Die Kolumne von Marion Lohoff-Börger | Kulturelle Aneignung? 

Porträt von Marion Lohoff-Börger
Mit Marion Lohoff-Börger

Guten Tag,

heute möchte ich die Frage stellen, ob es sich bei den aktuellen Erscheinungsformen der Masematte im Allgemeinen oder im Speziellen um kulturelle Aneignung handeln könnte. Was war das noch mal?

Wenn eine Person aus einer dominanten weißen Mehrheit von einer Minderheit kulturelles Eigentum ohne deren ausdrückliches Einverständnis übernimmt und in einen anderen Kontext stellt, um damit einen Benefit, also Geld, Bekanntheit und Ruhm zu erlangen, handelt es sich um „cultural appropriation“, kulturelle Aneignung einer Dominanzkultur.

Wenn hinzukommt, dass man sich obendrein lustig macht, Traditionen verspottet oder sogar rassistische Klischees reproduziert werden, dann kommt das Vergehen verletzender Respektlosigkeit und Entwürdigung hinzu. Zwischen der Mehrheit und der Minderheit findet kein Austausch über das kulturelle Erbe auf Augenhöhe statt. Man fragt nicht, man nimmt nach altbekannter und -bewährter Gutsherrenart, was man braucht.

Die Belastungen der Minderheit, wie Ausgrenzung und Diskriminierung, wurden seit jeher von den Nutznießern der Mehrheitsgesellschaft nie mitgetragen oder geteilt. Schon ihre Vorfahren waren diejenigen gewesen, die aktiv ausgegrenzt hatten und die Spaltung der Gesellschaft vorangetrieben hatten.

Die entstandenen Subkulturen, die auf Widerstand gegen genau diese Diskriminierung und der Suche nach einer eigenen Identität beruhten und dabei ihren Ausdruck in Sprache, Liedern, Tänzen etc. fanden, geben heute der besitzergreifenden und profitorientierten Mehrheit on top den Hauch von anrüchigem Revoluzzertum.

Das Wissen um zwei Umstände

Die Frage, was das mit den Menschen der Minderheit machen könnte, wird gar nicht erst gestellt, geschweige denn, dass sie an Ruhm und finanziellen Erfolgen beteiligt werden. Wie auch, bitte schön? Gibt es da eine Kontonummer?

Dann wollen wir im zweiten Schritt diese Einsichten auf den Umgang und den Gebrauch der Masematte in Münster als Kulturform übertragen. Die kundige Leserschaft, die meine Masematte-Kolumne verfolgt, ahnt vermutlich schon was.

Voraussetzung für die Übertragung der Theorie auf die gängige Praxis ist das Wissen um zwei Umstände. Erstens, dass die Masematte aktuell zwei eklatant andersgeartete Erscheinungsformen besitzt und zweitens, dass Münsters Stadtgesellschaft die ursprüngliche Form der Sondersprache durch die Vertreibung und Ermordung ihrer Sprecher:innen während des Holocaust verloren hat.

Betrachten wir die aktuellen Erscheinungsformen der Masematte, die im Stadtgeschehen wahrnehmbar sind.

Der erste Typus ist die bis heute mündlich und eher im Verborgenen gesprochene Masematte, für den die unterschiedlichen Altersgruppen je ihren eigenen Anlass und ihre eigene Funktion für den Gebrauch haben. Das ist die lebendige Masematte im Allgemeinen, die eine rein mündliche Weitergabe in Familie und sozialer Gruppe als Kennzeichen hat.

Es geht um den persönlichen Ausdruck einer Zugehörigkeit, also um Identität. Diese Art und Weise der Weitergabe der Subkultur Masematte kann man direkt vom Vorwurf der kulturellen Aneignung freisprechen.

Alle Kriterien sprechen dafür

Beim zweiten Typus tritt der Wortschatz der Masematte als geschriebenes Wort in unterhaltsamen Büchern, gedruckten Texten, aber auch Karnevalsreden oder Glossen in entsprechenden Publikationen zutage.

Hinzu kommen Konsumartikel vom Brot über Hoodies, von Gesellschaftsspielen bis Schnapsflaschen, für die Teile der Masematte als Markenzeichen (original aus Münster) fungieren und den Verkauf steigern. Das ist die Masematte im Speziellen, von der ich anfangs schrieb. Hier ist die Sache heikler, denn alle Kriterien sprechen für eine kulturelle Aneignung.

Die ursprünglichen Masemattesprecher:innen waren Menschen, die aufgrund einer preußischen Gesetzgebung in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts sesshaft werden mussten, weil sie vorher aufgrund ihrer mobilen Lebensweise nicht gut kontrollierbar gewesen waren.

