Klaus Brinkbäumers Brief aus New York | Münster ist hoffentlich klüger

Porträt von Klaus Brinkbäumer
Mit Klaus Brinkbäumer

Liebe Leserin, lieber Leser,

die Stadt, in die ich diesen Brief schreibe, wirkt aus der Ferne robust. Wenn ich mit meinen Freunden und meinen Eltern in Münster spreche und wenn ich die Texte Katrin Jägers und Ralf Heimanns lese, dann stelle ich mir ein solidarisch diszipliniertes oder diszipliniert solidarisches Münster vor, das die Corona-Krise verstanden hat, ernst nimmt und deshalb vergleichsweise milde davon getroffen ist.

Ist mein Bild idealisiert? Ist die Wirklichkeit brüchiger?

Die Stadt, aus der ich Ihnen diesen Brief in die Heimat eigentlich schreiben wollte, existiert nicht mehr.

Die Stadt, aus der ich Ihnen nämlich heute schreibe, ist nicht mehr New York City, mein Sehnsuchtsort, ist oder wird nun etwas anderes, noch nicht exakt Definiertes, jedenfalls aber eine Trauerstadt.

New York erinnert mich in diesen Wochen tatsächlich an Bagdad, 2003, natürlich ohne die Bombenlöcher, ohne der zerschossenen Fassaden. Aber es gibt die Massengräber, draußen auf Hart Island im Osten der Bronx: Leiche neben Leiche in weißen Säcken, namenlose Opfer von Covid-19, Obdachlose, Menschen, die niemand identifizieren konnte oder für deren Beerdigung niemand zahlen wollte.

Es gibt diese Familien in der Bronx: der Vater weg, die Mutter schwer erkrankt, sechs Kinder allein daheim.

New York 2020 ist still, verzagt und ängstlich. Die Stunde Null, dieser berühmte Moment eines Aufbruchs, in dem alles möglich ist und noch niemand weiß, was da gerade entsteht, wird vielleicht irgendwann kommen, aber noch sind wir mittendrin in der Krise.

Und die USA versagen.

Sie schaffen das nicht.

Sie sind ein überfordertes Land, das sich selbst in die politische Handlungsunfähigkeit manövriert hat und nun ehrlich darüber staunt, aber nicht herausfindet. Mit ihren Ablenkungsmanövern und glatten Lügen, mit all den Verschwörungstheorien und Verharmlosungen hat die Regierung in Washington, D.C., flankiert von der republikanischen Mehrheit im Senat, flankiert von Medien wie FOX News und Breitbart, die ersten acht Wochen der Corona-Krise schlicht verplempert und verplappert, und dieser Rückstand ist nicht aufzuholen.

Die unentdeckte Tote

Am späten Donnerstag waren es in den USA 1,07 Millionen bestätigte Covid-19-Infektionen und 72.000 Todesfälle; und im Bundesstaat New York 300.000 Infektionen und 18.000 Todesfälle. Und alle Menschen hier wussten, dass sie noch immer nichts wussten, denn zwei Nachrichten erschütterten uns alle, die wir uns mit dem Thema befassen:

Eine Studie in New York legt nahe, dass 21 Prozent der Bevölkerung Antikörper gegen SARS-CoV-2 gebildet hatten, also mutmaßlich infiziert gewesen waren, das wären dann rund 2,4 Millionen Menschen. Kann das stimmen? Und falls es stimmt, was bedeutet es? Die USA haben noch immer keine Daten, noch immer keine belastbaren Erkenntnisse über das, was auf ihrem Territorium geschieht. Es ist nun der vierte Monat der Pandemie, die USA testen noch immer nur 150.000 Menschen pro Tag (bei 328 Millionen Einwohnern), es müsste mindestens die dreifache Menge sein.

