä­ter beschloss das­sel­be Gre­mi­um als Fol­ge auf den Kli­ma­ent­scheid vie­ler zivil­ge­sell­schaft­li­cher Grup­pen das Ziel Kli­ma­neu­tra­li­tät 2030. Drei Bei­spie­le, die zei­gen: Pro­test wirkt.

Begriff „Menscheitsaufgabe“ ist keine Übertreibung

Ohne die Demons­tra­tio­nen, Bür­ger­brie­fe, Peti­tio­nen, Blo­cka­den, Gesprä­che und die vie­len wei­te­ren Aktio­nen wür­de Müns­ter ver­mut­lich immer noch das Ziel Kli­ma­neu­tra­li­tät 2050 ver­fol­gen und damit das 1,5-Grad-Ziel des Pari­ser Kli­ma­ab­kom­mens kra­chend verfehlen.

Die Maß­nah­men zur Errei­chung des nun 20 Jah­re nach vor­ne gezo­ge­nen Kli­ma­ziels waren Bestand­teil der letz­ten Rats­de­bat­te. Nach mehr als einer Stun­de Rede­zeit mit Dut­zen­den Bei­trä­gen wur­de dort ein­mal mehr klar, dass der Begriff „Mensch­heits­auf­ga­be“ kei­ne Über­trei­bung dar­stellt. Wenn die­ser Begriff bei eini­gen Asso­zia­tio­nen mit Baum­häu­sern oder mit­tel­al­ter­li­chen Kriegs­zu­stän­den weckt, dann ist das von der Rea­li­tät und den in der „Kon­zept­stu­die Kli­ma­neu­tra­li­tät 2030“ ent­hal­te­nen Maß­nah­men sehr weit entfernt. 

Begriff­lich­kei­ten wie stra­te­gi­sche Wär­me­pla­nung, Effi­zi­enz-Stan­dard und Lade­infra­struk­tur fol­gen dicht auf dicht. In der Start-Up-Sze­ne wür­de man wohl von Buz­zwords spre­chen, obwohl zunächst wenig Buzz von ihnen aus­zu­ge­hen scheint.

Dabei sind es die­se Wor­te, die einen der ver­mut­lich größ­ten Umbrü­che unse­rer Gesell­schaft in den ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­ten mar­kie­ren. Die öko­lo­gi­sche Trans­for­ma­ti­on, die Dekar­bo­ni­sie­rung aller Lebens­be­rei­che soll – so wird zumin­dest poli­tisch der Ein­druck ver­mit­telt – ohne rele­van­te Ver­än­de­run­gen oder gar Ein­schnit­te für die Bürger:innen pas­sie­ren. Wenn doch, dann ist es pri­mär Auf­ga­be einer bes­se­ren Kom­mu­ni­ka­ti­on, für mehr Ver­ständ­nis und das Gefühl der Par­ti­zi­pa­ti­on bei den Betrof­fe­nen zu werben.

Die­se Vor­stel­lung ist aller­dings eine Illu­si­on. Die Trans­for­ma­ti­on wird zwangs­läu­fig Ver­än­de­run­gen mit sich brin­gen, sie wird in weni­ger als einem Jahr­zehnt die Abhän­gig­keit von dem buch­stäb­li­chen Treib­stoff unse­res gesell­schaft­li­chen Zusam­men­le­bens nicht nur ein­däm­men, son­dern kom­plett über­flüs­sig machen. Offen ist dabei, wie die­se Ver­än­de­run­gen aus­se­hen und wer sie beson­ders spü­ren wird.

Wäh­rend eini­ge Maß­nah­men wie der Aus­stieg aus der Ver­bren­nung von Koh­le und Gas zur Ener­gie­ge­win­nung unum­gäng­lich sind, blei­ben in ande­ren Berei­chen durch­aus poli­ti­sche Spiel­räu­me. In Müns­ter machen bei­spiels­wei­se die kon­kur­rie­ren­den For­de­run­gen zur auto­frei­en Innen­stadt und zum City-Maut-Sys­tem deut­lich, dass auch bei kla­ren Emis­si­ons­zie­len der Weg zur Dekar­bo­ni­sie­rung immer Ergeb­nis eines poli­ti­schen Aus­hand­lungs­pro­zes­ses ist.

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Die­se poli­ti­schen Spiel­räu­me gilt es so aus­zu­nut­zen, dass auf mehr Kli­ma­schutz nicht mehr sozia­le Unge­rech­tig­keit oder mehr per­sön­li­che Ver­zichts­kul­tur folgt. In Anbe­tracht der Kür­ze der ver­blei­ben­den Zeit muss die Dekar­bo­ni­sie­rung in allen Berei­chen umge­setzt werden.