Das waren Sinti und Roma oder Menschen jüdischen Glaubens, die oft im Viehhandel tätig waren, weil ihnen nichts anderes zum Erwerb übrig blieb. Das waren mobile Händler, die ihre Waren direkt zur Haustür brachten (wie heute der Online-Handel!) und das waren mobile Handwerker, die ihre Produkte wie Körbe oder Holzschuhe verkauften oder kleine bis größere Handwerksarbeiten an Haus und Hof erledigten.

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Die Rotwelschsprecher:innen, die unter Generalverdacht standen, Diebe und Gauner zu sein, mischten sich munter unter diese bunte Gruppe von Menschen, deren Dienste zwar alle gerne in Anspruch nahmen, die aber gesellschaftlich und sozial an unterster Stelle standen.

Wie in anderen Städten wie Minden oder Gießen ließen sich die Menschen in Münster nieder und lebten ghettoartig in kleinen Vierteln. Nun ist es ein weltweites Phänomen, das auch bereits wissenschaftlich erforscht wurde, dass Menschen, die wenig willkommen sind (häufig Migrant:innen) in ihrer engen Umgebung eine eigene Sprache aus ihren Herkunftssprachen entwickeln, um ihre Identität zu wahren. Genau das ist der Ursprung der Masematte, die ein Mischmasch aus Jiddisch, Romanes, Rotwelsch und Niederdeutsch ist.

Weiße Westen und Karnevalskappen

Damit wird das erste Kriterium, das für kulturelle Aneignung spricht, sichtbar: Eine Minderheit entwickelt eine Kulturform, hier eine Sprache, um ihren Stolz und ihre Würde zu schützen. Das war und ist ihr kulturelles Eigentum, das der inneren Emanzipation in einer Diskriminierungssituation diente. Dass die meisten Masemattesprecher:innen später dem Holocaust zum Opfer fielen, macht noch eine weitere Dimension auf.

Und was macht die bürgerliche, akademisch gebildete Mehrheitsgesellschaft mit den weißen Westen oder wahlweise prächtigen Karnevalskappen in Münster mit der Masematte? Es ist für sie ein Leichtes zu publizieren, denn durch Bildung, Status und Berufswahl haben sie Möglichkeiten, öffentlich wirksam zu sein. Es werden Produkte und Locations aus dem Boden gestampft, die mit Masematte-Worten geadelt werden und dadurch noch mehr abwerfen. Und? Ein Haufen Kohle wird verdient. „Hamel Reibach“ würde man sagen.

Je mehr sie das Klischee der kleinkriminellen Szene in den dunklen Vierteln der Stadt Münster betonen und dabei auch nicht vor blankem Antisemitismus zurückschrecken (Geheimsprache von Gaunern und jüdischen Viehhändlern), desto verruchter wird der Anstrich, den sich die Sprachschmarotzer geben und desto lauter und schneller piepsen ihre Scannerkassen.

Masematte wird benutzt, um sich zu amüsieren, um zu lachen und sich auf die Schenkel zu klopfen. Die Worte sind ja so witzig, ja drollig und klingen so spaßig in jedermanns und jederfraus Ohr. Vor allem der bewusst falsche Gebrauch der Masemattewörter, bei dem man auch nicht vor Übersetzungsfallen wie bei Redensarten zurückschreckt, setzt dann noch einen oben drauf.

Beispiel „mit etwas pattisch böschen“ für „mit etwas schwanger gehen“ zeigt deutlich, wie peinlich das sein kann. Vorzutäuschen, als gehöre man zu der Gruppe der Menschen, die diskriminiert wurden, ungebildet waren und oft in prekären Verhältnissen lebten, kommt mir vor wie eine lächerliche Verkleidung zu Karneval, wo das münstersche Spießertum aus seiner Rolle schlüpfen will, sich aber dabei lustig über eine ganze Gruppe von Menschen macht, die es über Jahrzehnte unglaublich schwer hatte, bis sie durch den Holocaust ausgelöscht wurde.

Wie löst man den Konflikt?

Und das waren nicht nur Menschen jüdischen Glaubens, sondern auch viele Sinti und Roma oder die sogenannten Asozialen, die in den Vierteln Pluggendorf, Sonnenstraße, Klein-Muffi oder dem Kuhviertel lebten oder unfreiwillig leben mussten. Das ernsthafte Gedenken an ihre Geschichte und ihr Schicksal wird durch die Nutzung der Masematte als Mittel zu Amüsement und Unterhaltung verwässert bis pervertiert oder teils sogar ausgelöscht.