Die zweite Nachricht war die, dass die 57-jährige Wirtschaftsprüferin Patricia Dowd, die am 6. Februar in Santa Clara in Kalifornien an „grippeähnlichen Symptomen“ gestorben war,in Wahrheit an Covid-19 erkrankt war; sie war also das mutmaßlich erste Todesopfer in den USA, das haben Untersuchungen jetzt, im April, ergeben.

Das bedeutet, dass das Virus wochenlang, vielleicht monatelang unentdeckt durch die USA wandern konnte, denn obwohl die chinesische Regierung den Rest der Welt am 31. Dezember informiert hatte, wurde erst am 29. Februar der erste Corona-Todesfall in den USA gemeldet; und erst danach kamen Reiseeinschränkungen, erst danach begannen die hektisch wirren Abwehrkämpfe im Weißen Haus, und selbst zu jenem Zeitpunkt noch sagte Donald Trump, alles sei „total unter Kontrolle“, und bald „wird es vorbei sein“.

Der Kollege George Packer beginnt einen schauderhaft meisterlichen, weil so durchdachten wie wahrhaftigen Essay im „Atlantic“ so: „Als das Virus hierher kam, fand es ein Land mit ernsthaften Vorerkrankungen vor, und diese nutzte es gnadenlos aus. Chronische Krankheiten – eine korrupte politische Klasse, eine erstarrte Bürokratie, eine herzlose Wirtschaft, eine gespaltene und abgelenkte Öffentlichkeit – waren jahrelang unbehandelt geblieben.“

Ich muss nun selber lachen, beim Schreiben, wenn ich die Heimat Münster nicht bloß, wie oben, mit New York, sondern auch noch mit den gesamten Vereinigten Staaten vergleiche … aber? Ja, aber: Ich erlebe hier eine Weltmacht, die jene notwendige Disziplin und jene Solidarität eben nicht aufbringt, die nötig wären, um eine komplexe Krise wie diese zu bewältigen.

Ein zerstrittenes Land. Ein gelähmtes. Eines, das den eigenen Experten nicht vertraut, den eigenen Politikern und den eigenen Gesetzen nicht, das den eigenen Medien nicht mehr glaubt und stattdessen unentwegt Lärm macht.

Dieses Land bekämpft Symptome, nie die Ursachen, darum sucht es eilig Schuldige, die in Wahrheit natürlich nichts als Sündenböcke sein können. Wie kann irgendein Staatschef ausgerechnet mitten in einer Pandemie ausgerechnet der Weltgesundheitsorganisation die Finanzierung entziehen? Donald Trump konnte, weil es für einen Moment von ihm ablenkte.

Dieses Land wechselt alle 24 Stunden die Richtung, das geschieht in den Pressekonferenzen seines Präsidenten, die eine Fernsehserie geworden sind – und jede Folge braucht nun einmal ihren Höhepunkt, so sind die Gesetze des Showgeschäfts.

13.3.: Trump übernimmt „keinerlei Verantwortung“. 10.4.: Trump sagt, er müsse „die schwierigste Entscheidung meines Lebens“ treffen“, jene nämlich, wann er das Land wieder öffne. 13.4.: Trump sagt, „der Präsident der USA“ habe „die totale Autorität“. 15.4.: Trump sagt, die Gouverneure sollten entscheiden, wann die Bundesstaaten Geschäfte und Schulen, Strände und Fitnessclubs wieder öffnen.Also schließen die Gouverneure sich zusammen, sechs Staaten an der Ostküste und drei an der Westküste koordinieren ihre Strategie, aber das ist dem Präsidenten auch nicht recht, weil es wie jene Machtlosigkeit aussieht,die er sich gerade selbst gewünscht hat. 17.4.: Trump twittert: „Befreit Minnesota.“ „Befreit Michigan!“ „Befreit Virginia!“

Und damit hetzt er hetzt er Demonstranten auf, die sich in diesen drei Staaten gegen die eigenen Gouverneure stellen; Demonstranten, die „Lieber tot als unfrei“ grölen, sich unterhaken, sich und andere gefährden, aber das kümmert sie nicht. Viele Zehntausend Menschen denken danach, laut Umfragen, dass die ganzen strikten Regelungen zu strikt seien; dass Amerika „back to business“ marschieren müsse, heute, sofort. Und die Demonstrationen in anderen Bundesstaaten beginnen.