Die vom Rat mit­samt der zuge­hö­ri­gen Maß­nah­men vor­ge­leg­te Kli­ma­schutz­stu­die woll­te die Berei­che Land­wirt­schaft und Flä­chen­nut­zung aus­spa­ren – doch so wird das nichts mit Kli­ma­neu­tra­li­tät. Im Rat der Stadt Müns­ter ver­hin­der­ten ange­nom­me­ne Anträ­ge aus der Frak­ti­on von ÖDP, Lin­ken und der Inter­na­tio­na­len Lis­te die­se Scheinlösung. 

Extrem günstige Ausgangsbedingungen

Der Blick auf die ver­gan­ge­nen Jah­re in der Kli­ma­po­li­tik Müns­ters machen deut­lich: Es kann sie geben, die gro­ßen Fort­schrit­te beim Kli­ma­schutz. Sie kom­men aller­dings nicht von allei­ne, der Pro­test und Druck aus der Zivil­ge­sell­schaft ist min­des­tens eben­so wich­tig wie die Aner­ken­nung von Kli­ma als Quer­schnitts­auf­ga­be über alle Dezer­na­te und Par­tei­en hinweg.

In Müns­ter kom­men zusätz­lich noch extrem güns­ti­ge Aus­gangs­be­din­gun­gen dazu: Eine star­ke öffent­li­che Hand, eine jun­ge, stu­den­ti­sche Bevöl­ke­rung, wenig emis­si­ons­in­ten­si­ve Indus­trie, eine auf das Fahr­rad aus­ge­rich­te­te Stadt. Die­se Fak­to­ren machen es ein­fa­cher, die Trans­for­ma­ti­on mit Ver­än­de­run­gen und auch weni­ger Wider­stän­den voranzutreiben.

Müns­ter müss­te dem­entspre­chend in Deutsch­land eine Rol­le ein­neh­men, wie Deutsch­land sie inter­na­tio­nal haben müss­te: Frü­her kli­ma­neu­tral wer­den, um ande­ren Zeit für Anpas­sungs­mög­lich­kei­ten zu ver­schaf­fen und ideel­le, tech­ni­sche und finan­zi­el­le Unter­stüt­zung zu bie­ten. Mit dem Ziel Kli­ma­neu­tra­li­tät 2030 geht es in Müns­ter einen Schritt in die rich­ti­ge Richtung. 

Jetzt müs­sen die Maß­nah­men umge­setzt und Model­le gefun­den wer­den, wie die Trans­for­ma­ti­on bei­spiels­wei­se für Kon­zer­ne aus­se­hen wird, deren Geschäfts­mo­dell in einer kli­ma­ge­rech­ten Gesell­schaft nicht in der bis­he­ri­gen Form wei­ter exis­tie­ren kann. Wie weit wir davon ent­fernt sind, zei­gen die aktu­el­len Ent­wick­lun­gen im Rhein­land, wo der Ener­gie­kon­zern RWE ein wei­te­res Dorf für die Koh­le abbag­gern will. Kurz vor der Welt­kli­ma­kon­fe­renz setzt die rei­che Indus­trie­na­ti­on Deutsch­land damit ein ver­hee­ren­des Zei­chen sowohl in Rich­tung inter­na­tio­na­ler Staa­ten­ge­mein­schaft als auch der am stärks­ten von der Kli­ma­kri­se betrof­fe­nen Regio­nen und Men­schen im Glo­ba­len Süden. Dane­ben wirkt Müns­ter wie ein klei­nes gal­li­sches Dorf, das eif­rig Wider­stand leistet.

Ob dies aller­dings nur so wirkt oder ob auf die Wor­te auch Taten fol­gen, wird sich noch zei­gen. Bis dahin gilt es, als Zivil­ge­sell­schaft wei­ter aktiv zu blei­ben – und ein Auge auf die kom­men­den Rats­sit­zun­gen zu hal­ten, jetzt auch vom hei­mi­schen Schreib­tisch aus.

Ich wün­sche Ihnen einen schö­nen Sonntag.

Ihre Car­la Reemtsma


Über die Autorin

Im Janu­ar 2019 hat Car­la Reemts­ma den ers­ten Kli­ma­streik in Müns­ter orga­ni­siert. Es war eine klei­ne Kund­ge­bung im Nie­sel­re­geln vor dem his­to­ri­schen Rat­haus am Prin­zi­pal­markt. Weni­ge Wochen spä­ter sprach das gan­ze Land über die Kli­ma-Pro­tes­te der „Fri­days For Future“-Bewegung. Der Rat der Stadt Müns­ter beschloss das Ziel Kli­ma­neu­tra­li­tät 2030. Inzwi­schen ist Car­la Reemts­ma eine der bekann­tes­ten deut­schen Kli­ma­ak­ti­vis­tin­nen. Gebo­ren wur­de sie in Berlin.

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