Alles in allem ist dies die spezielle und problematische Gebrauchsform der Masematte und meiner Meinung nach kulturelle Aneignung in ihrer klarsten und reinsten Form.

Die UNESCO hat Anfang der siebziger Jahre eine Resolution herausgegeben, die besagt, dass Kulturgut von Bevölkerungsgruppen, auch aufgrund des jahrhundertealten kolonialen Raubs, geschützt werden muss. Unter diesem Schutz sollte nach meiner Einschätzung auch die Masematte stehen.

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Wichtig ist zu bedenken: Wie kann man diesen Konflikt lösen? Konkret gedacht: Wer sollte in Münster wen fragen, ob er oder sie das ein oder andere Wort benutzen darf? Steht man direkt unter Generalverdacht, wenn man etwas „Kulturelles“ auf Masematte veröffentlicht? Darf man nicht lachen, wenn ein Satz doch zu witzig in den Ohren klingt, oder wenn der jiddische Mutterwitz zum Tragen kommt?

Oder richtig zynisch: Wie soll man die Masematte-Sprecher:innen fragen, wenn sie gar nicht mehr leben? Wo findet man sie aktuell und wie tritt man in Kontakt? Fühlen sie sich verletzt, wenn sie eine Karnevalsrede oder ein unterhaltsames Buch rezipieren? Oder ist ihnen das gar nicht bewusst, dass da geklaut wurde und Profit rausgeschlagen wird?

Denken die authentischen Sprecher:innen vielleicht sogar, dass das viel eher die „wahre Masematte“ ist, als die eigenen Wörter aus der Kindheit, für die man sich immer noch schämt? Und können die Originalsprecher:innen mir heute die Absolution erteilen, meinem neuen hippen Laden im Hansaviertel einen Masemattenamen zu geben, damit ich kein schlechtes Gewissen haben muss?

Wichtig ist: sensibel sein

Und dann muss auch ich mir selbst als Autorin verschiedener Bücher auf und über Masematte den Vorwurf der kulturellen Aneignung machen lassen. Doch ich kann mich rechtfertigen, denn bei all meinem Engagement für die Masematte und ihre Sprecher:innen (denn darum geht es hauptsächlich, um die Menschen), geht es mir darum aufzuklären, dass wir ein kulturelles Erbe in Münster haben, bei dessen Gebrauch man immer den Holocaust mitdenken muss und bei dem es sich um ein lebendiges Sprachdenkmal handelt. Bei diesem Vorgehen habe ich mir nicht selten den Ruf einer missgünstigen Spielverderberin eingehandelt.

Kurzum: Wir sind aufgefordert, sensibel mit Sprache – jeglicher Art, nicht nur der Masematte – umzugehen und darüber nachzudenken, welchen Ursprung die Dinge haben, die wir uns aneignen und mit denen wir nach außen eine bestimmte Wirkung erzielen wollen.

Publikationen auf Masematte sollten immer auch zum Ziel haben, über das Schicksal der ursprünglichen Sprecher:innen aufzuklären, die Subkultur als solche lebendig zu erhalten und weiterzugeben, aber nicht den eigenen Erfolg und Reichtum zu vermehren auf Kosten einer Minderheit, die nicht auf Münsters Sonnenseite lebte und lebt.

Herzliche Grüße

Ihre Marion Lohoff-Börger

Porträt von Marion Lohoff-Börger

Marion Lohoff-Börger

… ist die Frau mit der Masematte und den alten Schreibmaschinen. Auf letzteren schreibt sie Gedichte und verkauft diese in ihrem Atelier an der Wolbecker Straße 105 als Postkarten. Die Masematte möchte die freie Autorin in Münster zu einem lebendigen Sprachdenkmal machen und versucht, dieses mit Kursen, Vorträgen, Lesungen, Büchern und Artikeln für Zeitungen und Onlinemagazine umzusetzen. 2021 stellte sie beim Land Nordrhein-Westfalen den Antrag „Masematte als Immaterielles Kulturerbe“, der abgelehnt wurde mit dem Hinweis, die Stadtgesellschaft Münster müsse sich noch mehr für dieses Kulturgut engagieren.

Die Kolumne

Immer sonntags schicken wir Ihnen eine Kolumne. Das sind Texte, in denen unsere acht Kolumnistinnen und Kolumnisten Themen analysieren, bewerten und kommentieren. Die Texte geben ihre eigene Meinung wieder, nicht die der Redaktion. Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Organisationen machen wir transparent. Wenn Sie zu den Themen der Kolumnen andere Meinungen haben, schreiben Sie uns gern. Wenn Sie möchten, veröffentlichen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir ebenfalls im RUMS-Brief.

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