So ist dieses Land.

So ahnungslos.

Oder eher: so durchtrieben.

Die organisierte Destruktion

Denn der Widerstand gegen die Schutzmaßnahmen ist nicht einfach nur emotional, ist nicht bloße Angst vor Armut, Arbeitslosigkeit, Verlusten. Es ist auch nicht einfach Wut. Dahinter steht ein Netzwerk, das alles ist choreographiert.

Im Hintergrund agieren eine Organisation namens „Citizens for Self-Governance“ und deren Tochterfirma „Convention of States“, die mit vielen Millionen Dollar des Hedgefonds-Managers Robert Mercer ins Leben gerufen wurde. Mercer ist Unterstützer Trumps, war Unterstützer von Trumps Berater Stephen Bannon, und sein wesentliches Ziel sind immer weitere Steuererleichterungen und eine immer schwächere Regierung in Washington, also möglichst wenig Staat. Mercer nennt das nicht Verfall, er nennt es Freiheit.

„Convention of States“ organisiert Kampagnen über die sogenannten sozialen Medien, auch via Twitter, vor allem via Facebook: „Das Volk erhebt sich gegen den kranken Shutdown!“ „Convention of States“ sorgt dafür, dass diese Posts millionenfach geteilt werden. Laut Umfragen ist die Unterstützung für die Bewegung noch nicht besonders groß, eigentlich, denn die meisten Amerikaner sorgen sich um ihre Gesundheit, fürchten Corona, fürchten die zweite und dritte Welle und fürchten vor allem, dass die erste Covid-19-Welle noch gar nicht von den Küsten durchs Land gerollt ist.

Aber „Convention of States“ lässt den Widerstand gewaltig wirken. „Übergriffige Regierungsregelungen, die unsere wesentlichen Freiheiten einschränken, werden mehr Schaden anrichten als Gutes tun“, steht in einem massenhaft geteilten Facebook-Post; „Öffnet die Bundesstaaten!“ so nennen die Organisatoren die eigene Online-Kampagne.

Und viele, viele Medien fallen darauf herein: Die Fernsehbilder aus diversen Bundesstaaten, wieder und wieder ausgestrahlt, machen aus 50, 60 Wütenden Volksstürme, Massenbewegungen, so funktioniert die Wucht der Bilder.

All diese Männer mit all den Maschinengewehren! Und da steht wirklich „Gebt mir Freiheit oder gebt mir Covid-19“ auf den Transparenten.

Ben Carson, der in der Trump-Regierung Minister für Stadtentwicklung ist, unterstützt „Convention of States“; das Gleiche gilt für den Gouverneur Floridas Ron DeSantis, einen engen Trump-Freund. „Wir stellen nur eine digitale Plattform für die Koordination zur Verfügung“, sagte Eric O’Keefe der „Washington Post“; dieser O’Keefe spricht für „Citizens for Self-Governance“, also die Mutterorganisation von „Convention of States“. Und bei diesen „Citizens“ ist nun auch Mark Meckler wieder dabei, der schon 2009 die rechte bis rechtsextreme „Tea Party“-Bewegung gegen Barack Obama in Bewegung brachte.

Es ist ein Netzwerk im amerikanischen Untergrund – gegen Politik an und für sich, gegen Gesetzgebung aller Art. Mehrere Medien haben in dieser Sache berichtet; „dies sind rechtsextreme Bestrebungen, die Regierung zu delegitimieren, ein Anti-Regierungs-Kreuzzug“, das sagte Robert J. Brulle, Soziologe der Drexel University, der „Washington Post“. Dass Donald Trump sie unterstützt, ist aus seiner Sicht nicht absurd; nur mit der Unterstützung dieser Leute kann er am 3. November wiedergewählt werden.

Es ist zynisch, denn so wirkt kollektives Handeln sabotiert.

Es wird Menschenleben kosten, weil zu diesen Demonstrationen ganz wesentlich die ständig gestreuten Zweifel am Sinn „sozialer Distanz“ zählen; und dann reisen die Demonstranten von Staat zu Staat.

Münster ist klüger, nicht wahr?

Vielleicht sogar ganz Deutschland?

Oder machen beide Staaten, erschöpft und ungeduldig, in diesen Tagen ähnliche Fehler: Provozieren sie nun die zweite Corona-Welle? In Deutschland, wochenlang ein Vorbild für den Rest der Welt, wäre dies so traurig wie überraschend. In den USA würde es die Geschichte des Scheiterns fortschreiben.

Und was wird nun aus New York?

Der Kollege Roger Cohen schrieb es so zart und weise, wie das nur geht: „Komm zurück, New York, alles ist verziehen.“ Die miesen Flughäfen. Die Aggressivität. Die Züge, die nie kommen. Die Hitze im August. Die zugestellten Radwege. Die Preise. Die Enge. Der Lärm der Millionen Klimaanlagen. Der Lärm all der Hupen. Der Baulärm. Die dauerverlierenden Knicks. Die grotesk-brutalen Klassenunterschiede. Der Uringeruch am Samstagmorgen. Alles verziehen, schreibt Cohen, wenn du, liebes New York, nur, bitte, wieder zurückkommst. Ich würde jetzt liebend gern optimistisch aufhören, aber ich glaube leider nicht daran.

Natürlich wird New York City nicht verschwinden, aber ich glaube, die meisten der letzten individuellen Bars, Cafés, Buchläden werden weg sein, wenn diese Krise vorbei ist. All jene, die sich bislang gerade noch durchschlagen konnten, trotz der 40.000 Dollar Ladenmiete im Monat, werden verschwunden sein.

An jedem Abend um 19 Uhr, wenn die Menschen in allen fünf New Yorker Stadtteilen an ihren Fenstern stehen und Ärzten und Pflegekräften danken, denke ich kurz: That’s the NYC spirit. Na, vielleicht schafft unsere Stadt es ja doch.

Doch nein, zweierlei wird New York nicht vergessen: Das nächste Virus wird kommen. Und diese Stadt ist wie erfunden, wie erschaffen worden für Viren. Ihre Enge, ihr Dreck, diese ständige Bewegung von 8,6 Millionen Menschen machen New York zum perfekten Opfer. Das war uns vor Covid-19 nicht klar, und jetzt wissen wir es.

Viele herzliche Grüße nach Münster. Bleiben Sie gesund

Ihr Klaus Brinkbäumer

Sie erreichen mich via Twitter: @Brinkbaeumer; oder unter klaus.brinkbaeumer@rums.ms

Haben auch Sie Sehnsucht nach New York? Die „New York Times“ hat eine schöne Reihe virtueller Touren online gestellt, hier die jüngste Folge.

Porträt von Klaus Brinkbäumer

Klaus Brinkbäumer

Klaus Brinkbäumer ist in Hiltrup aufgewachsen. Er ist Journalist, Autor, Filmemacher und seit Januar Programmdirektor des Mitteldeutschen Rundfunks in Leipzig. Von 2015 bis 2018 war er Chefredakteur des Nachrichtenmagazins Der Spiegel. Brinkbäumer gewann unter anderem den Egon-Erwin-Kisch- und den Henri-Nannen-Preis, im Jahr 2016 wurde er zum Chefredakteur des Jahres gewählt. Im Podcast „Okay, America?“ spricht er einmal wöchentlich mit der Zeit-US-Korrespondentin Rieke Havertz über die politische Lage in den USA. Klaus Brinkbäumer lebt in Leipzig.

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